Hayeks marktliberale Gesellschaftstheorie

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Hayeks marktliberale Gesellschaftstheorie
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Hayeks marktliberale Gesellschaftstheorie

von Andreas Gick, Neukirchen-Vluyn

Liebe Mitlesende

ich darf Euch heute meine Bachelorarbeit im Kernfachstudiengang Philosophie zum Thema »Hayeks marktliberale Gesellschaftstheorie« vorstellen. Sie diente zur Erlangung des Grades Bachelor of Arts (B.A.) der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universit Düsseldorf und wurde von Prof. Dr. Peter Tepe geprüft.


Zur Motivation meiner akademischen Zweckschrift:

Friedrich_August_von_Hayek_1981_Wikipedia.jpgUrsprünglich war mein Ziel letztlich auf Feuerbach zurückgehende Ideologiekritik am Neoliberalismus vorzunehmen, die besagt, dass Menschen ein Bedürfnis nach einer heilen Welt haben. Im deutschsprachigen Raum ist diese Form der Ideologiekritik hauptsächlich mit dem Namen Topitsch verbunden.

Beim Christentum wird eine Heilserwartung auf den Tag des Jüngsten Gerichts projiziert und im Falle des Marxismus auf den Tag der sozialen Revolution, die somit eine Art materielle Offenbarung im apokalyptischen Marxismus darstellt. Ideologien sind mithin bedürfniskonform zur Sehnsucht der Menschen nach einem Heilsversprechen, was ihre glühenden Anhänger so gefährlich macht, weil sie eventuell dafür über Leichen gehen. Im deutschen Faschismus tauchen ähnliche Elemente auf, so dass auch dieser mit Hilfe einer solchen Ideologiekritik bearbeitet werden kann.

Dem Neoliberalismus, den Hayek auch »Negativismus« nannte, kann eine solche Kritik freilich gar nichts anhaben, weil er das Gegenteil eines Heilsversprechens beinhaltet, nämlich die Warnung, dass man sofort in Teufels Küche kommt, sollte man an der Marktgesellschaft etwas grundlegend ändern wollen. Mir kam anfangs durchaus der Gedanke, dass ich die Theorie der Bedürfniskonformität dahingehend abändern müsste, dass auch das Bedürfnis nach fatalistischen Einstellungen im Menschen angelegt ist. Dafür langte aber die Zeit nicht, weil ich mir dafür zuviel hayekschen Grundlagentext durchlesen musste.

Eine Interpretation der Durchsetzung des Neoliberalismus wäre ihn als eine Art allergische Reaktion der bürgerlichen Gesellschaft aufzufassen, die sich gegen die Totalitarismen des 20. Jh. wendet, ohne dabei zu bemerken, dass auch der totale Markt eine Form von Totalität ist.
 



Hayeks marktliberale Gesellschaftstheorie

von Andreas Gick

► Inhaltsverzeichnis:


1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . 1

2 Darstellender Teil . . . . . . . . . . . . . 1

2.1 Zum Begriff der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

2.2 Vorteile der Freiheit... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

2.2.1 ...für die Kreativität der Zivilisation . . . . . . . . . . . . . 3
2.2.2 ...für den Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
2.2.3 ...für die Entstehung einer Schicht von Privatiers . . . . . . 6

2.3 Freiheit im Verhältnis zu... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

2.3.1 ...Vernunft und Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2.3.2 ...Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
2.3.3 ...egalitaristischen Vorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . 9
2.3.4 ...Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.3.5 ...Beschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

2.4 Hayeks gesellschaftliche Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . 13

2.4.1 Spontane Ordnung und Organisation . . . . . . . . . . . . 15
2.4.2 Evolution des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.4.3 Gemeinwohl und freie Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 21

2.5 Gerechtigkeit und spontane Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 23

2.5.1 Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren . . . . . . . . . 26
2.5.2 Bedrohung durch tribalistische Gefühle . . . . . . . . . . . 27

2.6 Politische Gegner und Handlungsempfehlungen . . . . . . . . . . 28

2.6.1 Gegen Gewerkschaften und Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . 29
2.6.2 Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
2.6.3 Steuerpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.6.4 Gelpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.6.5 Stadtentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.6.6 Landwirtschaftspolitik und natürliche Ressourcen . . . . . 33
2.6.7 Bildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
2.6.8 Wettbewerbspolitik und Privatisierung . . . . . . . . . . . 34
2.6.9 Verfassungsentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

3 Kritikteil . . . . . . . . . . . . . 36

3.1 Zur Einordnung Hayeks in den Kontext des Neoliberalismus . . . 36

3.2 Kritik an Hayeks Neoliberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

3.2.1 Schwierigkeiten in Hayeks Theorie . . . . . . . . . . . . . . 38
3.2.2 Kritik am Hayekschen Gesellschaftsbild . . . . . . . . . . . 40

3.3 Die politische Etablierung des Neoliberalismus und seine Auswirkungen . . . . . . 44

4 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . 52


 

1 Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich anhand ausgewählter Texte mit der Gesellschaftstheorie Friedrich August von Hayeks, der von 1899 n. Chr. bis 1992 lebte. Sie gliedert sich in einen darstellenden Teil und einen Kritikteil. Schon im darstellenden Teil wird klar werden, dass es sich nicht bloß um einen sterilen theoretischen Entwurf handelt, weil die Textgrundlage bestehend aus The Constitution of Liberty und dem dreibändigen Law, Legislation and Liberty unübersehbare politische Bezüge hat.

Sobald man weiß, dass Margaret Thatcher die hier zugrundegelegten Texte einst zur Lektüre empfahl (vgl. Tomlinson 1990, S. Xf.), kann dies niemanden mehr recht überraschen. In jüngerer Zeit bezog sich sogar noch Angela Merkel in einem Artikel für die Financial Times Deutschland positiv auf The Constitution of Liberty (Merkel 2005).1 Es handelt sich also um ein ambitioniertes Projekt zwischen politischen Streitschriften und intellektuellen Studien zur Revitalisierung des Liberalismus in Großbritannien. Der darstellende Teil führt zunächst anhand von The Constitution of Liberty in das liberale Denken Hayeks ein, behandelt dann seine darauf aufgebaute Gesellschaftstheorie und schließt mit den politischen Forderungen Hayeks.

Im Kritikteil wird Hayek zunächst in den Kontext des Neoliberalismus eingeordnet, anschließend kommen Schwierigkeiten in seiner Theorie zur Sprache, die um eine Kritik des gezeichneten Gesellschafts- bzw. Weltbildes ergänzt werden. Aufgrund der politischen Wirksamkeit des Neoliberalismus kann eine historische Betrachtung seiner Etablierung natürlich nicht ausbleiben, genausowenig wie die Diskussion seiner mitunter einschneidenden sozialen Folgen.

Das letzte Teil fasst die wesentlichsten Ergebnisse nochmals zusammen und gibt einen Ausblick auf eine mögliche Alternative zum Neoliberalismus, der noch lange nicht tot ist.


 

2 Darstellender Teil

Das in drei Teile gegliederte Werk The Constitution of Liberty ist eine Schrift Hayeks für den Wert der Freiheit, den er im Westen um das Jahr 1960 herum in Vergessenheit geraten sieht (Hayek 2011/1960, S. 47f.). Entsprechend ist der erste Teil überschrieben mit The Value of Freedom. In der Mitte des Buches beginnen die  gesellschaftstheoretischen Überlegungen Hayeks, an die er in Law, Legislation and Liberty anknüpft und ausbaut. Beide enden jeweils mit politischen Empfehlungen auf Basis seiner vorherigen Ausführungen.

2.1 Zum Begriff der Freiheit

Eine Gesellschaft ist im Sinne Hayeks frei genau dann, wenn Zwang ausgeübt von einigen auf andere auf ein Minimum reduziert ist (Hayek 2011/1960, S. 57), wobei Freiheit allein die Beziehungen von Personen betrifft (Hayek 2011/1960, S. 59f.). Zwang wiederum definiert er als Androhung, jemandem Leid zuzufügen mit der Absicht, eine gewisse Handlungsweise der gezwungenen Person herbeizuführen. Dabei kann die gezwungene Person unter Umständen noch Wahlmöglichkeiten haben, die jedoch von der erzwingenden Person oder Personengruppe bestimmt sind. Zwang ist schlecht, weil es eine Person davon abhält, seine mentalen Kräfte voll zu nutzen und damit den größten Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten, zu der sie fähig ist (Hayek 2011/1960, S. 200f.).

