Hier und Jetzt. Anarchistische Praxis und Theorie (URI GORDON)

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Hier und Jetzt. Anarchistische Praxis und Theorie (URI GORDON)
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Hier und Jetzt.  Anarchistische Praxis und Theorie


Autor:  Uri Gordon  / aus dem Englischen übersetzt von Sophia Deeg

Original:  Anarchy alive! Anti-Authoritarian Politics from Practise to Theory, Pluto Press

Verlag:   Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg, Hamburg (dt. Erstausgabe Febr. / 2010) – zur Verlagsseite

ISBN-13:   978-3-89401-724-8

Broschur, 256 Seiten, € (D) 18,– € / (A) 18,50


Uri Gordon berichtet von Netzwerken, Graswurzelbewegungen und Organisationen und den dort geführten Debatten. Über das Verhältnis dieser Gruppen zur Gewalt, zur Natur, zum technologischen Fortschritt, und darüber, wie die politische Kultur in der Praxis aussieht und welche Konzepte ausprobiert werden.

Er beschreibt antikapitalistische Zentren und ökofeministische Höfe, Basisorganisationen auf Gemeindeebene, Blockaden internationaler Gipfeltreffen und alltägliche direkte Aktionen. Außerdem stellt er die ungeheure Menge an anarchistischen Publikationen und Websites vor. All diese Netzwerke sind dezentral, horizontal und konsensorientiert organisiert. In Sozialzentren, Gemeinschaftsgärten und Kooperativen bildet sich eine Revolution im Hier und Jetzt heraus. Viele verschiedene Vorstellungen von Anarchie leben im Herzen der globalen Bewegungen, die dabei sind, durch ihre Aktionen eine andere Welt zu schaffen ...


► Pressestimmen:


»Es gelingt Gordon ausgezeichnet, auf etwa 70 Seiten zentrale Diskussionslinien des Anarchismus nachzuzeichnen (...). „Hier und Jetzt“ wurde mittlerweile breit rezipiert und von vielen Seiten gefeiert. (...) Uri Gordon schafft mit seiner tiefgreifenden Befürwortung von Vielfältigkeit einen Blick auf Anarchismus im Hier und Jetzt, der optimistische Perspektiven ermöglicht. Es gelingt vorzüglich, das weite und umfassende Feld anarchistischer Theorie und Praxis darzustellen.«
Sebastian Friedrich, kritisch-lesen.de

»Nachdem in den letzten Jahren vermehrt EInführungswerke zu dem Anarchismus erschienen sind ("Anarchie!"von Horst Stowasser, "Anarchismus" aus der Reihe theorie.org, "Ja! Anarchismus!" von Bernd Drücke) geht Uri Gordon mit "Hier und Jetzt" einen anderen Weg: der Autor wagt sich an nicht weniger als an eine inhaltiche Neubestimmung des Anarchismus mit neuen theoretischen Ansätzen und Ideen, welche er einerseit aus Debatten der globalen anarchistischen Bewegung, andererseits aus subjektiven Gedankengängen zusammenfasst. Dabei werden durchaus auch neue Impulse gesetzt.

Endlich also eine zeitgenössische Standortbestimmung anarchistischer Ideen und Theorien, die über den weitverbreiteten Eindruck Anarchist_innen seien 'antistaatliche Linke' weit hinaus geht. Während mir beispielsweise in dem Kapitel zur Technologie ein wenig die argumentatitve Überzeugungskraft fehlt, so ist die Erörterung zu Anarchist_innen und Gewalt vielleicht das Reflektierteste und Diferenzierteste, was ich jemals zu diesem Thema lesen konnte. In der inhaltlichen Zielsetzung vielleicht mit "diy – von Anarchie und Dinosauriern" vergleichbar; jedoch argumentativ überzeugender, logischer aufgebaut, inhaltlich tiefer und deutlich flüssiger geschrieben.

Neben "Anarchie!" von Horst Stowasser vielleicht das zweite Einführungsbuch, das ich hier wärmstens empfehle; durchaus auch sehr fruchtbar für Leute, die sich bereits als Anarchist_innen begreifen und für neue Ideen aufgeschlossen sind«.

