Heimsuchung

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Wolfgang Blaschka
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Verbunden: 09.11.2010 - 02:16
Heimsuchung
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Heimsuchung


Eines Abends im Januar komme ich nach Hause. Im Hausgang stehen vier Männer, die in irgendwelche Unterlagen vertieft scheinen und mich demonstrativ nicht zur Kenntnis nehmen. Ich vermute in ihnen Leute von der Baubehörde oder Architekten, da zu jener Zeit das Dachgeschoss ausgebaut und das Haus zur Baustelle geworden ist. Kaum bin ich in der Wohnung und habe den Mantel ausgezogen, klingelt es an der Wohnungstür. Vier Dienstausweise der Polizei werden mir entgegengestreckt wie in einer Gerhard-Seyfried-Karikatur. Sie seien vom K 114 und müssten meine Wohnung durchsuchen. Der Vorwurf: Ich würde Broschüren verbreiten, in denen zu Straftaten (nämlich zur Erstürmung des Tagungsgeländes in Heiligendamm) aufgerufen würde. Starke Anschuldigung, da bin ich doch verdutzt, denn ich hatte bis dahin nur von geplanten Blockaden gehört. Ich frage nach einem richterlichen Beschluss. Haben sie keinen, bräuchten sie auch nicht, da „Gefahr in Verzug“ sei.

Da macht es wenig Sinn, vor solch staatsgewaltiger Viererbande die Tür zuzuknallen, zumal sie den Fuß schon drin haben. Sie würden sie auch umstandslos aufbrechen oder notfalls von einer stürmenden Antiterroreinheit durchsieben lassen. Also frage ich, worum es denn ginge, und sie zeigen mir eine Kopie der Titelseite des inkriminierten Druckwerks, ob ich denn davon Exemplare im Besitz hätte. Ich erinnere mich, eines dieser Hefte gekauft, aber noch nicht gelesen zu haben. Um die Sache vermeintlich abzukürzen, greife ich zielsicher in den Stapel mit den neuesten Publikationen und händige ihnen das „Corpus Delicti“ aus. Während ich dem Leiter der Durchsuchungsaktion noch verdeutlichen will, dass ich weder mit dem Inhalt, mit der Herstellung noch mit dem Vertrieb irgend etwas zu tun habe, schwärmen die drei restlichen Herren in die verschiedenen Zimmer meiner Wohnung aus, fotografieren alles, was sie als relevant oder interessant erachten (auch mich natürlich) und beginnen in persönlichen Papieren zu wühlen, Bettdecken zurückzuschlagen, Plakate zu sortieren, Tische zu rücken und unter Regalen zu fingern. Ich kann sie kaum im Blick behalten. Sie geben sich zwar Mühe, nicht mutwillig zu randalieren, aber ein besonders korpulenter Beamter eckt immer wieder an Zeitungs- oder Bücherstapeln an und schiebt sie mit seinem Hintern im Umdrehen zu Boden. Ein Aluminiumkoffer hat es ihm besonders angetan, da er ungewöhnlich schwer ist. Ich versichere ihm, dass da ein Overhead-Projektor drin sei, aber ich soll das Ding dann doch lieber selber öffnen. Er tritt dabei halb hinter den Türstock, falls eine Bombe explodieren sollte. Die Anforderung eines Sprengkommandos kann unterbleiben. Klick-klack-schnapp, ein Overheadprojektor.

Alle tragen Einmal-Handschuhe, und einer hält ein Plastiktütchen bereit. Wahrscheinlich hat er vom Kopfkissen eine Haarprobe genommen oder ein Hautpartikel eingesammelt. Mich erinnert das irgendwie an die Geruchsproben-Fläschchen, wie sie die Stasi gehortet haben soll, und von denen Schäuble heute träumt. Ich rede zwar mit den Staatsschützern, mache aber zur Sache keine weiteren Angaben. Sie revanchieren sich mit formeller Korrektheit, entschuldigen sich lapidar, wenn ein Stapel krachend umstürzt. So zivilisiert gibt man sich rechtsstaatlicherseits, unterschwellig andeutend, dass man jederzeit auch anders könne. Proteste meinerseits werden kühl zur Kenntnis genommen, bewirken aber nichts. Ich könne mich gegebenenfalls im Nachhinein beschweren.

Nach einer endlos empfundenen Stunde scheint die Prozedur zu Ende zu gehen. Sie haben nichts gefunden außer unserem eigenen Material zum Protest gegen die anstehende NATO-Sicherheitskonferenz im Februar, aber das interessiert sie überhaupt nicht, obwohl sich auch darin ein Artikel zum G8-Gipfel befindet, ebenfalls mit einer Ankündigung von Blockaden. Sie haben es ausschließlich auf die Broschüre von den Autonomen abgesehen, in der anscheinend ein falsches Impressum angegeben ist. Als würde das irgendwen vor Repression schützen, ganz im Gegenteil. Es ist ein günstiger Vorwand für die Staatsgewalt, auch jenseits dieses Spektrums zu schnüffeln.