Der einzige Weg, die Abwesenheit von Zwang zu gewährleisten, ist die Androhung von Zwang. Diesem Problem begegnet die freie Gesellschaft, indem sie das Recht der Zwangsausübung in den Händen des Staates monopolisiert. Damit staatlicher Zwang minimiert werden kann, schützt der Staat nur die bekannten Privatsphären gegenüber Übergriffen anderer. Diese werden den Individuen nicht ausdrücklich zugewiesen, sondern jedes Individuum wird auf der Grundlage von allgemeinen Regeln in die Lage versetzt, seine Privatsphäre selbst zu bestimmen. Die Regeln sind dazu da, dem Individuum mitzuteilen, was die Regierung in verschiedenen Arten von Situationen tun wird, also auch wann sie Zwang ausüben wird. Derart helfen die Regeln dem Individuum bei der Verfolgung seiner eigenen Ziele (Hayek 2011/1960, S. 71f.).

Zum besseren Verständnis des Zwangs fehlen noch einige Erläuterungen. So liegt kein Zwang vor, wenn jemand sich einer Situation gegenüber sieht, in der er einen gehassten Job annehmen muss, um nicht zu verhungern, solange die Handlungen, die die Person in diese Situation brachten, nicht darauf zielten, sie diese oder jene Dinge tun zu lassen (Hayek 2011/1960, S. 204). Ferner können Monopolisten nur dann Zwang ausüben, wenn sie über ein Gut verfügen, das überlebenswichtig ist (Hayek 2011/1960, S. 203). Schließlich kann Zwang, der im unmittelbaren persönlichen Umfeld in der Familie vorkommt, nicht vollständig seitens des Staates verhindert werden (Hayek 2011/1960, S. 205).

Damit ein ausreichender Schutz vor Zwang überhaupt gewährleistet werden kann, muss das Recht auf Privateigentum anerkannt werden. Ansonsten ist es unmöglich, eine Abgrenzung der Privatsphäre zu finden, die gegen Zwang schützt (Hayek 2011/1960, S. 206f.). Da es kaum Handlungen gibt, die andere nicht betreffen, ist die Grenzziehung schwierig. Die Privatsphäre einer Person sollte darum die rationalen Erwartungen derselben über den vor anderen und dem Staat geschützten Raum beinhalten, was i.a. bedeutet, dass die Moralität von privaten2 Handlungen nicht Sache des Staates oder anderen ist (Hayek 2011/1960, S. 212f.).

In der modernen Gesellschaft muss zur Anerkennung des Privateigentums noch das Recht auf Vertragsfreiheit hinzukommen. Nur so ist es möglich, dass Menschen praktisch ohne Eigentum frei sein können, denn man kann so gut wie alles mieten. Voraussetzung ist allerdings, dass die Mietsachen verschiedenen Vermietern gehören, damit sie keine Zwangsmacht über die Mieter erhalten (Hayek 2011/1960, S. 208).

Abgesehen von der Verhinderung von Zwang wird die staatliche Macht in einer freien Gesellschaft auch gegen Betrug und Fälschung benötigt (Hayek 2011/1960, S. 211).

Kapitel 2.2  bis 2.6 

Bitte lest diese Kapitel und das Literaturverzeichnis im downloadbaren pdf am Ende dieser Arbeit.


 

3 Kritikteil

Da viele Kritiken an Hayeks Position im weiteren Kontext einer Kritik des Neoliberalismus verfasst wurden, soll in den folgenden Ausführungen zunächst der Begriff erläutert werden und anschließend Hayeks Bedeutung für den Neoliberalismus dargestellt werden.

3.1 Zur Einordnung Hayeks in den Kontext des Neoliberalismus

Seit den 1990ern Jahren wurde Neoliberalismus mehr und mehr zu einem politischen Kampfbegriff, der einen entfesselten, globalisierten Kapitalismus bezeichnet. Diesen negativen Sinn hatte er jedoch nicht immer, er ergab sich vielmehr aus den in dieser Zeit spürbar werdenden Auswirkungen des neoliberalen Paradigmas, das schon in den 1970er Jahren in die Wege geleitet worden war. Der Begriff kann heutzutage in einer Vielzahl von Bedeutungen vorkommen, was dem Umstand seiner Popularisierung als politisches Schlagwort geschuldet ist (Ptak 2008, S. 13f.). Demzufolge muss man zum Ursprung des Begriffs zurückgehen, um ein klareres Verständnis des Neoliberalismus aus historischer und theoretischer Sicht zu gewinnen.

Die Vorsilbe »neo« bezieht sich auf den alten Liberalismus in der Tradition von Adam Smith, Bernhard de Mandeville und David Hume u.a. mit einer starken Betonung des wirtschaftlichen Aspekts. Der Neoliberalismus hebt sich vom alten Liberalismus dadurch ab, dass er die dauerhafte institutionelle Absicherung der Marktgesellschaft zu seinem  Kernanliegen macht. Er ist folglich kein neues Phänomen sondern eine Erweiterung und Modernisierung des (Wirtschafts-)Liberalismus (Ptak 2008, S. 16).

Der historische Ausgangspunkt für diese Modernisierung war die Große Depression ab dem Ende der 1920er Jahre, die den Marktoptimismus der klassisschen Wirtschaftswissenschaft jäh beendete. Fortan betrieben die meisten kapitalistischen Länder eine interventionistische Wirtschaftspolitik, der Keynes’ ”General Theory“ ab 1936 als theoretisches Fundament diente. Aufgrund der Langlebigkeit der Krise konnte man kaum an der liberalen Auffassung eines normalen Konjunkturverlaufs, der schon wieder auf ein wirtschafliches Gleichgewicht zusteuern würde, festhalten. Die Niederlage des Wirtschaftsliberalismus war aber zugleich der Beginn der langfristig orientierten Gegenbewegung des Neoliberalismus (Ptak 2008, S. 17ff.).

Die Bewegung war von Anfang an international ausgerichtet und führte auf dem Colloque Walter Lippmann 1938 in Paris, bei dem Hayek auch zugegen war, den Begriff Neoliberalismus ein (Butterwegge, S. 21f.). Es wäre falsch, im Neoliberalismus eine einheitliche theoretische-ideologische Gesamtkonzeption zu erblicken, er ist vielmehr eine internationale und ziemlich heterogene Strömung der Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie mit dem verbindenden Ziel eine marktwirtschaftlich dominierte Gesellschaft zu etablieren (Ptak 2008, S. 23).

Bei der Frage der Rechtfertigung der Marktgesellschaft lassen sich historisch gesehen zwei neoliberale Theoriestränge unterscheiden. Zum einen wäre der deutsche Neoliberalismus zu nennen, der unter Zuhilfenahme eines starken Staates die funktionstüchtige Wettbewerbswirtschaft gewissermaßen veranstalten will. Auf der anderen Seit steht Hayeks Bild von der spontanen Ordnung des Marktes als geschichtlich überlegenes gesellschaftliches System (Ptak 2008, S. 32f.).

Ohne Frage gilt Hayek als eine der Hauptfiguren des Neoliberalismus, weil er das Projekt einer intellektuellen Neubegründung des Liberalismus wie kein zweiter repräsentiert (Ptak 2008, S. 15). Andere gehen sogar so weit ihn den Vater des Neoliberalismus zu nennen (Veerkamp 2005, S. 127).