Anarchistische Gruppe Mannheim


► Inhaltsverzeichnis:


Vorwort

1. Was bewegt die Bewegung?

2. Anarchism Reloaded. Netzwerk-Konvergenz und politischer Inhalt

3. Macht und Anarchie. Un/Gleichheit & Un/Sichtbarkeit in autonomer Politik

4. Peace, Love und Mollies. Noch einmal: Anarchismus und Gewalt

5. Maschinenstürmer, Hacker und Gärtner: Anarchismus und Technologie

6. HeimatLand? Anarchie und gemeinsamer Kampf in Palästina/Israel

Bibliografie

Danksagung



► Leseprobe Vorwort:

Stirling, Schottland – 6. Juli 2005, 2 Uhr früh. Ein Exodus der Massen bewegt sich aus dem Öko-Dorf und Protest-Camp »Hori-Zone«, wo während der vergangenen Woche fünftausend Anti-G8-Aktivistinnen und -Aktivisten gezeltet haben. Unablässig fällt der Regen, während sie in kleinen Gruppen durch Felder und über Hügel in Richtung M9 stapfen. Der Plan: Delegationen und deren Mitarbeiterstäbe daran zu hindern, dass sie das erlesene Gleneagles Hotel erreichen, wo die Führer der acht mächtigsten Länder der Welt heute Morgen zusammenkommen.

Es ist noch dunkel, als Polizeifahrzeuge an einem der Camp-Ausgänge eintreffen, doch die meisten Aktivisten sind längst weg. Minuten später hasten die übrigen rund tausend aus dem Tor, viele von ihnen in Schwarz und mit vermummten Gesichtern. Vorne geht eine kleine Gruppe, die mehrere dicke Holzbalken, jeweils gut zwei Meter lang, dabei hat. Andere haben Fahrradhelme auf, Arme und Beine sind mit Schaumgummipolstern umwickelt, oder sie tragen Mülleimer-Deckel als Schilde. Zwei weitere Gruppen haben sich bewegliche Wände aus aufgeblasenen Autoreifenschläuchen gemacht, von denen jeweils vier durch Klebeband miteinander verbunden sind. Die werden benutzt, um die Polizeiketten zurückzudrängen, während der Block ausschwärmt und sich auf der Straße weiterbewegt.

Während man durch ein nahe gelegenes Industriegelände kommt, bauen einige eine Barrikade an der Rückzugslinie, andere sammeln Steine auf Karren, und wieder andere lösen sich kurz aus dem Zug, um eine Bank und einen Burger King mit ihren »Kommentaren« zu versehen. Die Marschierer umgehen oder erkämpfen sich den Weg durch vier weitere Polizeiketten und kommen mit Tagesanbruch an der Autobahn M9 an. Hier ist mehr im Einsatz als nur Schläuche von Autoreifen. Unterwegs sprüht jemand ein Graffito an eine Wand: »Anarchisten = 2 : Polizei = 0«.

Weiter hinten auf der M9 sind Hunderte Aktivisten damit beschäftigt, die Straße auf ein paar Kilometer mit Ästen und Zementbrocken oder durch Massen-Sit-Downs unpassierbar zu machen. Die Bullen sind deutlich in der Minderzahl und weitgehend außer Gefecht gesetzt: Während sie eine Gruppe von der Fahrbahn zerren, ist eine andere schon dabei, die Straße ein paar hundert Meter weiter erneut zu blockieren. Dann blockieren Kilometer weiter weg sechs Bezugsgruppen gleichzeitig sorgfältig ausgewählte Straßenkreuzungen und Brücken in einem Ring um Gleneagles und stürzen so die gesamte Region in ein Verkehrschaos. Es gibt kein Herauskommen aus Perth oder Crieff. In Muthill liegen Menschen am Boden, die sich an den Beinen oder Armen durch Metallrohre aneinandergeschlossen haben. In Yetts o’Muckhart benutzen sie starre Fahrradschlösser, um sich am Hals an Fahrzeuge anzuschließen, die den Weg verstellen. An der Brücke von Kinkell findet ein massenhaftes Sit-Down statt. Auch der Zugang mit der Bahn nach Gleneagles ist unmöglich gemacht worden – mit einem Kompressor sind Schienen aus der Verankerung gerissen worden, brennende Reifen dienen als Warnung. Zwei Jahrzehnte gesammelter Erfahrungen in den Methoden der direkten gewaltfreien Aktion – und in nur wenigen Stunden ist Perthshire ein einziger riesiger Verkehrsstau, in dem Hunderte Sekretärinnen, Dolmetscher, Geschäftsleute und PR-Berater zu Beginn eines sehr langen Morgens feststecken.

Zu einem früheren Zeitpunkt in dieser Woche war bei der Demo unter dem Motto »Make Poverty History« ein Flugblatt verteilt worden, auf dem die Blockierer ihr Anliegen klargelegt haben:  Macht Geschichte: schließt G8

Die G8 haben ein ums andere Mal gezeigt, dass sie unfähig sind, irgendetwas anderes zu tun, als die Zerstörung der Welt, die wir alle teilen, voranzutreiben. Können wir etwa glauben, dass die G8 die Armut in die Geschichte verbannen werden, wenn ihnen nichts anderes einfällt, als Afrika durch die Privatisierung für die Plünderung seitens der multinationalen Unternehmen freizugeben? Können wir von ihnen etwa erwarten, dass sie den Klimawandel wirksam angehen, wenn aus ihren eigenen bekannt gewordenen internen Verlautbarungen hervorgeht, dass sie es für nicht geklärt halten, ob er überhaupt ein ernstes Problem ist?