Ich solle nun mit hinunter kommen ins Auto zur Vernehmung. Ich frage, ob ich denn verhaftet oder festgenommen sei, ansonsten würde ich nicht mitgehen und ohnehin nichts aussagen. Sie verneinen, meinen aber, sie müssten mir noch ein Sicherstellungsverzeichnis aushändigen, und das Formular dazu sei im Wagen. Dort soll ich mich dann entscheiden, ob ich die beschlagnahmte Broschüre komplett konfisziert oder zurück haben wolle, allerdings mit herausgetrennter Seite 21/22, auf der das angeblich strafwürdige Zitat vorkomme. Ich wähle also zwischen Totalverlust und Teilzensur und nehme das verstümmelte Heft zurück. Der Inhalt, dessen unterstellte Verbreitung mir zum Straftatbestands-Vorwurf gereicht, wird mir vorenthalten. Die entsprechenden Zeilen auf der herausgerissenen Seite, die einbehalten wird, sind schwarz markiert. Es ist kafkaesk. Nun halte ich den Beleg dafür in Händen, dass eine Zensur in Deutschland faktisch doch stattfindet, wenn auch ohne institutionalisierte Zensurbehörde und absolut grundgesetzwidrig. Das Blatt für die Beschuldigten-Vernehmung bleibt ankündigungsgemäß leer bis auf personenbezogene Pflichtangaben, und auch ohne meine Unterschrift. Dafür muss nun noch ein zweiter Polizist bestätigen, dass ich keine Aussage gemacht und meine Signatur verweigert habe. Inzwischen tut sich auf der Straße einiges.

Der Staatsanwalt ist eingetroffen mit weiteren drei Begleitern. Er möchte sich nun doch noch selbst ein Bildmachen. Ich erkläre ihm, dass die Beamten bereits hätten, wonach sie gesucht haben. Der Kriminalhauptkommissar bestätigt, dass ich ihm das sichergestellte Leseexemplar umgehend und freiwillig ausgehändigt habe. Den silberbebrillten jungdynamischen Staatsanwalt lässt das ungerührt. Er besteht auf einer nochmaligen Inspizierung meiner Räumlichkeiten. Er werfe mir mittlerweile nämlich noch einiges mehr vor: Ich stünde ab jetzt nicht nur im Verdacht, strafbare Inhalte verbreitet zu haben oder im Begriff zu sein, sie zu verbreiten (damit die Gefahr im Verzug nach wie vor als gegeben gelten könne), sondern mindestens Mitautor dieser Broschüre zu sein. Es gebe dafür Beweise und Zeugenaussagen. Meine Frage, wer solch unzutreffende Behauptungen aufstelle, will er freilich nicht beantworten, auch nicht, welcherart Beweise er für seine forsche Beschuldigung habe. Meinen Einwand, die behauptete Autorenschaft stelle ja wohl nach erfolgter Drucklegung keine Gefahr in Verzug mehr dar, und ob er denn inzwischen einen richterlichen Hausdurchsuchungsbefehl vorweisen könne, kontert er mit der Erwägung, wie viele LKWs und Polizisten man wohl benötige, um den gesamten Hausrat abzutransportieren. Angesichts des fortgeschrittenen Abends verzichte er allerdings darauf mangels verfügbarer Einsatzkräfte.

Stattdessen ordnet er die Beschlagnahmung meines Rechners und aller Datenträger an, die sich in der Wohnung befinden, einschließlich CDs. Umgehend wird mit dem Verpacken stapelweiser Disketten und CD-Roms begonnen, ausgenommen die Telefonbuch-CD. Diesmal werden deutlich größere Plastiksäcke benötigt als die kleinen Tatortspuren-Tütchen, die man aus Kriminalfilmen kennt. Den Computer darf ich selbst abkabeln. Telefonieren darf ich nicht. Der Staatsanwalt rauscht ab, vermutlich in den Feierabend. Die Polizisten exekutieren seine Anordnung auch ohne seine Anwesenheit. Danach folgt wiederum die Aufforderung mitzukommen. Angesichts der Materialfülle jetzt aber gleich ins Polizeipräsidium an der Ettstraße, direkt im Schatten des Doms „Zu Unserer Lieben Frau“ gelegen, dessen Haupteingang sich jedoch sinnfälligerweise gegenüber an der „Löwengrube“ befindet, ein riesiger Gebäudekomplex inmitten der Altstadt, verwittert grün gestrichen, als wäre es noch die Tarnfarbe aus dem Krieg. Dort wolle man mir das Sicherstellungsverzeichnis nach Durchsicht aller Datenträger ausfertigen. Selbstverständlich sei das freiwillig. Ich sage: Nur, wenn Sie mich anschließend wieder nach Hause fahren. Wer weiß, wie lange das dauert. Inzwischen ist es fast Mitternacht geworden. Bis dahin fährt wahrscheinlich keine U-Bahn mehr, nach eins. Sie sichern es mir zu, „weil Sie sich ja auch kooperativ verhalten haben“, und ich lasse mich darauf ein. Ein großer Fehler, wie sich noch herausstellen wird.