Von großer Bedeutung sind die Theorien von Gary S. Becker und James M. Buchanan aus den 1960er Jahren, weil sie gleichsam für die Entgrenzung des neoliberalen Projektes stehen. Ersterer ist bekannt für den Humankapitalansatz, der das ökonomische Kalkül für alle menschlichen Handlungen zugrundelegte. Denken ist demnach immer ein Abwägen von Handlungsalternativen, um ein nutzbringendes Resultat zu erzielen. Buchanan erarbeitete den Public-Choice-Ansatz (Nordmann 2008, S. 126), der den Staat anknüpfend an Hayeks Evolutionstheorie im Idealfall auflösen will in ein Geflecht von Tauschbeziehungen (Schui und Blankenburg 2002, S. 140).

3.2 Kritik an Hayeks Neoliberalismus

3.2.1 Schwierigkeiten in Hayeks Theorie

Generell sind die hier behandelten Schriften Hayeks von einer Fülle an verwendeter Literatur gekennzeichnet, während seine theoretischen Überlegungen selten mit Beispielen versehen sind. Dadurch kommt der Eindruck zustande, dass, um es in Anlehnung an Schui zu sagen, das Bild umso unschärfer wird, je schärfer man die Linseneinstellung wählt (Schui und Blankenburg 2002, S. 75).

So können die Grenzen der Vernunft laut Tomlinson in Hayeks Theorie kaum ausgemacht werden. Auf der einen Seite legt Hayek großen Wert auf die evolutionär entstandene Tradition, die nur äußerst behutsam verändert werden darf. Auf der anderen Seite macht er weitreichende Vorschläge zur Änderung der Verfassung, zur Privatisierung von öffentlichen Diensten etc.. Man kann ihm sicherlich dahingehend recht geben, dass die Gesellschaft sich nicht von Grund auf neu bauen lässt wie ein Haus, doch kann keine sozialdemokratische Politik in den entwickelten Staaten aufgrund eines solch basalen Argumentes abgelehnt werden (Tomlinson 1990, S. 55).

Brodbeck weist darauf hin, dass Hayeks Gesellschaftstheorie nicht erklären kann, woher ein Denken gegen die spontane Ordnung kommen konnte, wenn sich die Intelligenz in einem evolutionärem Prozess herausgebildet hat (Brodbeck 2004). Dieser Einwand könnte jedoch noch gekontert werden, indem die tribalistischen Restemotionen angeführt werden, die mit der soziokulturellen Evolution nicht mithalten konnten.

Als tragfähigerer und vor allem grundlegenderer Kritikpunkt erweist sich ein genauerer Blick auf den Begriff der spontanen Ordnung: Ist sie ein normativer oder ein deskriptiver Begriff? Seine politischen Empfehlungen legen nahe, dass ersteres der Fall ist. Andererseits steht die normative Interpretation im Gegensatz zum eher deskriptiven Charakter Hayeks evolutionäarer Gesellschaftstheorie, die ihn konsequenterweise dazu zwingen würde, diejenige Ordnung anzunehmen, die sich im Selektionsprozess durchsetzt. Es ist daher wohl anzunehmen, dass die spontane Ordnung sowohl eine beschreibende als auch eine vorschreibende Funktion innehat. Dann aber versucht er die Aktionen der Individuen, den evolutionär enstandenen Traditionen und Konventionen unterzuordnen, was nach Barker der Leugnung des Prozesses gleichkommt, der die spontane Ordnung ausbildete (Barker 1997, S. 243ff.). Demnach ist Brodbeck zuzustimmen, dass völlig unklar bleibt, ob bspw. die Aufhebung des Postmonopols ein unzulässiger Eingriff in die bestehende Gesellschaftsordnung wäre, denn schließlich ist auch das Aufheben von Regeln ein Eingriff in das System. Das Problem trat schon bei den Physiokraten auf, die einen analogen Gegensatz zwischen »natürlicher« Wirtschaftsordnung und künstlich hergestellter Ordnung konstruierten (Brodbeck 2004).

Ein weiterer fragwürdiger Punkt in Hayeks Theorie besteht in seinen Ansichten über den Status des Wissens.5 Wissen manifestiert sich für ihn nicht nur in bewussten Überlegungen und bewusster Kommunikation, sondern Wissen gibt es auch in einer »stillen« Form verkörpert im Verhalten von Individuen und Gesellschaften (Kukathas 1989, S. 53). Es wird die Ansicht vertreten, dass die Hayeksche Theorie des Wissens in den 1960er Jahren von einer subjektivistischen Position, die einer Ablehnung der neoklassischen Methodik der Wirtschaftswissenschaften zuträglicher war, abging und durch den Begriff des »stillen« Wissens ergänzt wurden (Lawson 1997, S. 136). Schui und Blankenburg sind daher der Meinung, dass Wissen einen stark subjektiven Charakter behalten muss, weil sich sonst nicht auf epistemischer Basis die Marktordnung verteidigen lässt (Schui und Blankenburg 2002, S. 102).

In der Literatur werden darüberhinaus verschiedene Varianten diskutiert, wie Wissen im Hinblick auf die Sozialwissenschaften in Hayeks Schriften zu verstehen ist. Umstritten ist, ob sein Rekurs auf das spezifische unternehmerische Wissen, das für ihn planwirtschaftliche Versuche unmöglich macht, als eine kontingente Wahrheit über moderne Gesellschaften darstellt oder Teil einer epistemischen Theorie ist. Watkins hält erstere These für richtig (Watkins 1997, S. 89), während Parsons argumentiert, dass die Grenzen wissenschaftlichen Wissens Hayeks ganzes Werk kennzeichnen. In dem Fall tun sich aber unüberbrückbare Probleme auf, weil nicht gezeigt werden kann, wie es möglich ist, dass die Marktordnung tendenziell selbst-regulierend ist, obschon Wissen und Vernunft begrenzt sind und somit das Ganze unerkennbar (Parsons 1997, S. 83).

Das in ein ökonomisches Kalkül einfließende Wissen ist teilweise subjektiver Natur, kann daher von niemand anderem gewusst werden als den Wirtschaftssubjekten selbst. Objektiviert tritt Wissen nur in Form der Preise auf, so dass für Hayek der Markt zwar eine Art Rechenmaschine darstellt, aber keine die ersetzt werden könnte. Doch es ist unmöglich die Behauptung zu überprüfen, dass die Preise von individuellen Informationsunterschieden gesteuert sind, weil das einzige Beurteilungskriterium zur Nachprüfung dieser These die Preise selbst sind (Brodbeck 2004).

Schließlich wären noch seine philosophiehistorischen Überlegungen, die einem starken Freund-Feind-Denkschema verhaftet sind, zu kritisieren. Weder gibt Hayek eindeutige Kriterien an, warum er einzelne Denker dem »Konstruktivismus« zuordnet, noch scheint es ihm der Rede wert zu sein, dass ihm genehme Figuren der Geistesgeschichte wie Kant und Locke Vertragstheoretiker waren. Hayek legt aber großen Wert auf diese Unterscheidung, weil sie belegen soll, dass die Konstruktivisten aufgrund ihrer Verkennung der evolutionären Herkunft der Gesellschaft zwangsläufig auf sozialistische Gedanken kommen mussten.

Weder Marx noch Hegel, die Hayek den Konstruktivisten zuschlägt, teilten diese Ansicht. Der weitaus gewichtigere Einwand gegen Hayek ist die Abwesenheit einer Verbindung zwischen einer konstruktivistischen Sicht der Gesellschaft und antiliberalen politischem Denken (Kukathas 1989, S. 207f.). So kann man Kant als einen liberalen ansehen, obwohl er wie kaum ein anderer dafür steht, dass moralisches Verhalten nur durch die Vernunft geleitet werden soll. Dennoch hält Hayek ihn für einen Liberalen, was darauf hindeutet, dass es noch nicht einmal eine starke Verbindung zwischen Konstruktivismus und sozialistischen Idealen gibt (Kukathas 1989, S. 210).

3.2.2 Kritik am Hayekschen Gesellschaftsbild

In diesem Abschnitt folgen einige Kritikpunkte, die sich eher darauf beziehen, ob das von der Hayekschen Theorie vermittelte Gesellschaftsbild realistisch ist. Zuvor soll noch einmal pointiert das neoliberale Gesellschaftsbild zusammengefasst werden.