Demonstrationen sind der erste Schritt. Aber es muss mehr passieren, denn Demonstrationen werden allzu oft nicht beachtet: Erinnert euch nur an die Mega-Demos gegen den Irak-Krieg. Die G8 müssen mit einer Botschaft konfrontiert werden, die sie nicht ignorieren können. Sie werden es nicht übersehen, wenn wir die Straße zu ihrem Golfplatz blockieren und wenn wir ihre Zusammenkünfte stören und ihnen mit unseren Körpern mitteilen, woran wir glauben – an eine bessere Welt. Wir können zum Beispiel jetzt gleich loslegen und mit Tausenden Menschen in einem Öko-Dorf abseits der Straße nach Gleneagles zusammenkommen und praktische Lösungen für die Probleme der Erde aufzeigen. Die Grundlagen sind Kooperation und Respekt vor dem Planeten.

Heute bereits können wir für unser Handeln und für die Welt, die wir erben werden, Verantwortung übernehmen.

Falls es irgendwem entgangen sein sollte: Der Anarchismus ist ausgesprochen lebendig und präsent. In den vergangenen zehn Jahren ist erneut eine globale anarchistische Bewegung entstanden, und dies in einem Umfang und mit einer Einigkeit einerseits und einer Vielfalt andererseits, wie es das seit den 1930er Jahren nicht mehr gegeben hat. Von antikapitalistischen Zentren und ökofeministischen Höfen bis zu Basisorganisationen auf Gemeinde-Ebene, Blockaden internationaler Gipfeltreffen, alltäglichen direkten Aktionen und einer enormen Menge an Publikationen und Websites – Anarchie lebt im Herzen der globalen Bewegung, die erklärt: »Eine andereWelt ist möglich«. Das Ende der Geschichte, das 1989 ausgerufen wurde, hat sich keineswegs eingestellt. Vielmehr sind die Verbreitung und Erweiterung anarchistisch inspirierter Kämpfe und Politik – weitgehend in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern – seither eine bedeutende Antriebskraft hinter dem Widerstand gegen den Neoliberalismus und den permanenten Krieg. Das Wort selber kann Grund zum Stolz sein oder auch eine unnötige Belastung oder ein vernachlässigbares Accessoire. Positive Umschreibungen gibt es ohne Ende: anti-autoritär, autonom, horizontal … aber wenn du sie siehst, erkennst du sie sofort – Anarchie ist überall.

Im Oktober 2000 kam ich nach Europa, um meine Doktorarbeit über Umweltethik zu schreiben, aber die Proteste gegen den Weltwährungsfonds und die Weltbank in Prag lagen gerade hinter uns, die frische antikapitalistische Brise war überall spürbar, und ich war begierig, dabei zu sein. Ich hatte in Israel an Friedens- und Umwelt-Aktionen teilgenommen und Marx, Marcuse und Kropotkin gelesen. Und nun ging ich zu einem Treffen mit Aktivistinnen und Aktivisten, die aus Prag zurückgekehrt waren. Wenige Wochen später organisierten wir eine Demo vor einem Vorlesungssaal in Oxford, wo der ehemalige Chef des IWF, Michel Camdessus, geehrt wurde. Bald war ich mehr mit Aktivismus als mit Studieren beschäftigt. Ich beteiligte mich immer intensiver an alternativen Globalisierungsnetzwerken und an dem, was Aktivistinnen und Aktivisten verächtlich als »Gipfel-Hopping« bezeichnen. Ich wurde in Nizza mit Tränengas traktiert, in London eingekesselt und entkam in Genua nur knapp einer ziemlich üblen Prügelei. Nach dem 11. September 2001 entstanden dieAntikriegsbewegungen, und allmählich grenzten sich die Reformer immer deutlicher von den Revolutionären ab. Zu dieser Zeit etwa wurde mir auch klar, dass ich mein Studium keineswegs vernachlässigte. Ich konnte meinen Aktivismus einfach als Feldstudien deklarieren und meine akademische Arbeit so ausrichten, dass sie für Aktivistinnen und Aktivisten nützlich sein würde. Dabei ist dieses Buch herausgekommen.

Hier und Jetzt ist ein anarchistisches Buch über Anarchismus. Es erforscht die Entwicklung anarchistischer Gruppen, Aktionen und Ideen der letzten Jahre und versucht aufzuzeigen, was eine Theorie, die auf der Praxis aufbaut, für die zentralen Debatten und Problemstellungen leisten kann, die die Bewegungen heute umtreiben. Es geht den Ideen auf den Grund, die heute in Netzwerken, die vor allem auf die direkte Aktion bauen, zentral sind. Die Hauptzielsetzung dieses Buches ist es jedoch, einen Beitrag zur anarchistischen Theorie zu leisten, ohne mich dafür entschuldigen zu müssen.