In der Amtsstube zunächst ein Wiedersehen mit meinen früheren Werken: Anti-Nazi-Plakate hängen wie Trophäen an den Wänden, vermutlich beschlagnahmt. „Gestaltung: Wob. – Das sind doch Sie, gell? Respekt! Gut gemacht“, versucht einer mein Namenskürzel zu enträtseln. Aber natürlich wissen die das, nach all den Jahren, und sie werden es jetzt auf meinen Disketten bestätigt finden. Genauso wie sie wissen, dass ich in die gerade beschlagnahmten Drucksache absolut nicht involviert bin. Einer gibt das auch zu: „Ich glaub das ja nicht, ehrlich gesagt, dass Sie damit was zu tun haben.“ Seine Kollegen nennen ihn Chipsy. Ein rundlicher, ruhiger Typ, der das mit dem Papierkram zu machen hat. Er tippt die Liste so langsam und umständlich, als hätte er den unausgesprochenen Auftrag Zeit zu schinden. Ein „guter Bulle“ trödelt, damit die andern umso ungestörter und effizienter agieren können.

Die machen sich derweil im Nebenzimmer schon mal über die Festplatte her wie über ein gefundenes Fressen. Das ausgeweidete Computergehäuse sieht erbarmungswürdig aus, und bekommt wie zum Hohn ein Etikett angeklebt mit Aktenzeichen, Datum, Fundort („Arbeitszimmer“) und Namen sowie Geburtsdatum des Besitzers. Dutzende 100-MB-Disketten werden in einen Karton verstaut, ebenso korrekt beschriftet. Das kostet Zeit, das bringt Überstunden. Sie haben es nicht eilig. Vermutlich bekommen sie am nächsten Tag dienstfrei, als Belobigung für den großen Fang, den sie heute gemacht haben. Wie ich inzwischen herausgehört habe, sind es eine ganze Reihe von Objekten in München, die sie parallel durchsucht haben, und ich bin das letzte. So komme ich mir auch selber vor inzwischen.

Obwohl ich „freiwillig“ hier bin, und also auch jederzeit gehen könnte, bitte ich um eine Zigarettenpause. Da sind plötzlich alle wieder im Raum und gehen mit mir raus auf den Gang, wo ein Stehaschenbecher vor dem geöffneten Fenster umlagert wird. Wieder ein Gefeilsche um meine Unterschrift unter das erstellte Verzeichnis, das eigentlich recht kurz gefasst wirkt, dafür, dass es so lange gebraucht hat; nur mit Art und Anzahl der beschlagnahmten Datenträger. „Unterschreiben Sie, dann können wir alle gehen. Wir fahren Sie auch nach Hause. Wir halten unser Wort.“ Ich überlege noch, welchen Sinn es machen sollte, diese „Schriftprobe“ zu verweigern, wo doch in meinem Personalausweis ohnehin meine digitalisierte Unterschrift prangt. Mehr kriegen sie damit auch nicht, als was sie bereits haben. Ich stimme also zu, um zu einem Ende zu kommen.

Das scheint das Signal zur finalen Offensive der Staatsgewalt: „Und wo Sie jetzt schon mal hier sind, machen wir gleich noch eine ID-Behandlung“. Wie bitte?! Was soll das jetzt? Ich bin doch eigentlich schon gar nicht mehr hier. „Nein, das machen wir nicht“, höre ich mich so selbstredend wie möglich kontern. „Doch, das machen wir.“ „Keinesfalls“. „Doch, doch.“ Ich bemühe mich um Sachlichkeit: „Sie wissen doch ganz genau, dass eine Identitätsmerkmal-Erfassung ausschließlich dann durchgeführt werden darf, wenn sie zur Aufklärung einer Straftat dient. Wozu soll das in diesem Falle nötig sein? Was beweisen meine Fingerabdrücke auf meiner eigenen Tastatur? Dass sie mir gehört oder zumindest, dass ich auf ihr getippt habe. Na und? Aber in den Dateien werden keine Fingerabdrücke zu finden sein, egal, ob die auf meinem PC oder auf einem andern erstellt wurden.“ Doch diese Logik verfängt nicht. „Sie vergessen die Verbreitung der Broschüren, da sind vielleicht welche von Ihnen drauf, die wir dann anderswo finden. Wir machen das.“ „Machen wir nicht“. „Auf jeden Fall“.

Es hat wenig Sinn, solches Pingpong mehr als zehnmal hin- und herzuklackern. Wir sind schon beim zwölften Mal. Immer nur zwischen mir und dem Chef der Truppe. Die andern stehen im Halbkreis und verfolgen genüsslich qualmend das Match. Ich erinnere mich, dass ich es gelegentlich eines früheren „Besuches“ in diesem Etablissement schon einmal geschafft habe, ein entsprechendes Ansinnen abzuwehren, ganz allein und ohne anwaltlichen Beistand, nur mit Standhaftigkeit. Der damals herbei zitierte Untersuchungsrichter musste einräumen, er könne mich jetzt nicht zwingen, aber ich müsse damit rechnen binnen vierzehn Tagen von der Polizei abgeholt und zwangsweise vorgeführt zu werden. Ist natürlich nicht passiert. Das werfe ich jetzt in die Debatte mit dem Hinweis, dass eine rechtswidrige ID-Behandlung umgehend gelöscht und er dafür zur Verantwortung gezogen würde.