Das Ziel der aufgestellten »Marktutopie« ist das Überleben der (westlichen) Zivilisation nebst Schaffung einer reichen Klasse, aus deren Mitte, so die Hoffnung, einige Philanthropen hervorgehen. Der Markt steht im Zentrum der Zivilisation, weil der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren den überlebensnotwendigen Fortschritt hervorbringt. Der Markt darf deshalb nicht angetastet werden, weswegen von der Mehrheit die Unterwerfung unter die spontane Ordnung verlangt werden muss, sofern sie überleben will. Die wichtigsten Grundwerte der Marktgesellschaft sind negative Freiheit und formale Rechtsgleichheit, die immer in Gefahr sind durch archaische Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, weil die Durchsetzung der Grundwerte vom Gewaltmonopol des Staates abhäangt. Die folgenden Ausführungen widmen sich der Frage nach der behaupteten Priorität des Wettbewerbs bzw. des Marktes für den technisch–wissenschaftlichen Fortschritt.

Zunächst ist anzumerken, dass es sehr wohl Wissensformen gibt, die einzelne Entscheidungen oder Unternehmen bei weitem übersteigen. Basale naturwissenschaftliche Erkenntnisse gehören dazu, aber auch Wissen um Zusammenhänge in der Politik und der Ökologie. Am Beispiel der Ökologie wird es besonders deutlich, dass man sich nur schwer vorstellen kann, dass Unternehmen über die Wechselwirkungen von Klimaerwärmung, Wüstenbildung und Regenwald Wissen erzeugen. Welchen ökonomischen Anreiz sollten sie dazu haben, zumal die genannten »Güter« keine Preise haben?

Auch wenn es Preise für Güter gibt, ist noch lange nicht gesagt, dass sie die richtigen Knappheitsinformationen liefern. Sofern man, wie Keynes dies tat, davon ausgeht, dass Spekulation die Wahrheit über die Knappheit verzerren kann. Unter dieser Prämisse können die Preissignale nötige Anpassungen sogar verhindern. Hayek behauptet dagegen eine positive Auswirkung der Spekulation.

Lässt man den Einwand gegen den Informationswert der Preise außer Acht, dann ist der beste Fortschrittsmotor laut Hayek der Wettbewerb, weil er der spontanen Schaffung neuen Wissens in Form einer Entdeckung Vorschub leistet, die den Vorrang vor geplanten Problemlösungen für den Fortschritt einnimmt. Führt man sich vor Augen, dass viele Erfindungen bzw. technische Weiterentwicklungen sehr wohl bewusst und gezielt von Großunternehmen etwa geplant werden, wird klar, dass diese Akzentsetzung fragwürdig ist. Zumal die Tatsache, dass es Industriespionage gibt, darauf hindeutet, dass Unternehmen nicht nur rein privates Wissen nutzen, sondern sehr viel Wissen allgemein benutzt werden kann. Der Schwerpunkt dürfte eher auf der Seite der systematischen Forschungs- und Entwicklungsarbeit bis zur Marktreife liegen (Brodbeck 2004).

Problematisiert man im Gegensatz zu Hayek die wirtschaftlichen Machtverhältnisse nicht nur auf der Seite der Arbeitnehmer, ergibt sich in vielen Branchen ein Bild, das eher dem Gesetz des Stärkeren als dem eines fairen Wettbewerbs gleicht (Girkinger 2005, S. 120). Wettbewerb stellt auch kein Anliegen gängiger betriebswirtschaftlicher Literatur dar. Im Gegenteil Marketingstrategen raten dazu ein Markenprodukt gerade so zu entwerfen, dass es keinen direkten Konkurrenten gibt (Girkinger 2005, S. 119). Freilich, für Hayek und seine Anhänger wären Analysen über die soziale Stellung des einzelnen und den gesellschaftlichen Strukturen nicht der Rede wert, weil in ihrer bipolaren Sicht damit dem Niedergang der Freiheit Tür und Tor geöffnet würde (Girkinger 2005, S. 121). Auf der anderen Seite gestehen selbst Sympathisanten wie Richardson, dass er den Einfluss der Gewerkschaften in England stark überbewertete, wobei Richardson sich nicht sicher ist, ob nach Hayeks Wissensbegriff eine Vorhersage überhaupt möglich wäre (Richardson 1997, S. 272).

Das dogmatische Festhalten am ausschließlich negativen Freiheitsbegriff kann man aber auch als großen Fehler betrachten, weil man dadurch die Augen vor den Folgen des technischen Fortschritts verschließt. Inzwischen kann laut Dahrendorf von der Entstehung einer neuen »globalen Klasse« gesprochen werden, die sich im sozioökonomischen Umfeld der Informationstechnologie mit der Globalisierung herauskristallisiert hat. Sie übt Druck auf bestehende soziale Institutionen aus, wie es das aufstrebende Bürgertum im 18. Jh. tat, untergräbt damit die Solidarität und schafft neue Ungleichheit. Der entscheidende Punkt aber ist, dass sie im Kontrast zur früheren Kapitalistenklasse die Armen nicht mehr als Arbeitskräfte benötigt. In Anbetracht dessen wird klar, dass die negative Freiheit für ein Individuum ohne gute Startchancen in der Praxis marginalen Wert hat. Dies gilt selbst dann, wenn Hayeks Theorie in sich schlüssig wäre (Girkinger 2005, S. 121ff.). Soll Freiheit mehr sein als ein Mittel, um die soziale Stellung der besitzenden Schicht zu verteidigen, muss aus einer sozialliberalen Perspektive noch einiges an sozialen Rechten bzw. politische Freiheit hinzukommen, um dem Begriff auch in der Praxis einen Sinn zu geben (Girkinger 2005, S. 124f.).

Was für die Freiheit zutreffend ist, kann auch für den Begriff der Gerechtigkeit geltend gemacht werden. Entgegen der fast paranoid anmutenden Abwehrhaltung Hayeks in Bezug auf die soziale Gerechtigkeit gibt es gute Gründe, am Begriff der sozialen Gerechtigkeit festzuhalten. Wie dargestellt kann im neoliberalen Denken nichts ungerecht sein, was dem impersonalen gesellschaftlichen Prozess entspringt.

Dem kann man entgegenhalten, dass eine unintendierte marktvermittelte Güterverteilung allein, die Betrachtung dieser Verteilung unter Gerechtigkeitsaspekten nicht ausschließen muss. Die Verteilungseffekte der bestehenden Marktverhältnisse lassen sich mit hinreichender Genauigkeit vorhersagen, weil sie in vielen Fällen eine ausreichende Kontinuität aufweisen. Insbesondere Kundenbeziehungen sind, obwohl sie freiwillig eingegangen werden, oft ziemlich stabil.

Akzeptiert man die Marktgesetze wie Naturgesetze, dann kann man in Hayekscher Lesart den Markt für nichts verantwortlich machen, weil man auch die Natur nicht für Naturkatastrophen verantwortlich machen kann. Dagegen lassen sich die Beobachtungen der Reaktion von Bevölkerungen, über die eine Naturkatastrophe hereinbegrochen ist, heranziehen. Zwar macht in modernen Zeiten niemand mehr die Natur dafür verantwortlich, doch werden nach Katastrophen in betroffenen Gesellschaften oft Diskussionen angestoßen, ob die nötigen Vorsorgemaßnahmen im Vorfeld getroffen wurden. Kommen sie zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall war, werden entsprechende Maßnahmen veranlasst, Deiche gebaut, Frühwarnsysteme installiert etc. (Reitzig 2008, S. 143).

In Analogie zur praktischen Bedeutungslosigkeit von negativer Freiheit hilft es einem armen Individuum zudem wenig, dass es im neoliberalen Sinn als gerecht gelten kann, seine Arbeit in einem lebenslangen Versklavungsvertrag anbieten zu dürfen (Reitzig 2008, S. 144).