Das erste Kapitel bietet einen Rahmen, in dem eine Reflexion über den Anarchismus gesehen werden kann, nicht in inhaltlichen Begriffen, sondern hinsichtlich der Frage, was das eigentlich ist – Anarchismus. Ich schlage vor, unter Anarchismus mindestens Dreierlei zu verstehen. Erstens ist Anarchismus eine zeitgenössische soziale Bewegung, die sich aus dichten Netzwerken vieler Einzelner, von Bezugsgruppen und Kollektiven zusammensetzt. Sie kommunizieren intensiv, teilweise weltweit und stimmen sich bei einer Vielzahl direkter Aktionen und andauernder Projekte miteinander ab. Die durch und durch dezentrale und netzwerkartige Struktur der anarchistischen Bewegung scheint manchmal verwirrend – all die Aktivitäten entfalten sich gewöhnlich ohne formelle Mitgliedschaften oder feste organisatorische Abgrenzungen.

Zweitens ist Anarchismus die Bezeichnung für eine komplexe politische Kultur, die diese Netzwerke inspiriert und mit Inhalt füllt – wobei der Begriff hier eine Gruppe gemeinsamer Orientierungen bezeichnet, die das politische Handeln und das Reden darüber sowie auch das tägliche Leben ausrichten. Kennzeichnend für diese Kultur sind:

  • ein gemeinsames Repertoire politischer Aktionsformen auf der Grundlage der direkten Aktion, des Aufbaus von Alternativen »von unten«, von Kontakten und Konfrontation auf lokaler Ebene;
  • gemeinsame Organisationsformen: dezentralisiert, horizontal und konsensorientiert;
  • eine gemeinsame Kultur in so unterschiedlichen Bereichen wie Kunst, Musik, Kleidung und Essgewohnheiten, häufig angelehnt an westliche Subkulturen;
  • eine gemeinsame politische Sprache, der es auf Widerstand gegen den Kapitalismus, den Staat, das Patriarchat und allgemein gegen Hierarchien und Dominanz ankommt.

Die anarchistische politische Sprache transportiert selber eine dritte Bedeutung von Anarchismus – Anarchismus als Sammlung von Ideen. Anarchistische Ideen sind theoretisch ausgefeilt und befinden sich zugleich im Fluss unablässiger Weiterentwicklung. Der Inhalt zentraler anarchistischer Gedanken ändert sich von einer Generation zur nächsten und ist nur vor dem Hintergrund der Bewegungen und Kulturen zu verstehen, in denen und durch die sie ausgedrückt werden.

Um einen Überblick über die zeitgenössische anarchistische Bewegung zu geben, richtet das zweite Kapitel dasAugenmerk auf drei Themen, die in der anarchistischen politischen Sprache heute eine zentrale Rolle zu spielen scheinen. Das erste besteht in der Ablehnung jeglicher Form von Herrschaft, ein Begriff, der vielfältige gesellschaftliche Institutionen und Dynamiken umfasst – im Grunde die meisten Aspekte der modernen Gesellschaft. Herrschaft in all ihren Spielarten gilt es aufzudecken, anzugehen, zu untergraben und letztendlich zu überwinden.

Das zweite zentrale Thema ist das Ethos der direkten Aktion, wobei es darum geht, den Ungerechtigkeiten durch nichtvermittelte Interventionen zu begegnen und Alternativen zum Kapitalismus aufzubauen. Dies geschieht in destruktiven und defensiven Formen, so etwa durch Sabotageakte gegen Produktionsstätten oder durch die Besetzung von Wäldern. Oder die direkte Aktion ist konstruktiverArt und ermöglicht den Aufbau eines Lebenszusammenhangs, etwa in Form von Sozialzentren, Gemeinschaftsgärten und Kooperativen. Die Idee der direkten Aktion hängt auch damit zusammen, dass eine »vorwegnehmende Politik« oder die Umsetzung und der Ausdruck anarchistischerWerte in denAktivitäten und Strukturen der Bewegung selber für essenziell gehalten werden.

Und schließlich ist Vielfalt heute ein zentraler Wert in der anarchistischen Bewegung. Das bedeutet eine große Offenheit bezüglich ihrer Zielsetzung. Und Vielfalt passt nicht gut zu Vorstellungen von einer abschließenden Revolution oder von bis in die Einzelheiten festgelegten Modellen und Entwürfen einer freien Gesellschaft. Stattdessen pflegt man nichthierarchische und anarchische Verhaltensweisen und Organisationsformen als allzeit präsente Potenziale gesellschaftlicher Interaktion im Hier und Jetzt – einer »Revolution im Alltag«.