„Wir machen das jetzt trotzdem“. Er scheint unbeeindruckt. „Sie werden sich dafür verantworten müssen“. Er lässt sich von nichts abhalten, auch nicht von eigener Verantwortung: „Gerne. Ich kann und ich werde es verantworten“. „Auch wenn es rechtswidrig ist?“ Er holt seinen Joker aus dem Ärmel: „Anordnung vom Staatsanwalt!“ Also doch keine Verantwortung, sondern Verschanzen hinter Anweisung von oben. Soll ich jetzt ethisch argumentieren, historisch-politisch-moralisch? Auch das perlt an ihm ab. Er verliert allmählich die Geduld. Die subalternen Ordnungskräfte haben fertig geraucht und scharren schon mit den Füßen. Hinter ihnen gähnt der triste Polizeigefängnishof im nächtlichen Neondämmerlicht, vergitterte Fenster gegenüber vor den Zellen. Jetzt nur keine Vergleiche mit der NS-Zeit, denke ich, das mögen sie erst recht nicht. Da ist schnell eine Beamtenbeleidigung beieinander. Das ganze mal vier. Wird teuer. Und eine ungemütliche Nacht. Bis zu 48 Stunden können sie dich hier festhalten, wenn du jetzt ausfällig wirst. Ich sage: „Dann lassen Sie doch den Staatsanwalt kommen und das selbst vertreten“. Er lächelt gequält mitleidig ob meines naiven Ansinnens: „Kommen Sie, lassen Sie es hinter uns bringen. Wir wollen doch alle nach Hause.“ Dabei muss er wohl neidisch an seinen Befehls- und Auftraggeber gedacht haben, dessen Erfüllungsgehilfe er nur ist. Immerhin hat er einiges von dessen Selbstherrlichkeit in sich aufgesogen, doch wirkt er angenehm kantig gegen diesen glatt gestylten Jungkarrieristen. Dieser profilierungssüchtige Schnösel liegt jetzt wahrscheinlich auf der Couch und berichtet seiner nackenmassierenden Partnerin stolz von seinem gelungenen Kriminalisierungs-Coup im Vorfeld des Gipfels, lange bevor seine Kollegen aus Hamburg und Berlin ähnliches werden berichten können. „Ist das Ihr letztes Wort?“, fragt der Oberkriminaler, als handle es sich um mindestens eine Hauptverhandlung oder gar eine Hinrichtung. „Ja“, sage ich im Brustton der Überzeugung, als würde die hier etwas nützen. „Ich verweigere eine ID-Behandlung.“

Er tritt tänzerisch einen Schritt zurück und federt mit dem Oberkörper kurz vor, als wolle er sich verbeugen: „Gut, dann machen wir es mit Gewalt.“ Ich sage: „Das machen Sie nicht“. Er entgegnet: „Sie werden sehen, das machen wir. Ich drohe Ihnen jetzt hiermit ganz formell die Anwendung unmittelbaren körperlichen Zwangs an“. – Ich sage: „Das wagen Sie nicht“, und er: „Schaun Sie, wir sind zu viert“. Dabei wird seine Stimme entwaffnend milde. Nun kommt Bewegung in die Gruppe. Der ganz Dicke erhebt sich gemütvoll von der Fensterbank, an der er bisher gelehnt hat. Ein Schrank mit der gleichmütigen Miene eines Möbelpackers. Der Halbdicke, den sie nur Chipsy nennen, lächelt aufmunternd und strafft seinen Oberkörper. Und auch der unscheinbar fahle und bisher stumme Hagere, der sich in meiner Wohnung als Digitalfotograf betätigt hat, nimmt Haltung an und verschränkt die Arme vor seiner schmächtigen Brust. Dem Chef entfährt ein triumphierendes „Na?“, und der ganz Dicke, der sich vorher noch entschuldigt hat ob seiner umwerfenden Körperfülle, raunt mir wohlmeinend, beinahe fürsorglich zu: „Tun Sie sich das doch nicht an, Herr Blaschka.“ Natürlich entgegne ich noch einiges, und weiß gar nicht mehr, was. Ich höre den Schmächtigen: „Je mehr Sie sich wehren, desto mehr tut’s weh“, und den Halbdicken: „Wir täten’s nur ungern, glaub’n S’ es mir“ und den ganz Dicken: „Jetzt machen Sie’s uns und sich doch ned so schwer“ und schließlich den Dienststellenleiter: „Und? Wie mach ma’s jetzt? Wir kriegen Sie, so oder so.“ Und dann wieder den Schmächtigen „Kommen S’, des hat doch keinen Sinn. Machen S’ keine Umständ’“ und den ganz Dicken: „Pack ma’s“ und den Halbdicken: „Leist’n S’ keinen Widerstand“. Und schließlich den Chef: „Des könnt’ unangenehm werden und teuer“. Das klingt angesichts meiner Lage noch am rationalsten und überzeugt in gewisser Weise.