Viele Autoren (Brodbeck 2004, vgl. z.B.) sehen es als eine Bereicherung der Wirtschaftswissenschaft an, dass Hayek mit seiner Argumentation gegen Interventionen in den Markt, die auf dem begrenztem individuellem Wissen beruht, die mechanistische neoklassische Analyse von Marktgleichgewichten in Frage stellt. Trotzdem räumt Hayek den Ökonomen eine im Prinzip herausragende Bedeutung für die Erarbeitung von marktkonformen Regeln bzw. Gesetzen ein, weil sie eine mentale Landkarte des ökonomischen Geschehens zeichnen können. Die Frage ist, ob es wirklich wünschenswert ist, dass die Ökonomik eine solche überragende Rolle bekleiden sollte.

Die Fragestellung weist zurück auf das oben schon kritisierte Modell des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahrens, das letztlich im Markt die Vorrangstellung für den Fortschritt sieht, hat aber einen wissenschaftstheoretischen bzw. wissenschaftshistorischen Hintergrund, der kurz erläutert werden soll.

Mit Poppers Werk »Die Logik der Forschung«, das auf das Versuch-Irrtums-Prinzip in der Forschung abhebt, fanden Neoliberale, darunter auch Hayek, eine gute Analogie zu ihrem Verständnis des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs. Gegen eine Unterordnung der Wissenschaft durch ökonomisches Denken hatte sich Popper jedoch entschieden gewehrt, weil er nur richtige von falscher Wissenschaft trennen wollte (Nordmann 2008, S. 121f.).

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Autorität des Wissenschaftsbetriebes mehr und mehr untergraben, was u.a. mit den Arbeiten von Kuhn und Feyerabend zusammenhängt (Nordmann 2008, S. 123f.). Letzterer strebte eine Demokratisierung von Wissenschaft und Forschung bspw. mit Hilfe privater Geldgeber an, lobte darum Hayek wegen dessen Staatsfeindlichkeit, ahnte aber nicht, dass das Denken der Ökonomen dominierend werden sollte, weil er zu sehr gefangen war in seinen Attacken gegen die institutionalisierte Wissenschaft des Wohlfahrtsstaates (Nordmann 2008, S. 125f.). Damit war der Weg geebnet für ein marktorientiertes Wissenschaftsverständnis ab den 1980er Jahren, demzufolge Wissenschaft hauptsächlich Wissen für den Markt produzieren sollte, anstatt das alte Ideal umfassender Aufklärung weiter zu vertreten (Nordmann 2008, S. 111f.).

Somit beherrscht das ökonomische Denken mittlerweile die Wissenschaft6 und die Politik, wie später noch zu sehen sein wird, ohne dass für die Überlegenheit des Marktes ein Beweis auch nur angestrebt wird, was die Vorteilhaftigkeit einer Abkehr von der Neoklassik und damit der allgemeinen Gleichgewichtstheorie, die die Berechenbarkeit der Ökonomie suggeriert, zumindest deutlich relativiert.

Zuletzt sei die Polemik gegen den Wohlfahrtsstaat bzw. den Sozialismus angesprochen, die sich so ziemlich durch das gesamte Werk Hayeks zieht. Im Grunde gibt es nach seiner Lehre, keinen Mittelweg zwischen Zentralplanwirtschaft und freier Marktwirtschaft. Gegen diese dichotomische Sicht ist einzuwenden, dass es keine Mechanik gibt, die die Koexistenz von planwirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen Elementen in einem System ausschließt. Allerdings heißt dies nicht, dass eine solche Koexistenz sich in perfekter Harmonie abspielen muss.

Auf der theoretischen Ebene wäre in dieser Beziehung, die einheitliche Beschaffenheit der Märkte anzuzweifeln, und verschiedene Märkte klar voneinander zu unterscheiden. Somit muss die politische Wünschbarkeit von Märkten ganz klar von den Besonderheiten her bewertet werden. Wirtschaftliche Planung muss im selben Maße gesondert betrachtet werden, weil auch hier nicht von homogenen Effekten augegangen werden kann.

Aber auch auf der empirischen Ebene existieren gute Belege, dass Hayeks binäre Verteufelung der Planung unhaltbar ist. Die Erfahrungen der Nachkriegszeit in den Industrieländern während der Nachkriegszeit bezeugen dies. So kombinierte man im Nachkriegs-Japan Planung und Marktwirtschaft derart, dass der Staat die ökonomischen Schwerpunkte festlegte und innerhalb der Sektoren Wettbewerb zuließ. Es ist nicht abwegig, diesen Weg als einen der Erfolgsfaktoren Japans zu sehen. Einen ähnlichen Ansatz staatlicher Schwerpunktsetzung wählte Frankreich. Damit kann freilich nicht bewiesen werden, dass Mischwirtschaften immer erfolgreich sind, sondern nur, dass die Behauptung eines zwangsläufigen Abgleitens in den Totalitarismus wegen planwirtschaftlicher Eingriffe des Staates nicht haltbar ist (Tomlinson 1990, S. 120ff.).

3.3 Die politische Etablierung des Neoliberalismus und seine Auswirkungen

Dem Leser mag Hayeks politischer Forderungskatalog, wie er ihn in The Constitution of Liberty ausbreitet, von seiner Grundausrichtung her bekannt vorkommen. Wie eingangs erwähnt war Hayek einer der Ideengeber von Magaret Thatcher und der Einfluss seiner Ideen reicht bis zu Bundeskanzlerin Merkel, die kürzlich noch positiv auf ihn Bezug nahm.

Wenn in der anschließenden Diskussion der Auswirkungen neoliberal geprägter Politik die Rede sein wird, dann muss ein wesentlicher Zug dieser Theorie aufmerksam gemacht werden, der in obiger Kurzzusammenfassung ausgespart wurde. Da das Ziel das  Überleben der Zivilisation mittels der Entfesselung der Marktkräfte ist, geht es dem Neoliberalismus nicht um das Erreichen eines angebbaren Zustandes, sondern darum den Markt auf allen möglichen Ebenen zu installieren. Dadurch prallt jede Kritik auf empirischer Basis ab, weil sich seine Vertreter darauf zur¨uckziehen können, dass entweder noch nicht genug Wettbewerb herrscht oder die Resultate als Produkt des Marktspiels hingenommen werden müssen. M.a.W., Hayeks Ansatz schließt alle Formen aus, die auf eine Überprüfbarkeit von Zielen und Mitteln in der politischen Gestaltung einer Gesellschaft hinauslaufen (Ptak 2008, S. 47).

Mittlerweile hat der Neoliberalismus die Diskurshoheit erlangt (Harvey 2007, S. 3), was heißt, dass neoliberales Denken ein Teil des »gesunden Menschenverstandes« geworden ist, wenn man an Stichworte wie die größere Effizienz von privaten gegenüber öffentlichen Bürokratien, Innovation, Markt und Flexibilität denkt (Barker 1997, S. 247f.). Deswegen müssen Hayeks Bücher heute im Lichte ihres Einflusses gelesen werden müssen. Für den Fall Großbritanniens bemerkt Barker, dass die Hayeksche Lehre in ihrer Reinform am Ende des 20. Jh. nicht mehr die öffentliche Aufmerksamkeit genießt, doch dass die Ideenfragmente teilweise in stark abgewandelter Form bis heute das politische Denken des Landes mitbestimmen, wobei keine generelle Richtung auszumachen ist7 (Barker 1997, S. 249f.). Wie aber kam es zur neoliberalen Wende beginnend in den späten 1970er Jahren? Um diese Zäsur verstehen zu können, ist ein Blick in jüngere Vergangenheit unerlässlich, zumal die Texte Hayeks in ihrem historischen Kontext eingeordnet werden können.

Nach dem zweiten Weltkrieg stand in den Industrieländern außer Frage, dass der Staat mit und notfalls gegen den Markt für Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum und das Wohlergehen seiner Bürger zu sorgen hatte. Reiner Kommunismus und reiner Kapitalismus wurden als gescheitert angesehen. Vielmehr galt ein »Klassenkompromiss« zwischen Kapital und Arbeit als die beste Garantie für Stabilität und inneren Frieden (Harvey 2007, S. 10).