Woher kommen diese Kulturen und Ideen? Die Feststellung überrascht vielleicht nicht, dass der heutigeAnarchismus nur zu geringen Teilen eine direkte Fortführung anarchistischer Bewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist, die am Ende des Zweiten Weltkriegs von der politischen Bühne gefegt worden sind. DieWurzeln der zeitgenössischen anarchistischen Bewegungen sind vielmehr in den Überschneidungs- und Verbindungsprozessen zu finden, die seit den 1960er Jahren zwischen verschiedenen radikalen gesellschaftlichen Bewegungen stattgefunden haben. Deren Vorgehen war eigentlich nie offen und eindeutig anarchistisch. Zu ihnen gehören die radikalen Teile der Umwelt-, Antiatomkraft- und Antikriegsbewegungen, die mit direkten Aktionen arbeiten, sowie radikale Befreiungsbewegungen der Frauen, der Schwarzen, der Indigenen, der LGBT (lesbian, gay, bi & transgender) und die Bewegung für die Tierrechte. Die zunehmende Vernetzung und gegenseitige Befruchtung dieser Bewegungen hat zu einer Konvergenz politischer Kulturen und Ideen neben denen der traditionellen (sozialdemokratischen, liberalen oder marxistischen) Linken geführt, wobei sie dieser – um ehrlich zu sein – weit voraus sind.

Etwa um die Jahrtausendwende waren die Bedingungen für die Entstehung eines voll entfalteten anarchistischen Revivals reif. Zu der Zeit stellten die Widerstandsbewegungen gegen den neoliberalen Kapitalismus und die von den USA angeführten Invasionen in Afghanistan und im Irak die wichtigsten anarchistischen Aktivitäten dar.

Einerseits beziehen sich die neu entstehenden anarchistischen Bewegungen häufig direkt auf die anarchistische Tradition und lassen sich von ihr inspirieren, andererseits unterscheiden sie sich aber auch in vieler Hinsicht von der linkslibertären Politik von vor hundert oder auch vor sechzig Jahren. Netzwerke von Kollektiven und Bezugsgruppen ersetzen die Syndikate und Föderationen als typische Organisationsformen. Die Themen der Bewegung sind breiter: Ökologie, Feminismus und Tierrechte sind ebenso wichtig wie Antimilitarismus und Arbeiterkämpfe. Im letztgenannten Bereich werden der industrielle Sektor und der traditionelle Syndikalismus zunehmend durch McJobs und selbstorganisierte Gewerkschaften prekär Beschäftigter ersetzt. Die vorwegnehmende direkte Aktion und kulturelle Experimente stehen eher im Vordergrund. Ein anderer auffälliger Unterschied liegt darin, dass in anarchistischen Zusammenhängen die Orientierung an der Moderne und technischem Fortschritt nicht mehr unbedingt allgemein angestrebt wird. Manche »grüne« Anarchistinnen und Anarchisten setzen sich sogar ausdrücklich dafür ein, den Zerfall der industriellen Zivilisation aktiv zu befördern. Diese qualitativen Veränderungen machen zusammengenommen sogar so etwas wie einen Paradigmenwechsel des Anarchismus aus, der heutzutage durch und durch heterodox ist, aktionsbezogen und darauf aus, zu gewinnen.

Obwohl ichAnarchist bin, geht es mir nicht darum, ein Buch zu schreiben, das sich für den Anarchismus ausspricht, oder irgendjemanden davon zu überzeugen, dass Anarchismus möglich und wünschenswert ist. Dieses »Plädoyer für dieAnarchie« ist bereits in der anarchistischen Literatur zweier Jahrhunderte ausführlich und zu meiner vollen Zufriedenheit gehalten worden. Es hat sogar, wenn auch eher selten, in der akademischen politischen Theorie von strenger Seite Anerkennung gefunden (z.B. bei Robert PaulWolff, Michael Taylor,Alan Ritter, L. Susan Brown oder Alan Carter). Es wäre eine unverzeihliche Vergeudung von Bäumen, ein weiteres Werk in Druck gehen zu lassen, das einmal mehr die Tragfähigkeit anarchistischer Theorie begründen würde.

Stattdessen treiben die Kapitel 3 bis 6, die den Hauptteil dieses Buches ausmachen, ausgehend von der Annahme, dass der Anarchismus im Wesentlichen Sinn macht, die Debatte einen Schritt weiter: Perspektiven, Dilemmata und Kontroversen werden ausgelotet, die erst innerhalb der real stattfindenden antiautoritären Kämpfe für gesellschaftliche Veränderungen zutage treten. Diese Kapitel gehen der Frage der internen Hierarchien und der Macht innerhalb anarchistischer Netzwerke nach; der
Frage nach der Definition, der Rechtfertigung und der Effizienz politisch begründeter Gewalt; der Kontroverse Technologie versus Moderne innerhalb der Bewegung; sie setzen sich schließlich mit der Beziehung zu den nationalen Befreiungsbewegungen auseinander und in diesem Zusammenhang besonders mit dem Fall Palästina / Israel.