Zu den Blessuren, die mir die Gewalttäter mit der Polizeimarke zufügen würden, käme einen Monat später eventuell noch eine Strafanzeige wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, gestützt von vier gut abgesprochenen Zeugen, gegen deren Aussagen auch ein ärztliches Attest versagen dürfte, wenn sie behaupten, ich hätte mich leider so dumm gewehrt, dass ihre Griffe eben Spuren hinterlassen mussten, und ein dreiviertel Jahr später ein Strafantrag vor Gericht von eben jenem Staatsanwalt, der von der schmutzigen nächtlichen Arbeit auf dem Präsidium natürlich nichts ahnen gekonnt haben würde, auch wenn er sie tatsächlich angeordnet haben mag. Körperlich habe ich keine Chance, wenn sie erst Hand anlegen. Ich kenne ihre Kniffe und Griffe, die einen unwillkürlich einknicken lassen. Es hat nichts mit mangelnder Stärke zu tun, ihnen nicht widerstehen zu können, es ist reflexhaft unmöglich. Flucht ist aus dieser Höhle des Löwen ebensowenig möglich, zu argumentieren habe ich ausgiebig vergeblich versucht. Also sage ich, möglichst ohne heroisches Pathos, aber dennoch zitabel: „Ich beuge mich unter Protest der Gewalt“. Mehr ist unter den gegebenen Umständen einfach nicht drin. „Sehr vernünftig!“ und „Gute Entscheidung“ murmeln die beiden übergewichtigen gewerbsmäßig Gewaltbereiten, worauf der Schmächtige mault: „Warum denn nicht gleich so, des hätt’ ma doch vor ara halb’n Stund’ auch scho hab’n können“. Er scheint fast ein wenig enttäuscht ob des langen Aufwands. „Also, führt’s ‘n nunter“, bescheidet der kommissarische Hauptinhaber der Staatsgewalt, und ordnet ihn und den ganz Dicken ab mich ins Erdgeschoss zu eskortieren zur Erkennungsdienstlichen Behandlung. Ohne Handschellen, allerdings nur solange ich keinen Widerstand an den Tag legen würde (bzw. an die Nacht). Chipsy hat oben noch zu tun.

Der Kriminaldauerdienst ist rund um die Uhr im Einsatz. Daten-Junkies geben auch nachts keine Ruhe. Warten auf dem Gang. Irgendein Besoffener ist auch hier gelandet als nächtliches Strandgut, gefesselt und ziemlich malträtiert, und wird von Lederjacken-Streifenhörnchen bewacht. Ich nutze die Zeit, auf meine Begleiter agitatorisch einzuwirken, ihnen klarzumachen, dass sie, wo immer sie rechtswidrig handeln, nicht besser sind als jene, die sie meinen jagen zu müssen, im Gegenteil: mieser als jeder noch so verabscheuungswürdige Delinquent, weil sie unter Ausnutzung ihrer Dienststellung Verbrechen begehen, also quasi als staatlich lizensierte und paramilitärisch organisierte Bande (miss-)handeln, gewerbsmäßig und gewohnheitsmäßig wie eine kriminelle Vereinigung. Der Schmächtige scheint angefressen. Ich weiß nicht, ob von Zweifeln. Er scheint intellektuell nicht ganz auf der Höhe und wirkt müde, möchte einfach nur heim. Er wiegt immer nur bedächtig sein Haupt. Der ganz Dicke scheint ins Grübeln zu kommen und verteidigt sich mit dem Hinweis auf die Anordnungen der Staatsanwaltschaft. Nun kommen wir doch noch auf die Nazizeit zu sprechen, und darauf, dass vieles von dem, was im Bayerischen Innenministerium geplant und ausgeheckt wird und von seiner Politischen Polizei, also dem Staatsschutz, exekutiert wird, weder rechtens ist noch rechtsstaatlich, – es sei denn, man wolle Rechtsstaatlichkeit als Gegensatz zu Linksstaatlichkeit auffassen und mit Bindestrich schreiben, also: Rechts-Staatlichkeit, wenn es zum Beispiel darum geht, Nazi-Aufmärsche vor Antifaschisten zu schützen und gegen Linke vorzugehen. Man könne allein schon daran feststellen, wie haltlos und rein politisch motiviert das Gros der Anschuldigungen gegen Linke ist, dass die allermeisten Maßnahmen von Polizei und Staatsanwaltschaft einer gerichtlichen Nachprüfung nicht standhalten, etwa die willkürlichen Platzverweise bei Demonstrationen, die Ingewahrsamnahmen, Hausdurchsuchungen oder der legendäre Polizeikessel von 1992, der, weil unrechtmäßig, allen Eingekesselten 300.–DM Schadensersatz eingebracht und der Staatsregierung eine herbe Schlappe eingetragen hat. Und 97% aller Ermittlungsverfahren wegen § 129 a (Bildung einer kriminellen Vereinigung) müssen eingestellt werden, oder sie werden vor Gericht niedergeschlagen, weil sie einfach nur so aus dem Hut gezaubert sind, um einzuschüchtern und zu kriminalisieren. Und das selbst bei einer rechtslastigen Justiz.

