Georg Lukacs zum 130. Geburtstag.

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Jürgen Meier
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Georg Lukacs zum 130. Geburtstag.
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Georg Lukács zum 130. Geburtstag

“Die Abkehr von der Manipulation ist ein Gerichtetsein auf die Wirklichkeit” (-Lukács)

Georg Lukács  (* 13. April 1885 in Budapest; † 4. Juni 1971 ebenda) kämpfte Zeit seines Lebens gegen alles was der Mensch an Unmenschlichkeiten sich selbst zufügt, ob im Kapitalismus, Faschismus oder auch Sozialismus. Er nannte alle menschlichen Entfremdungen klar und deutlich beim Namen, was vielen, die ihn Revisionisten schimpften nicht gefiel, nur weil er mit Marx sagte, dass “proletarische Revolutionen...grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche” kritisieren müssen.

Sein Buch "Geschichte und Klassenbewußtsein", das bereits 1923 erschien, beeinflußte später maßgeblich die ›68er Bewegung‹ in Westeuropa. Über 40 Jahre nach seinem Erscheinen ergriff dieses Buch mit seiner These, dass das über ein entsprechendes Bewußtsein verfügende Proletariat in dem Augenblick die Macht erringe, da es erkenne, dass es zur Erlösung der Welt berufen ist, die westeuropäische Studentenbewegung. Dieses “messianische Sektierertum”, so Lukács kurz vor seinem Tod, sei für den Erfolg von Geschichte und Klassenbewußtsein in Westeuropa verantwortlich gewesen (vgl. Lukács, Gelebtes Denken, Frankfurt 1981: 126).

Lukács hatte sich zu dieser Zeit längst von seinem Frühwerk distanziert und beobachtete den Einfluß seines Buches mit großer Skepsis. In diesem Buch, so Lukács, fehle die Universalität des Marxismus, die aus der anorganischen Natur die organische ableite und aus der organischen Natur, vermittelt durch den Prozeß der Arbeit, die Gesellschaft.

Auf die bürgerlichen Intellektuellen hätten gerade diese Mängel des Buches – das Fehlen des ontologischen Marxismus – überzeugend gewirkt. In einem Brief an Lukács bestätigt Frank Benseler diese Einschätzung. “Im Grunde ist das die Situation der gesamten fortschrittlichen bürgerlichen Intelligenz. Sie alle wünschen Gerechtigkeit; glauben dies aber denkend erreichen zu können durch geistige Formen usw.; sie scheuen vor den Konsequenzen des wahren Engagements zurück« (Benseler an Lukács am 6. Dezember 1961, aus: Objektive Möglichkeiten, Opladen 1995).


Entideologisierte Intelligenz

In seinem Essay Grand Hotel »Abgrund« (1933) schreibt er, die Intellektuellen seien “gebannt im Zauberkreis der Ideologie” und reagieren auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen “mit einem falschen Bewußtsein”, das nicht einfach vom Himmel falle oder auf einen bösartigen Charakter zurück zu führen sei.

“Die gesellschaftliche Arbeitsteilung bringt es notwendig mit sich, dass die Ideologen stets an die unmittelbar vorangegangenen und zeitgenössischen Ideologen anknüpfen, dass sie ihre Kritik der Gegenwart stets in der Form einer Kritik der gegenwärtigen und vergangenen Ideologien vollziehen.” Sie bezögen sich nicht auf die Wirklichkeit, sondern auf Theorien über diese Wirklichkeit, zitierten Nietzsche, Heidegger oder Sartre. Für Lukács ist die Ideologie aber nicht mit der Wirklichkeit identisch, sondern ihre Aufgabe sah er darin, “die von der Ökonomie im gesellschaftlichen Leben ausgelösten Konflikte bewußt zu machen und auszufechten« (Lukács, Ontologie, Bd. I: 201). Da die Intelligenz aber die Ideologie selbst schon als Wirklichkeit einstufe, und sich als geistige Elite für völlig unideologisch ansehe, könne sie nicht den “Kernpunkt des Klassenkampfes, die Scheidung der Klassen, von Revolutionen und Konterrevolutionen: die Frage der Ausbeutung klar” erblicken.

Dreißig Jahre später (1963) bezeichnet Lukács diese Eigenschaft der Intelligenz als fehlendes “ontologisches Bewußtsein”, womit er ein anderes meinte als das Klassenbewußtsein, das er 1923 in "Geschichte und Klassenbewußtsein" beschrieben hatte. [⇒ siehe komplettes Buch als PdF unten angehängt] Die bürgerliche Intelligenz beziehe sich – bedingt durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung, in der sie Produktion und Propaganda der Ideologie als Lebensbeschäftigung, als geistige und materielle Basis der eigenen Existenz betreibe – auf die eigenen Ideen und glaube so tatsächlich an die eigene gesellschaftliche Führerrolle, deren Bewußtsein das gesellschaftliche Sein präge.