Ich möchte abschließend diese Einleitung nutzen, um über die Bedeutung und die Gefahren zu sprechen, die damit verbunden sind, dass jemand »in politischer Theorie macht« und zugleichAktivist ist. Was bedeutet es eigentlich, anarchistischer Aktivist-Theoretiker zu sein (eine Rolle, die allen offen steht)? Welche Spannungen mag ein solches Unterfangen unter den eigenen Genossinnen und Genossen auslösen? Und vor allem, welche konkreten Instrumente und Methoden kann es bereitstellen, um die kollektive Reflexion und politische Theoriebildung in anarchistischen Netzwerken zu fördern?


Praxis und Theorie

Glücklicherweise ist der Aktivist-Theoretiker nicht allein in seinem Bemühen, die soeben erwähnten Fragestellungen anzugehen. Außerhalb der radikalen Szene ist man sich kaum des explosiven Wachstums und der Vielschichtigkeit bewusst, die kennzeichnend für die anarchistischen politischen Diskussionen und die anarchistische Literatur sind.

Es gibt sie in gedruckter Form, online und vor allem als gesprochenes Wort, in alltäglichen Gesprächen, Diskussionen und Zusammenkünften.

Tatsächlich ist die anarchistische Bewegung ein Kontext, in dem auf hohem Niveau politisch nachgedacht – politische Theorie entwickelt wird. Zentrales Anliegen von Hier und jetzt ist es, Dilemmata, in denen Aktivistinnen und Aktivisten stecken können, zu durchdenken und mit ihnen umzugehen. Dabei hilft eine Theorie, die auf unmittelbarer Erfahrung aufbaut, auf Diskussionen mit anderenAktivistinnen undAktivisten, auf einer kritischen Lektüre anarchistischer wie nichtanarchistischer Literatur und auf durchaus nichtneutralen Argumenten meinerseits. Denn ich bin weniger daran interessiert, Antworten zu geben, als vielmehr daran, einige der relevanten Fragen festzumachen, die gewissen endlosen und wiederkehrenden Debatten zugrunde liegen, sie in ihren Hintergründen und Zusammenhängen darzustellen und zu entwirren.

In vieler Hinsicht ähnelt die Herangehensweise an anarchistische Theorie in diesem Buch derjenigen, die der anarchistische Anthropologe David Graeber vorgeschlagen hat. Graeber nimmt an, jede anarchistische Gesellschaftstheorie müsste nicht nur von der grundlegenden Annahme ausgehen, dass »eine andere Welt möglich ist«, sondern außerdem »selbstbewusst jede Spur des Avantgardismus zurückweisen«. Die Rolle eines anarchistischen Theoretikers könne es nicht sein, die »richtige strategische Analyse« vorzulegen und »dann die Massen entsprechend zu führen«. Seine Rolle sei es vielmehr, sich an dem Bedürfnis von Anarchistinnen und Anarchisten auszurichten, für das, was sie beschäftigt, einen theoretischen Ausdruck zu finden und »diese Gedanken zurückzugeben, nicht als Rezepte, sondern als Beiträge, als Möglichkeiten – als Angebote«. Die Rolle des Aktivisten-Theoretikers besteht demnach nicht einfach darin, beobachtender Experte zu sein, sondern in erster Linie ist er jemand, der Möglichkeiten eröffnet und vermittelt, während die Teilnehmer an der Debatte die Rolle von Mit-Theoretikern und Mit-Aktivisten spielen.

Avner De-Shalit hat sich im umweltpolitischen Zusammenhang für dieselbe theoretische Herangehensweise ausgesprochen. Damit eine politische Theorie nicht nur interessant, sondern auch relevant ist, sollte sie seiner Auffassung nach »bei den Aktivistinnen und Aktivisten und ihren Problemen ansetzen … Insofern ist es eine Theorie, die sich auf die aktuellen theoretischen Bedürfnisse der Aktivistinnen und Aktivisten bezieht und dadurch zu überzeugen sucht, dass sie auf praktische Belange eingeht.« Indem der Theoretiker in den Aktivisten-Debatten wiederkehrende Themen schriftlich niederlegt, kann er dafür sorgen, dass eine Diskussion entsteht, in der sie geduldiger und präziser behandelt werden und dieAufmerksamkeit auf Einzelheiten und eine kohärente Argumentation gelenkt wird.