Nun bin ich dran. Ich kenne das Prozedere: Wiegen, Messen, Beschreibung der Körpermerkmale: Hautfarbe, Haarfarbe, Augenfarbe. Alles dasselbe wie damals, als ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit den bewaffneten Organen des Staates gemacht habe, weil ich bei der Räumung eines Gerichtssaales nicht als erster aufstehen wollte, und dummerweise in der ersten Reihe saß. Zu viert packten und zerrten sie mich hinaus, und ich war noch nicht demonstrationserfahren genug, mich nur still tragen zu lassen, sondern strampelte instinktiv, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Dabei soll ich einem Beamten in den Unterleib getreten haben, so dass er vierzehn Tage lang „dienstunfähig“ gewesen sein soll. Wenig glaubwürdig zwar, doch so wurde das vor Gericht amtsärztlich attestiert. Ein Schlag ins Gemächt tut für gewöhnlich akut höllisch weh, ist aber nach kurzem ausgestanden, oder aber der Mann wäre sein Leben lang (zumindest minne-)dienstuntauglich gewesen. Doch vierzehn Tage klang deutlich nach Kurzurlaub auf meine Kosten. Zum Glück ging das noch nach Jugendstrafrecht und war mit drei Wochenenden Einzelarrest abgegolten. Immerhin meine erste Knasterfahrung. Plus 100.– DM für die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, das weiß ich noch, weil ich als Oberlandtiroler den Namen so abseitig fand. Mittlerweile sollten die Karteien mit meinen Fingerabdrücken von anno dunnemal längst vernichtet sein, aber sicher kann ich das nicht wissen. Datenschutz galt gerade Anfang der 70er Jahre als überflüssiger Luxus. Dasselbe Lied wie heute, nur dass sie ganz neue Strophen dazu gedichtet haben. Becksteins Traum von der Verknüpfung aller Datenbanken treibt Blüten bis hin zu Trojanern. Die Begriffe werden blumiger, doch der Sicherheits- und Kontrollwahn bleibt derselbe wie zu Zeiten schlichter Rasterfahndung.

Heute vemisse ich den martialisch auf einem Podest montierten drehbaren Holzstuhl mit den Handfessel-Verankerungen an den Armlehnen, der aussah wie ein Hinrichtungsinstrument, wo ich frontal fotografiert und dann mit einem Hebel um 90 Grad herumgeruckelt werden konnte fürs Profil. Auf diesem Thron hatten auch schon die Geschwister Scholl Platz zu nehmen gehabt. Den gibt es nun nicht mehr. Vielleicht steht er eingemottet bereit fürs Museum. Irgendwann machen wir die ganze Löwengrube zum Museum, denke ich mir, zum Kriminalmuseum für die Untaten der Münchner Polizei, deren ehemaliger Präsident (Anfang der Zwanziger Jahre) Ernst Pöhner hieß, der sich als Putschhelfer 1923 ebenso wie dadurch einen republikfeindlichen Namen gemacht hatte, dass er die Namen von Anzeigeerstattern gegen illegale Waffendepots der offiziell verbotenen Einwohnerwehren direkt an die Organisation Consul übermittelte, die dann mit Fememorden solche Personen eliminierte.

Pöhner bekannte beim Hochverratsprozess gegen Hitler, Röhm, Kahr, Ludendorff & Co: „Es wäre für uns ein Leichtes gewesen, 1919/20 Herrn Hitler und seine Bewegung auszuschalten. Wir haben es nicht getan“. Denn die Politische Polizei unter Leitung von Wilhelm Frick, dem später mit dem Posten des NS-Reichsinnenministers belohnten Mitverschwörer der Nazis, war zu der Ansicht gelangt, dass diese geeignet waren, die „durch marxistische Thesen verseuchten Arbeiter“ wieder ins nationale Lager zurückzuführen. „Deshalb hielten wir unsere schützende Hand über die NSDAP und Herrn Hitler.“