Staatliche Wohlfahrtseinrichtungen im Gesundheitswesen, in der Sozialversicherung und im Bildungssystem wurden aufgebaut und in Schlüsselsektoren (Montanindustrie und Automobilbau) war sogar Staatseigentum nicht unüblich z.B. in Italien und Großbritannien. Die Nachkriegszeit zeichnete sich durch hohe Wirtschaftswachstumsraten aus, und Konjunkturschwankungen wurden durch eine mehr oder weniger keynesianisch inspirierte Fiskal- und Geldpolitik eingedämmt. Außerdem gewannen Gewerkschaften und Parteien der Arbeiterklasse in vielen Ländern einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Staatsapparat.

Allein, am Ende der 1960er Jahre brach das wohlfahrtsstaatliche Modell zusammen, weil in allen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern die Inflationsraten und die Arbeitslosenzahlen zu steigen begannen, ein Phänomen, das unter dem Namen Stagflation bekannt wurde. In der Folge sanken die Steuereinnahmen, während die Sozialausgaben stiegen, so dass z.B. Großbritannien Mitte der 1970er sogar vom Internationalen Währungsfonds gerettet werden musste. Es zeichnete sich im Lauf der 1970er Jahre ab, dass eine Alternative zum alten Modell gefunden werden musste. Zunächst versuchte man in einigen Industrieländern, den Problemen mit verstärkter Regulierung der Wirtschaft durch den Staat zu begegnen. Tatsächlich kamen linke Parteien mit einer solchen Programmatik in einer Reihe von Ländern an die Macht oder behielten sie, darunter Großbritannien, Frankreich, Portugal und Spanien. Selbst in den USA fuhr Präsident Nixon ein ähnliches Programm. Der Effekt war eine politische Polarisierung in zwei Lager. Auf der einen Seite waren diejenigen, die der Sozialdemokratie und staatlicher Planung nahestanden und den Befürwortern eines freien Marktes auf der anderen.

Als Sieger gingen schließlich letztere hervor. Doch erst mit dem Washington Consensus in den 1990er Jahren avancierte der Neoliberalismus gewissermaßen zur neuen Orthodoxie. Natürlich kann von keinem einheitlichen Phänomen der »Neoliberalisierung« gesprochen werden, weil sich dieser Prozess geographisch in sehr verschiedenen Auspräagungen Bahn brach (Harvey 2007, S. 11ff.).

Die Probleme des keynesianischen Wohlfahrtsstaates sorgten in Großbritannien dafür, dass mit dem Regierungsantritt von Margaret Thatcher 1979 eine sogenannte angebotsorientierte Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung der Stagflation in Angriff genommen wurde. Dies beinhaltete den Kampf gegen die Macht der Gewerkschaften, die Privatisierung öffentlicher Unternehmen einschließlich des sozialen Wohnungsbaus, den Abbau der Verpflichtungen des Wohlfahrtsstaates, Steuersenkungen und Verbesserungen des Investitionsklimas besonders für japanische Direktinvestitionen, sowie eine Politik der Preisniveaustabilität. Alle Formen von gesellschaftlicher Solidarität wurden aufgelöst zugunsten von Individualismus, Privateigentum, Eigenverantwortung und dem Wert der Familie (Harvey 2007, S. 22f.). Die Parallelen zu Hayeks Empfehlungen sind kaum übersehbar.

Die Profiteure der Thatcherschen Politik sind indes, nicht gleichzusetzen mit den traditionellen Eliten des Vereinigten Königreichs. In Militär, Rechts- und Bankwesen ging sie sogar gegen die aristokratisch dominierte Tradition vor und wandte sich den neuen Unternehmern zu, womit sie dem traditionalistischen Flügel ihrer eigenen konservativen Partei vor den Kopf stieß (Harvey 2007, S. 31).

Neben der Verschärfung sozialer Ungleichheit besteht ein weiteres verallgemeinerbares Charakteristikum neoliberaler Politiken in der Verschiebung der wirtschaftlichen Macht von der Produktion zu den Finanzm¨arkten. Diese Machtverschiebung war eine Folge der Deregulierung des Finanzsektors (Harvey 2007, S. 33).

Der Erfolg Thatchers bei den Wahlen am Ende 1970er Jahre kann freilich nicht erklärt werden, ohne die Dämonologie der New Right zu berücksichtigen, deren Dämon wie bei Hayek selbstverständlich der real existierende Sozialismus war (Barker 1997, S. 248). Trotzdem scheint die Restaurierung einer Klassengesellschaft, die die ökonomische Macht einer kleinen Elite überantwortet, als politisches Ziel nicht unbedingt geeignet, um auf demokratischem Weg eine Mehrheit zu erringen (Harvey 2007, S. 40). Zum Dämon im Ostblock mussten folglich noch andere Aspekte eine Rolle spielen, um den demokratischen Machtwechsel zu bewerkstelligen.

Die Erklärung allein dem Wirken des neoliberalen Intellektuellennetzwerks um Hayek u.a. zuzuschreiben, läuft Gefahr in einen verschwörungstheoretischen Ansatz zu münden. Die gegensätzliche Erklärungsmöglichkeit käme der Behauptung gleich, dass jede ökonomische Theorie nur Ausdruck einer ökonomischen Wirklichkeit ist, was aber den Einfluss der neoliberalen Denker unterschätzen würde (Girkinger 2005, S. 138).

Hayek selbst beklagte 1949, dass es der eigenen Bewegung an einer großen Intellektuellenfigur mangele, weil in den Medien die Sozialisten das Wort hatten. Anders gewendet, bedauerte er, dass es bislang nicht gelungen war, den sozialen Diskurs zu bestimmen. Damit lag Hayek den Gedanken Gramscis gar nicht einmal fern, der davon ausging, dass gesellschaftliche Hegemonie dadurch erreicht wird, dass das Selbstverständnis der Masse mit dem der herrschenden Klasse in Übereinstimmung gebracht wird (Girkinger 2005, S. 140).

Die Vermarktung von Thatchers Politik funktionierte indessen hervorragend, obwohl sie ihren neoliberalen Kurs bei weitem nicht konsequent einhielt, herrschte in der Bevölkerung das Bild eines von sozialistischen Umtrieben befreiten und vom freien Markt regierten Großbritanniens vor (Girkinger 2005, S. 141f.). Die neoliberale Freiheitsrhetorik war im Übrigen auch anschlussfähig an die sozialen Bewegungen von 1968, in denen es neben sozialer Gerechtigkeit auch um größere persönliche Freiheiten gegangen war. Sie wandten sich damit gegen einen als aufdringlich empfundenen Staat (Harvey 2007, S. 42f.). Wie aber sah die politische Einflussnahme der neoliberalen Denker aus?

Im Prinzip folgten sie Hayeks Überlegungen zum Primat der Ideen, die sie durch die Gründung von privat finanzierten Instituten, auch bekannt unter dem Namen »Think Tanks« zu verändern trachteten. Die »Mutter« dieser Think Tanks ist die 1947 ins Leben gerufene Mont Pelerin Society (MPS), benannt nach ihrem schweizer Gründungsort. Viele Mitglieder der MPS gründeten später eigene Think Tanks (Girkinger 2005, S. 142f.), wie das von Antony Fisher in der Mitte der 1950er Jahre auf Anraten von Hayek gestiftete Institute of Economic Affairs (Butler 1983, S. 12). Bezeichnend für das Selbstverständnis dieser Einrichtungen ist das folgende Zitat des Direktors des Adam Smith Institutes9 von 1987: »Wir schlagen Dinge vor, die von den Leuten als reiner Wahnsinn angesehen werden. Und im Handumdrehen werden sie Regierungspolitik.«“ (zitiert nach, Girkinger 2005, S. 145).

Neoliberale Think Tanks gibt es nicht nur im angelsächsischen Raum. So trugen das Carl Menger Institut in Wien und das Walter Eucken Institut in Freiburg dazu bei, Hayeks Ideen auch im deutschsprachigen Raum zu verbreiten. Ein großer Anhänger Hayeks war bspw. der rechtskonservative Kanzlerkandidat jener Jahre Franz Joseph Strauß, während die FDP in Hayeks Augen durch ihre Koalition mit der SPD eigentlich eine sozialistische Partei geworden war (Girkinger 2005, S. 145). Die neoliberalen Intellektuellen taten durchaus etwas dafür, den wirtschaftspolitischen Konsens der Nachkriegsära nach und nach umzupolen. Aufgrund von historisch günstigen Umständen und finanzieller Unterstützung von Geschäftsleuten erlangte diese Denkrichtung schließlich gramscianisch gesprochen die Hegemonie.