Die Rolle des Theoretikers besteht darin, am Reflexionsprozess bei der Theoriebildung der Aktivisten teilzunehmen und ihn zu unterstützen, indem er Ideen deutlicher herausarbeitet, ordnet und artikuliert – zusammen mit den Aktivisten und für sie. Dabei geht es ihm darum, Themen – in theoretischer Form – anzusprechen, mit denen Aktivisten bei ihrer täglichen Organisationsarbeit konfrontiert sind, Ideen zusammenzustellen, um die sorgfältige Diskussion zu ermöglichen, unhinterfragte Annahmen und Widersprüchlichkeiten aufzudecken und ganz allgemein die Reflexionsprozesse der Aktivistinnen und Aktivisten voranzubringen. Dies geschieht, indem er Gedanken, die bei kurzen, informellen Debatten aufgekommen sind, festhält und sie in strukturierter und differenzierter Form unter die Lupe nimmt. Obwohl er grundsätzlich die Anliegen beispielsweise der Umweltaktivisten unterstützt, »sollte die Philosophin oder der Philosoph die Forderungen der Aktivisten nicht einfach unbefragt übernehmen; auch ihre Intuitionen, Argumente, Forderungen und Theorien sollten gründlich abgeklopft werden. Dass sie kritisch untersucht werden sollten, berührt jedoch nicht das zentrale Anliegen: dass die Intuitionen, Forderungen und Theorien der Aktivistinnen und Aktivisten unbedingt den Ausgangspunkt bilden« (Avner De-Shalit).

Somit ist der Prozess der anarchistischen Theoriebildung in sich selbst ein Dialog, bei dem die Ideen Einzelner und ihre Praxis mit ihnen diskutiert werden. Nur in dieser Verbundenheit kann Theorie authentisch und selbstkritisch bleiben. Und nur so kann sie sich auch das Recht herausnehmen und sich zutrauen, sich – nicht von oben herab, sondern von innen – zu äußern.  Hier bestehen ausgeprägte Parallelen zur Tradition des »Action Research« oder der Untersuchung durch Aktionen, die unterschiedliche emanzipatorische und Graswurzelmethoden in Lernprozesse integriert. Beiträge indigener Kulturen gehören ebenso dazu wie die von Gemeinschaften des globalen Südens, von radikalen Pädagogen und Philosophen, Praktikern ökologischer Methoden, von egalitären, feministischen und antirassistischen sozialen Bewegungen. In jedem Fall liegt der Akzent auf offen »engagierten« Methoden der kooperativen Forschung, die in einem emanzipatorischen Ethos begründet sind. Das begünstigt die gemeinsame Entwicklung relevanten Wissens und einer entsprechenden Praxis. Gewisse Forschungsmethodologien werden zugunsten eines sich entfaltenden Prozesses der Kooperation und des Dialogs zurückgestellt, der ermächtigend und solidarisierend wirkt. Indem die Debatte zur anarchistischen politischen Theorie, die dieses Buch vorlegt, kritisch engagierte und theoretisch fundierte Analysen liefert, die in einer kollektiven Praxis entstanden sind, dürften sie zu den laufenden Reflexionen von Aktivistinnen und Aktivisten klärend beitragen.

Mein eigener Werdegang hat mich mit vielen Genossinnen und Genossen und Gruppen zusammengebracht. Mit ihnen gemeinsam habe ich an diversen örtlichen Projekten und Kampagnen sowie an Konferenzen und Diskussionen, internationalen Mobilisierungen und Massenprotesten teilgenommen. In Großbritannien habe ich vor Ort in Oxford im sehr lebendigen antikapitalistischen und Antikriegsnetzwerk mitgearbeitet sowie in anti-autoritären Netzwerken, die Aktionen zum 1. Mai und Antikriegsdemonstrationen organisierten. Ich war auch Teil des britischen Earth First!-Netzwerks (das, anders als sein US-amerikanisches Gegenstück, eindeutig anarchistisch ist) und des Dissent!- Netzwerks, das seit 2005 im Widerstand gegen die G8-Gipfel aktiv ist.

Beobachtender Teilnehmer war ich auch bei internationalen Mobilisierungen wie den Anti-G8-Protesten in Genua 2001, Evian 2003 und Gleneagles 2005 sowie bei den Anti-EU-Protesten in Nizza 2000, Brüssel 2001 und Barcelona 2002. Außerdem nahm ich an mehreren internationalen Zusammenkünften teil, darunter das internationale No Border-Protestcamp in Straßburg 2002, europäische Treffen des Peoples Global Action-Netzwerks in Leiden 2002 und Dijon 2003 sowie diverse autonome Alternativveranstaltungen bei den europäischen Sozialforen in Florenz 2002 und in London 2004. Daher sind in dieses Buch in erster Linie eigene unmittelbare Erfahrungen und Diskussionen mit Aktivistinnen und Aktivisten eingeflossen. Hinzukommt eine recht gute Vertrautheit mit zeitgenössischen anarchistischen Medien: Websites, Diskussionsgruppen, Blogs, Filmen und Videos, Radiosendungen und mit programmatischer anarchistischer Literatur in gedruckter Form und online.