Solcherlei Überlegungen gehen mir jetzt durch den Kopf, während meine Identität polizeilich dokumentiert und datentechnisch festzuhalten versucht wird. Wir haben heute keinen Frick in diesem Haus, aber doch zumindest jenen Oberstaatsanwalt Stern im Justizpalast, jene schützende Hand über den Neonazis, die hin und wieder auch Strafbefehle ausschreiben muss, aber nur, wenn es allzu offensichtlich kriminell wird mit deren Umtrieben. Dafür helfen heute Verfassungsschutz-Agenten einer Kameradschaft Süd bei der Beschaffung von Bomben- und Sprengmaterial, wie sich bei dem Prozess um den vereitelten Anschlag auf die Grundsteinlegung des jüdischen Gemeindezentrums herausstellte. Geschichte wiederholt sich nicht, es sei denn als Farce, wusste Karl Marx. Geblieben scheint eine signifikante Affinität mancher Law-and-Order-Repräsentanten zum äussersten rechten Rand. Selbst wenn dieser nicht aktuell benötigt wird, hegt man ihn wie unter Denkmalschutz gestellt für den Augenblick, da er wieder einmal instrumentalisiert werden kann. Wie zum Beispiel Anfang der 90er Jahre, als fast täglich irgendwo Asylantenunterkünfte und Ausländerwohnheime brannten. Anstatt die Pogrome mit der „harten Hand des Rechtsstaats“ zu unterbinden, die Nazis mit allen gebotenen polizeilichen Mitteln zu unterdrücken und die geistigen Brandstifter justiziell zur Rechenschaft zu ziehen, war die politische Konsequenz der Asyl-„Kompromiss“, also die faktische Abschaffung des Asylrechts, welches die Nazis so unverhohlen wie tatkräftig abzufackeln bemüht waren. Der Prozess gegen die Brandstifter von Rostock-Lichtenhagen hingegen schleppte sich über zehn Jahre, und manchmal wurde, wie in Lübeck damals dem Libanesen Sawfan Eid, den Opfern der Brandanschläge auch noch die Täterschaft in die Schuhe zu schieben versucht, obwohl die Neonazis mit frischen Brandspuren am Körper unweit des Tatorts bereits gefasst worden waren.

Nach der erschreckenden „Inder-Jagd“ in Mügeln verplapperte sich der Polizei-Einsatzleiter, als er in einer Pressekonferenz das beherzte Eingreifen seiner Ordnungsmacht herausstellen wollte: „Wir haben die Menge, die sich gegen die ausländischen Mitbürger zur Wehr setzte, zurückgedrängt, und so die Situation bereinigt.“ Ein Ost-Polizist, an dem der öfters beklagte staatlich verordnete Antifaschismus aus DDR-Zeiten spurlos vorübergegangen ist oder ein Westimport? Es ist schon beinahe unerheblich. Dass solch einer überhaupt im Staatsdienst ist, verwundert kaum noch angesichts eines Innenministers, der entführte Passagierflugzeuge lieber selbst abschießen lassen will, um Terroristen zuvor zu kommen, Terrorverdächtige umbringen oder vorsorglich einsperren lassen möchte, und eigentlich der mächtigste Verfassungsfeind im Lande ist. Keinem noch so finsteren Bösewicht könnte es gelingen, derartige Putschkraft gegen die Demokratie zu entwickeln wie dieser verhärmte alte Mann im Rollstuhl, der immer noch unangefochten im Kabinett sitzt, und eigentlich von Amts wegen die Verfassung zu verteidigen hätte statt ihre wesentlichen Rechtsgrundsätze über Bord zu werfen. Wie komme ich da nur auf Mao Tse Tung mit seinem Appell während der Kulturrevolution: „Bombardiert das Hauptquartier!“? Der Hauptfeind steht selten außen vor.

Diese Erkenntnis finde ich heute noch wertvoll, nicht nur gesellschaftlich betrachtet, sondern auch persönlich gesehen. Das war damals mit 17 noch anders. Überhaupt lange her, und die damalige Personenbeschreibung wäre wohl auch nicht mehr zutreffend. Manche Farben haben sich deutlich ins Grau verschoben. Nur die Augen bleiben braun. Inzwischen hat man technisch aufgerüstet. Ich sitze vor einer festeingestellten Videokamera und werde taxiert. Zwei junge Zivilbeamte beiderlei Geschlechts betätigen sich routiniert. Sie fragt und konstatiert, er tippt. Hin und wieder fragt er nach und hackt die Kategorisierungen in seine Tastatur. Sie tun es leidenschaftslos und ohne besonderen Nachdruck. Ich könnte ihnen auch was falsches erzählen, sie würden es aufnehmen. Vielleicht ein Muttermal auf dem linken Hoden, das ich gar nicht habe, – schon wäre ich für alle Zeiten unidentifizierbar und generell unschuldig. So jedenfalls versuche ich mich zu trösten, während meine informationelle Selbstbestimmung peu à peu zerpflückt wird. Die Unverletzlichkeit der Wohnung ist schon den Bach runter. Der Computer mit sämtlichen persönlichen Aufzeichnungen im Asservatenkammerl verstaut. Was einzig noch bleibt ist die Würde. Meine ganz private Entscheidung, im Innersten nicht zu kapitulieren ob der erdrückend objektivierten Ohnmacht.