Von Hayek inspirierte Ideen sind nicht nur vereinbar mit rechskonservativen Parteien wie Franz Joseph Strauß’ CSU, sondern auch mit sogenannten rechtspopulistischen Parteien wie dem Front National in Frankreich sowie der Österreichischen FPÖ u.ä.. Das evolutionäre Denkmuster in Hayeks Theorie deuten die Rechtspopulisten in ihrem Sinne um, indem der höhere Entwicklungsstand der Industrieländer im Gegensatz zu den Entwicklungsländern als Resultat der Evolution interpretiert wird (Schui und Blankenburg 2002, S. 168f.). Die Antwort Hayeks auf die Forderungen der Entwicklungsländer nach einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung belegt, dass er nicht umsonst im rechtspopulistischen eine hohe Wertschätzung genießt:

Für eine Welt, die auf egalitäre Ideen gegründet ist, ist das Problem der Überbevölkerung [...] unlösbar. Wenn wir garantieren, dass jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu erfüllen. Gegen diese Überbevölkerung gibt es nur eine Bremse, nämlich daß sich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können. (zitiert nach, Ptak 2008, S. 73).

Doch nicht nur im rechtsextremem Spektrum machte sich neoliberales Gedankengut breit, auch bei dem nach dem Ende der konservativen Ära unter Thatcher, Kohl und Reagan propagierten »dritten Weg« repräsentiert durch Blair, Schröder und Clinton handelt es sich nicht um eine Abkehr vom einmal eingeschlagenen Weg (Schui und Blankenburg 2002, S. 173). Ihre politischen Programme verwendeten zwar ein neues Vokabular, aber der vemeintliche »dritte Weg« lässt eine verwandte Dämonisierung des Wohlfahrtsstaates als »soziale Hängematte« und Marktgläubigkeit vor allem bezogen auf den Arbeitsmarkt erkennen wie ihre konservativen Vorgänger (Schui und Blankenburg 2002, S. 174f.). Die politischen Akteure des »dritten Weges« taten vielmehr das ihrige, um die Umsetzung der neoliberalen Gesellschaftsvorstellungen weiter voranzutreiben (Schui und Blankenburg 2002, S. 178). Es ist sehr gut möglich, dass dies nicht nur ihrer ideologischen Ausrichtung geschuldet ist, sondern auch dem Umstand, dass die Machtverschiebungen zugunsten der Finanzwirtschaft während der Zeit davor den Handlungsspielraum der Politik schon stark eingegrenzt hatten. Eine Wirtschaftspolitik unabhängig von den Interessen internationaler Rentiers und Konzerne, so hat es den Anschein, lässt die hohe Mobilität und das enorme Volumen des internationalen Finanzkapitals kaum noch zu.

Ein Schlaglicht auf die Reichweite der wirtschaftlichen Machtkonzentration wirft die Debatte um stakeholding während der Regierungszeit Tony Blairs im Vereinigten Königreich. Stakeholder bzw. stakeholding ist ein in Anlehnung an shareholder gebildeter Begriff, der das Mitspracherecht der von einer wirtschaftlichen Entscheidung Betroffenen impliziert. Die Regierung Blair versuchte durchaus stakeholding als politisches Gestaltungsprinzip einzuführen, scheiterte aber am Widerstand der Wirtschaft (Schui und Blankenburg 2002, S. 176f.).

Die folgenden Ausführungen befassen sich exemplarisch mit Auswirkungen der neoliberalen Politik in westlichen Industrieländern. Die angeführten Beispiele dienen zur Illustration der Reichweite der von dieser Denkrichtung getragenen Restrukturierungen. Keinesfalls kann hier eine umfassende Analyse geleistet werden.

So waren die Hartz-Gesetze im Rahmen der »Agenda 2010« ab dem Jahr 2002 eine der einschneidendsten sozialpolitischen Veränderungen in Deutschland, (Butterwegge 2008, S. 174f.), deren Einführung zuvor mit viel meinungsbildender Public-Relations-Arbeit vorbereitet worden war (Butterwegge 2008, S. 172f.). Der Wohlfahrtsstaat wurde im Zuge dieser Politik umgebaut zu einem Wettbewerbsstaat, der nach außen auf die Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandortes achtet und nach innen das Wettbewerbsprinzip auf seine Organisationsstrukturen überträgt (Butterwegge 2008, S. 176). Auch hier ist es nicht schwer, eine Parallele zur spontanen Ordnung zu ziehen.

Unter dem Schlagwort »aktivierender Sozialstaat« wurden Leistungskürzungen und Anspruchsvoraussetzungen seitens der Bürokratie gerechtfertigt. Zwar darf sich Sozialpolitik nicht auf die Überweisung eines entsprechenden Betrages zur Bestreitung des Lebensunterhalts beschränken, sondern muss sich schon um die Integration von Arbeitslosen kümmern etwa mit Weiterbildungsmaßnahmen (Butterwegge 2008, S. 185). Doch darum ging es bei der Hartz-Gesetzgebung gar nicht, denn Weiterbildungsmaßnahmen sind gekürzt worden. Ihr Ziel war es stattdessen, von einem unbedingten Recht auf existenzielle Grundsicherung Abstand zu nehmen, um es an Bedingungen des Staates und seine Organe zu knüpfen. Obgleich den meisten klar sein müsste, dass Millionen Arbeitsplätze fehlen, tut man so, als seien die Arbeitslosen selbst schuld.

Während die Leistungen des Staates im sozialen Bereich im weiter gekürzt werden, steigen andererseits die Ausgaben für den staatlichen Repressionsapparat (Butterwegge 2008, S. 186ff.). Dies ist eine eigentlich logische Konsequenz der Reformpolitik, weil sie immer mehr »Abgehängte« hervorbringt, wobei sich eine relativ kleine Zahl von Menschen bereichern kann. Dadurch kommt es zu Verrohungserscheinungen in der Bevölkerung gegenüber Zuwanderern, Arbeitslosen und Behinderten, die sich oft dem Vorwurf des »Sozialschmarotzers« ausgesetzt sehen. Hieran können rechtspopulistische Parteien anknüpfen und so das Denken von Millionen beeinflussen, ohne dass ihnen spektakuläre Wahlerfolge beschieden sein müssen (Butterwegge 2008, S. 212).

Mit dem Auseinanderklaffen von Arm und Reich kommt auf regionaler Ebene ein sich verstärkender Prozess der Aufteilung zwischen wirtschaftlichen Zentren und Randregionen in Gang. In den Zentren entsteht nach und nach eine räumliche Trennung zwischen gut bewachten Quartieren für Wohlhabende und Slums für die wachsende Unterschicht. Durch die Deregulierung des Wohnungsmarktes in Berlin etwa spiegelt sich die Kluft zwischen Arm und Reich immer mehr in der sozialräumlichen Struktur der Stadt wider (Butterwegge 2008, S. 212ff.). Es entstehen in gewissem Sinn »Räume der Verlierer« und »Räume der Gewinner«, die keine Verbindung mehr miteinander haben (Butterwegge 2008, S. 215).

Die wachsende Armut wird oft auch von den Betroffenen selbst als individuelles Problem wahrgenommen, sondern individuellem Verschulden wegen Ungeschicklichkeit im Marktspiel zugeordnet. Daher muss das Individuum arbeitsmarkttauglich gemacht werden. Konkurrenzfähigkeit wird somit zum Kern der individuellen Lebensgestaltung und es entwickelt sich eine Art »hedonistisch-konsumistischer Sozialdarwinismus«, der ethnische Ausgrenzungsbemühungen gerade unter Jugendlichen stützt. Diese Reaktionsformen sind keineswegs eingegrenzt auf armutgefährdete Schichten, sie schlagen sich auch in den »höheren Etagen« in einer Überbetonung von Sekundärtugenden, biedermeierlichen Moralvorstellungen und patriotischen Gefühlsregungen nieder (Butterwegge 2008, S. 216ff.).