Hier sollte darauf hingewiesen werden, dass anarchistische Literatur nicht den Anspruch hat, nach akademischer politischer Theorie auszusehen. Vieles erscheint im Selbstverlag, in fotokopierten Broschüren, Raubdrucken und »zines« (kurz für »magazines «). Darin werden diverse Aktionsberichte, Comics, Kurzgeschichten und Anleitungen zu allem Möglichen, von Frauengesundheitsratschlägen bis hin zu Fahrradreparaturtipps, mitgeliefert. Viele Texte werden anonym, kollektiv oder unter einem Pseudonym veröffentlicht. Sie wenden sich an ganz spezielle Adressaten, häufig an andere Anarchisten. Um bei der Wahrheit zu bleiben – manches von dem, was an anarchistischen Publikationen im Bereich Debatten herauskommt, taugt nicht sehr viel. Es gibt jedoch auch viele anarchistische Bücher, Artikel und Essays, die wichtige Einsichten liefern, solide argumentieren und gut durchdacht sind. Aus ihnen werde ich auf den folgenden Seiten ausgiebig schöpfen, indem ich mich einerseits positiv auf sie beziehe, sie andererseits aber auch kritisiere.

Grundsätzlich gilt, dass in der Bewegung ein Mangel an rationaler Auseinandersetzung keineswegs die Norm ist. Das zeigt sich besonders in den alltäglichen Gesprächen unter Aktivistinnen und Aktivisten, wo ja gerade die Hauptdebatten stattfinden. Hier kommen die relevanten Fragestellungen und Widersprüche zur Sprache, die eine anarchistische Theorie aufgreifen sollte, und hier ergeben sich zahlreiche bedeutsame Argumente und Einsichten, die in die theoretische Arbeit eingeführt werden.

Was nun die unvermeidlichen anarchistischen Grundannahmen angeht – der nicht eingeweihte Leser oder die Leserin ist hiermit eingeladen, diese einmal provisorisch als Rahmen zu übernehmen und auszuloten, was passiert, wenn wir uns an einer Version dieser Grundannahmen entlangbewegen. Schließlich macht es keinen Sinn, der Frage nachzugehen, ob Anarchistinnen und Anarchisten jemals zur Erreichung ihrer Ziele Gewalt anwenden sollten, wenn ihre Ziele an sich schon nicht gerechtfertigt sind, oder sich darüber Gedanken zu machen, ob manche Formen der Führung innerhalb der anarchistischen Bewegung problematischer als andere sind, wenn eine horizontale Organisation von vornherein abgelehnt wird.

Die Theorie sollte nicht darunter leiden, wenn derjenige, der sie formuliert, selber der Überzeugung ist, dass »eine andere Welt möglich« ist. Im Gegenteil, ein bewusstes, selbstkritisches Engagement mit dem Wunsch, einen Beitrag für Mit-Aktivistinnen und -Aktivisten zu leisten, ist wahrscheinlich mit einer starken Motivation verbunden, Schwierigkeiten gerade nicht schönzureden oder kontroverse Themen unter den Teppich zu kehren. Schließlich ist der beste »Beitrag« einer, der sich aus einer kritischen Einstellung ergibt, die frei ist von Illusionen. Er wird Regeln und Erwartungen, die als Gegebenheiten hingenommen werden, identifizieren und überdenken und Fragen aufwerfen, mit denen sich Aktivistinnen und Aktivisten möglicherweise lieber nicht beschäftigen würden.

Die Art anarchistischer politischer Theorie, auf die ich mich beziehe, um die recht komplexen Debatten in diesem Buch zu bearbeiten, verdankt angloamerikanischen Methoden und Gepflogenheiten mehr als kontinentaleuropäischen. Das muss nicht positiv oder negativ sein, aber es bedeutet, dass die theoretische Arbeit, die hier vorgelegt wird, die Analyse nicht als Selbstzweck auffasst. Es bedeutet auch, dass Klarheit, Lesbar keit und Nachvollziehbarkeit angestrebt werden. Obwohl manche Passagen für die Konzentration des Lesers eine Herausforderung darstellen mögen, habe ich mich doch bemüht, mich nicht allzu weit von der Alltagssprache zu entfernen, nicht abzuheben und mich in fernen Sphären zu verlieren.

Und jetzt erneut die Frage: Was ist Anarchismus?

 

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