Der Schmächtige sitzt teilnahmslos abseits und popelt in der Nase. Der ganz Dicke hat sich nach erfolgter Zettel-Übergabe zurückgezogen. Wahrscheinlich raucht er draußen im Flur. Nachdem alles durchgestanden ist, begleiten sie mich noch einmal aufs Dienstzimmer. Im Treppenhaus frage ich den ganz Dicken, ob er es denn getan hätte, ob er denn Gewalt angewendet hätte im Falle meiner Weigerung. Sein beschwichtigend halblautes Nein mag ich ihm bis heute nicht abnehmen, zu leicht gesagt im Nachhinein. Oder hätte ich höher pokern sollen? Immerhin halten sie ihr Versprechen und fahren mich mit ihrem Dienst-BMW nach Hause, in dem ich mich nun so gar nicht mehr geschützt weiß. Immer wenn ich die Haustüre aufsperre, ertappe ich mich beim sichernden Blick über die Schulter auf die gegenüberliegende Parkreihe, in der dieses Auto mit den vier Herren stand. Ich gebe zu, dass ein Erlebnis wie dieses etwas mit einem macht, selbst wenn man sich mental noch so dagegen feit. Es könnte einem Angst pflanzen selbst auf Nerven wie Drahtseile. Da hilft nur entspannen.

Neuerdings begrüßt mich der halbdicke Chipsy bei Demonstrationen mitfühlend beim Namen und erkundigt sich, wie es mir denn so gehe. Es tue ihm persönlich leid, und er habe ja schon immer an meine Unschuld geglaubt. Um so unglaublicher sein Verhalten eigentlich. Wissentlich rechtswidrig und gegen eigene Überzeugung gehandelt, eben auf Befehl. Welch verhängnisvolle deutsche Tradition! Nach zweieinhalb Monaten konnte ich meinen Computer wieder abholen, – Verfahren eingestellt. Inzwischen hatten mir die Autonomen, vielleicht aus Solidarität und aus schlechtem Gewissen, einen neuen besorgt, den ich nun behalte. So, und mit diesem Ding tippe ich jetzt solches Zeug. Monate später fand ich in einem Packen noch ungeöffneter Briefe einen Schrieb vom Polizeipräsidium, ich könne nun für jeden Tag Computer-Entzug 11.– Euro Ausfalls-Entschädigung beantragen, einzureichen bis ..., na die Frist war längst vorüber. Dumme Angewohnheit, meine Postbearbeitung so schleifen zu lassen. Ich hätte tatsächlich dringend was brauchen können, gerade zu jener Zeit. Das wäre noch eine echte Berufsalternative statt Hartz IV: Umschulen auf Staatsschutzopfer, besoldet nach Tagessätzen für „Unschuldig im Knast gesessen“ oder „Irrtümlich verurteilt zu Geldstrafen“, die man eh nicht bezahlen könnte. Da die Todesstrafe abgeschafft ist, kann es zumindest nicht passieren, dass man postum entschädigt wird für „Aus Versehen hingerichtet“. Aber wer weiß! Schäuble plant noch so manches Gesetz, wie zum Beispiel den im Bayerischen Polizeiaufgabengesetz ohnehin verankerten präventiven Todesschuss, der 1979 noch als „Putativnotwehr“ daherkommt (also wenn ein Polizist meint, lebensgefährlich bedroht zu sein), bald schon aber zur Terroristenabwehr ausgeweitet werden könnte. In Zeiten des Terrorkrieges scheint alles möglich – von der Abschaffung, zumindest Aushöhlung des Rechtsgrundsatzes der Unschuldsvermutung bis hin zur extralegalen Tötung. Ginge es nach den Träumen des alten, bösen Mannes im Rollstuhl, würde derartig Abartiges zum Gesetz. So jedenfalls schwadronierte er im Sommerloch-Interview, der Innenminister. Der Mann gehörte nicht ins Kabinett, sondern in psychiatrische Nachbehandlung.

Das Erschreckende in meinem kleinen Fall kam ein paar Wochen später. In Erwiderung auf meine Beschwerde gegen die rechtswidrige Polizeiaktion kam der Ablehnungsschrieb einer Richterin. Angesichts der Fülle beschlagnahmten Materials an diesem Tag (über 11 Objekte waren durchsucht worden) sei es er Polizei nicht zuzumuten gewesen, im Einzelnen einen konkreten Anfangsverdacht gegen mich zu formulieren, daher sei die Beschlagnahme auf gut Glück durchaus rechtens gewesen. Das war noch vor Einstellung des Verfahrens gegen mich.

Diese Logik ist freilich frappierend: Der Staat muss nur massenhaft „Beweismittel“ einzusammeln versuchen, um nicht mehr konkret begründen zu müssen, was er denn eigentlich suche. Weitere Wochen später erfuhr ich schließlich den Grund, wieso ich in diese Razzia überhaupt geraten war: Mein Name stand in der Kundendatei einer Druckerei, an die ich im Auftrag von Kunden manchmal Aufträge vermittle. In deren Computer fanden sich auch einige längst vergessene Fotos aus früheren Jahren mit dem verräterischen Dateinamen „SIKO“ (Sicherheitskonferenz), abgespeichert in einem Ordner namens „Wob“. Als „Spur“ reichte das allemal.

Wolfgang Blaschka  - München, im Februar 2007