Die schon angesprochene Privatisierungspolitik der Regierung Thatcher, die damit eine Vorreiterrolle in Europa einnnahm, wurde mit dem Versprechen der Budgetsanierung und der größeren Effizienz privater Unternehmen unternommen. Die Verschuldung der öffentlichen Hand ging hingegen nicht wesentlich zurück, nahm sogar weiter zu und die Behauptung, dass die Privatwirtschaft besser wirtschaftet, hat sich als unhaltbar erwiesen. So häuften sich nach der Privatisierung der britischen Eisenbahn Verspätungen und Unfälle, wobei Wartungsarbieten an der Infrastruktur vernachlässig wurden. Gleichzeitig stiegen die Preise für die Bahnkunden.

Neben dem Verkauf von öffentlichem Eigentum kam in England unter Tony Blair das Konstrukt der Public Private Partnership auf. Dieses sieht vor, dass der Staat statt der herkömmlichen Auftragsausschreibung außer dem Bau z.B. eines neuen Schulgebäudes auch Planung, Finanzierung und Betrieb desselben an einen Investor vergibt. Die öffentliche Hand zahlt dem Investor über 20–35 Jahre hinweg ein periodisches Entgelt. In die Praxis umgesetzt kam es in Großbritannien zu Klagen über schlechte Bausubstanz, schlechte Wartung und schlechtem Service. Diese drangen aber nur sehr selten in die Massenmedien der Staaten vor, die Englands Vorbild folgen (Rügemer 2008, S. 264f.).

Abschließend sei noch der Fall Neuseelands mit Blick auf das Bildungssystem erwähnt, der in den 1990er Jahren als Paradebeispiel der neoliberalen Reformagenda gepriesen wurde. Dort wurde in den späten 1980er Jahren auf ein kundenorientiertes Bildungssystem umgestellt, das im Bereich der Schulbildung desaströse soziale Effekte hatte und im Hochschulbereich die Wissenskultur des Landes aushöhlte (Peters 2011, S. 100ff.). Die Schulpolitik verschärfte die soziale Ungleichheit, weil wohlhabendere Eltern ihre Kinder zu besseren Schulen schicken konnten und die Kinder der Ärmeren sich in den schlechteren wiederfanden (Peters 2011, S. 114). An den Hochschulen war in der Anfangszeit, zwar eine massive Zunahme an Studenten zu verzeichnen, doch nahm sie am Ende der 1990er schon wieder ab. Die Hochschulreform bedeutete eine Verringerung der Stellenzahl. Die Finanzierung über Studiengebühren ging über zu einem Wettbewerb um Studiengebühren und Fondsmittel, wodurch einige Fachbereiche ganz geschlossen werden mussten (Peters 2011, S. 115f.).

Nun kann man sich die Frage stellen, ob die sogenannte Finanzkrise nicht einen beachtlichen Einschnitt für die Hegemonie des Neoliberalismus bedeuten müsste. Doch die Mächte, die sich hinter dem Projekt verbergen, sind so gefestigt, dass ihnen selbst aus der Finanzkrise keine nennenswerte Bedrohung mehr erwachsen konnte, so sieht es zumindest Crouch (Crouch 2011, S. 246). In den westlichen Demokratien sind die bestimmenden politischen Kräfte im Prinzip immer noch dem Marktdogma verpflichtet, so dass politische Zukunftsentwürfe mit einer marktorientierten Prognose legitimiert werden müssen. Selbst die Wissenschaften geraten in den Sog eines Ökonomisierungsprozesses hinein, der kritische Stimmen in der Wissenschaft zunehmend unterdrückt (Nordmann 2005, S. 315). 


 

4 Schlussbetrachtung

Die Diskussion der Schwierigkeiten in Hayeks Theorie förderte gravierende Unklarheiten zutage, die selbst Sympathisanten wie Richardson augenscheinlich verwirren. Da mit ihr offensichtlich politische Absichten legitimiert werden sollten, drängt sich der Verdacht auf, dass es Hayek mehr um die politische Wirksamkeit ging als um eine konsistente Theorie. Außerdem enthält das Gesellschaftsbild Hayeks viele Einseitigkeiten, was der Abschnitt darüber offenbarte.

Es ist zwar durchaus vorstellbar, dass man die gröbsten Ungereimtheiten ausräumen kann, um eine stimmigere Theorie zu erhalten. Seit den 1960er Jahren scheint allerdings kein neoliberaler Denker mehr, Schritte unternommen zu haben, eine neue Großtheorie aufzustellen (Nordmann 2008, S. 127). Dieser Befund kann jedoch nicht verwundern, denn wie die politische Erörterung zeigte, war der Neoliberalismus so erfolgreich, dass das neoliberale Denken sogar bis in den Alltagsverstand der Menschen hinein reicht.

Oben wurde schon angemerkt, dass die Gesellschaftskonzeption Hayeks gegen auf empirischen Analysen fußende Kritik immunisiert ist. Eine darauf basierende Politik verspricht aber deshalb nichts konkretes, bewirkt aber soziale Verwerfungen, befördert Fremdenfeindlichkeit und Ghettobildung. Kurz, sie gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Zudem kann man innerhalb dieses Paradigmas nicht in grundsätzlichen Alternativen denken, weil möglichst alles dem sich selbst organisierenden Markt überlassen bleiben soll. Deswegen wurden die schon seit den 1970er Jahren bestehenden Probleme globalen Ausmaßes wie Armut in den Entwicklungsländern, Umwelt, Rohstoffknappheit, Gesundheit etc. nicht gelöst, sondern ihnen höchstens mit der Einrichtung von Märkten entgegengetreten (Nordmann 2008, S. 129).

Zwar gewinnt im innerliberalen Diskurs die Stärkung wohlfahrtsstaatlicher Elemente wieder an Gewicht, doch sollte nicht vergessen werden, dass der Erfolg des Neoliberalismus auf den Schwierigkeiten beruhte, die der Wohlfahrtsstaat in den 1970er Jahren selbst hervorbrachte (Nordmann 2005, S. 317ff.). Mit den wohlfahrtsstaatlichen Methoden einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik hätte es weiterer Eingriffe in die unternehmerische Autonomie hinsichtlich der Preissetzung und Investitionen bedurft, um die Inflation einzudämmen (Schui und Blankenburg 2002, S. 55f.). Dies wäre aber einer Ausweitung der Kompetenzen eines ohnehin schon als aufdringlich empfundenen Staatswesens von oben herab gleichgekommen, weswegen dieser Ansatz schließlich unterlegen war. Auch wenn er sich durchgesetzt hätte, ist fraglich, ob er zur Lösung der oben angesprochenen globalen Probleme hätte beitragen können.

Daher kann man Nordmann zustimmen, dass der Neoliberalismus nur überwunden werden kann, wenn man auch die mikroökonomischen Handlungsmuster verändert, womit sinnvolle sozialstaatliche Reformen nicht ausgeschlossen werden sollen (Nordmann 2005, S. 318ff.). So sind im Gegensatz zu Hayeks Beschwörung des freien Unternehmertums basisdemokratisch geführte Kooperativen sehr wohl unter Konkurrenzbedingungen überlebensfähig.

Der Industriegenossenschaftsverband Mondragön mit ca. 70.000 Mitarbeitern (Stand 2006) im Baskenland kann als Beleg dafür angesehen werden (Sturmberger 2006). Ganz aktuell weist die baskische Region, in der die meisten Kooperativen ihren Sitz haben, sogar die niedrigste Arbeitslosenquote Spaniens auf (Streck 2011). 


 

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Quelle: http://www.mythos-magazin.de

Bildquelle: Friedrich August von Hayek, 27th January 1981, the 50th Anniversary of his first lecture at LSE, 1981. Foto: LSE Library. Quelle: Flickr. Keine bekannten Urheberrechtseinschränkungen. Auch bei Wikimedia Commons bestehen für dieses Foto keine Einschränkungen.