“Der faschistische Mythos als Gedankenform einer Ideologie wird verächtlich abgelehnt” (Lukács, Ontologie, Bd. II: 696). Daraus würde die Negation jeglicher Ideologie abgeleitet und der “Entideologisierung” das Wort gepredigt, die den Einzelmenschen auffordere, rein rational zu handeln. Um echten Konflikten den Nährboden zu entziehen, komme es nur darauf an, sich rein »sachlich« durch rationelle Vereinbarungen und Kompromisse zu einigen.

In sogenannten Weiterbildungsseminaren wird diese Form der “Entideologisierung” in allen modernen Betrieben und Institutionen heute trainiert. Die Entideologisierung bedeute “die unbeschränkte Manipulierbarkeit und Manipulation des gesamten Menschenlebens« (Lukács, Ontologie, Bd. II: 696). Diese “entideologisierte” Einstellung zur Wirklichkeit, so Lukács, nehme nur den einzelnen Menschen zur Kenntnis, nicht aber das gesellschaftliche Sein, das unabhängig vom Einzelmenschen existiere, das dieser bei Geburt vorfindet und in das er sich so oder so fügen muß.
 

Die Selbsterkenntnis des Menschen

Schon Goethe stand dem «Erkenne dich selbst» der Selbsterkenntnis durch Selbstanalyse sehr skeptisch gegenüber. Für ihn war aber die Tat als Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen noch etwas Selbstverständliches. Er besaß ein freilich nicht formuliertes, aber dennoch jederzeit feststehendes System von Idealen. Indem er diesen Idealen nachstrebte, entstanden notwendig Taten, die wegen ihrer innigen Beziehung zu den Idealen bedeutsam werden. Die Selbsterkenntnis wird so ein Nebenprodukt der Taten. Indem der Mensch konkret gesellschaftlich handelt, erkennt er sich selbst.

Quelle: Georg Lukács: Russische Revolution - Russische Literatur

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1969 / 1973, S. 139, ISBN: B0000BSFSH

 

Der Fetisch der Freiheit, der auf dieser Basis der »Entideologisierung« gedeihe und den Lukács in den USA als vorherrschend kritisierte, sei ein “höchst ideologischer” Begriff, der die Menschen mit falschem Bewußtsein fülle, indem er sie von ihrer Gattungsmäßigkeit isoliere. Die Fetischisierung der Freiheit frage nicht nach dem sozialen Gehalt der menschlichen Beziehungen, sondern “partikularisiere” den Menschen zu einem simplen Bedürfnisatom.


Von der Ästhetik zur Ontologie

Nachdem Lukács in seiner Ästhetik die Bedeutung der verschiedenen Medien und Signalsysteme für das menschliche Bewußtsein und Selbstbewußtsein analysiert hatte, untersuchte er in seiner Ontologie das Sein, besonders das gesellschaftliche Sein, das, im Gegensatz zum Natursein, der Mensch mit seiner Arbeit selbst geschaffen habe.

“Das Wesen der menschlichen Arbeit beruht aber darauf, dass sie erstens inmitten des Kampfes ums Dasein entsteht, zweitens, dass alle ihre Etappen Produkte seiner Selbständigkeit sind” (Lukács, Ontologie, Bd. II: 9). So ist die Form der kapitalistischen Arbeits- und Produktionsweise auch nur eine Etappe dieser Selbständigkeit, bei der die Aneigner des produzierten Reichtums, durch ständigen Fortschritt der Vergesellschaftung der Arbeit (Technik, Kommunikationssysteme etc.), den Widerspruch zum einzelnen Menschen auf die Spitze treiben, allerdings geschieht auch dies im Prinzip ohne böse Absicht der einzelnen Akteure.


Sozialismus ist totale Demokratie

Der Ruf nach “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” der bürgerlich demokratischen Revolutionen schuf die politische Gleichheit der Menschen und beseitigte aristokratische Privilegien. “dass damit die ökonomischen und sozialen Privilegien unangetastet blieben”, so Lukács 1942, “dass die faktische ökonomische und soziale Nichtgleichberechtigung der Menschen erst in der vollendeten Demokratie der bürgerlichen Gesellschaft ihre Widersprüche in reiner Form, auf höchster Stufe entfaltet hat, bildet das große Problem des Weitergehens der Menschheit über die politische Demokratie« (Lukács, Zur Kritik der faschistischen Ideologie: 365).

Die “bürgerliche Art der Demokratisierung”, schrieb er 1968 in Anlehnung an Marx, führe dazu, dass für den Menschen die anderen “Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit” bilden. Im Alltag sind die Menschen arbeitende, sich reproduzierende und genießende. Anders als die “politische Demokratie” der bürgerlichen Art, sei die “sozialistische Demokratie” unmittelbar und total. Sie grenze die Felder der Arbeit nicht aus, wie die “politische” oder die “repräsentative Demokratie”, die sich in die Ökonomie und die Verwertung der Arbeit nicht einmischt.

“Die sozialistische Demokratie – basiert auf dem tätigen realen Menschen, wie er wirklich ist, wie er in seiner eigenen Alltagspraxis zu wirken gezwungen ist – verwandelt in ihrer äußeren und zugleich inneren Entfaltung vom Menschen unbewußt (oder mit falschem Bewußtsein) hervorgebrachte Produkte in zielbewußt für den Menschen selbst geschaffene Gegenständlichkeiten, deren Hervorbringen mithin der subjektiven Tätigkeit einen Sinn, eine Erfüllung verleiht, die damit den daran mitwirkenden Mitmenschen aus einer Schranke des eigenen Seins, der eigenen Praxis in deren unentbehrlichen und als solchen bejahten Mitarbeiter und Helfer verwandeln” (Lukács, Sozialismus und Demokratisierung: S. 74).

Die Rätebewegung, entstanden 1871 in Paris, neuerweckt 1905 und 1917 in der russischen Revolution, war für Lukács ein Beispiel für diese ›neue‹ Form der Demokratie, die nicht die Erfindung einzelner Revolutionäre sei, sondern die das Volk selbst auf die Tagesordnung der Geschichte setze. Da dieser demokratische Prozeß erlernt werden müsse, forderte Lukács dazu auf, sich aktiv in die Formen der bürgerlichen Demokratie einzumischen und deren Möglichkeiten demokratisch auszudehnen. “Denn so sehr es richtig ist”, sagte er 1970 anläßlich der Entgegennahme des Goethepreises der Stadt Frankfurt, dessen gesamte Geldsumme er für die ›Aktion zur Rettung von Angela Davis‹ spendete, “dass die Entfremdung des Menschen nur im Sozialismus aufgehoben werden kann, so müssen doch die ersten Schritte im Kampf gegen eine manipulierte Demokratie und für eine wirkliche Demokratie, die noch nicht sozialistisch ist, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft unternommen werden.”

Sozialismus ist eben nicht einfach die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, sondern Sozialismus ist die totale Demokratie, mit deren Mitteln der Widerspruch von einzelnem Menschen und dessen Gattungsmäßigkeit in ein bewußtes Verhältnis gerückt wird, das sich nicht mehr unbewußt hinter dem Rücken der Menschen, nur auf einem abstrakten Markt, nur zu einem falschen, weil partikularen Bewußtsein, entwickeln läßt.

Utopie oder ein “Prinzip Hoffnung” findet sich im späten Werk von Lukács nicht. Sein Blick auf die konkrete Wirklichkeit der Menschen, ihrer Planungs-, Produktions-, Aneignungsweise ihrer Arbeit und ihres Bewußt- und Selbstbewußtseins, war ›unbarmherzig‹ gegenüber jeder Form von Romantik oder Wunschvorstellung. Die “Renaissance des Marxismus” forderte Lukacs nicht um reformistische Illusionen und Utopien zu schüren, wie dies leider vom Vorstand der “Internationalen Lukacs Gesellschaft” gern ins Bild gerückt wird. Denn “Natürlich sind die Imperialisten Imperialisten geblieben,” (“Sozialismus und Demokratisierung”S. 122) für ihn geblieben. Er forderte sie, um den dialektischen Materialismus als Grundlage in einer konkreten Analyse einer konkreten Situation entfalten zu können.

Jürgen Meier, Hildesheim
 



Quelle: Erstveröffentlicht in UZ ("unsere zeit", Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP), 10. April 2015 · Nr. 15 · 47. Jahrgang, Seite 10. > www.unsere-zeit.de

Ontologie:

(griech.) eigentlich „Lehre vom Sein“ . Der Begriff wurde zum ersten Mal im 17. Jahrhundert benutzt und durch Christian Wolff in die allgemeine philosophische Terminologie eingeführt. „Ontologie“ bedeutet Lehre vom Sein als Sein und seinen allgemeinsten Bestimmungen und Begriffen. Der Begriff des Seins umfasst alles Existierende, sowohl Materielles als auch Ideelles – unabhängig von jeder weiteren Bestimmung. (Ausführlich zu diesem Begriff siehe beispielsweise „Philosophisches Wörterbuch“ , Bd. 2, Leipzig 1975)

Bild- und Grafikquellen:

1. Georg Lukács, ungarischer Marxist, Philosoph und Literaturtheoretiker, Juli 1952. Bildautor: Horst Sturm Horst. Quelle: Bundesarchiv Bild 183-15304-0097. Quelle2: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland“ lizenziert.

2. György Lukács de Szeged, 1971. Photo © Demeter Balla Photography. > Webseite. Quelle: https://gyorgylukacs.wordpress.com/ > Foto