Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpretation des Alten Testaments und seiner Tradition
Autor: Erich Fromm
Verlag: Deutschen Taschenbuch Verlag (dtv), München - zur Verlagsseite
ISBN-13: 978-3-423-34499-9
Titel der amerikanischen Originalausgabe: You Shall Be as Gods. A Radical Interpretation of the Old Testament and Its Tradition (1966)
Auf Deutsch ist das Buch erstmals 1970 beim Diana Verlag, Zürich, erschienen unter dem Titel „Die Herausforderung Gottes und des Menschen“, dann 1982 bei der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart, unter dem Titel "Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpretation des Alten Testaments."
Klappentext: (dtv-Verlag)
Die humanistische Betrachtung des Alten Testaments
Für Erich Fromm ist das Alte Testament »ein revolutionäres Buch« und die Bibel »ein Buch, das für die Menschen eine Vision ausgesprochen hat, die noch immer gilt und ihrer Verwirklichung harrt«. Fromms Interpretation ist die des radikalen Humanismus, die deutlich macht, wie die Bibel heute verstanden werden kann: als ermutigendes Beispiel für die Fähigkeit des Menschen, seine eigenen Kräfte zu entwickeln, um zu innerer Harmonie zu gelangen und so die Errichtung einer friedlichen Welt zu fördern.
Inhalt:
1 Einleitung ………………..7
2 Das Gottesbild ………………..21
3 Das Menschenbild ………………..68
4 Das Geschichtsbild ………………..91
5 Die Vorstellungen über Sünde und Buße ………………..163
6 Der Weg: Halacha ………………..183
7 Die Psalmen ………………..204
8 Epilog ………………..226
9 Anhang: Der 22. Psalm und die Leidensgeschichte Jesu ………………..231
Literaturnachweise ………………..237
Blick ins Buch mit Leseprobe auf der dtv-Verlagsseite: klick hier
Rezension von Sozialarbeiter/-pädagoge Jacob Prabutzki: (danke für die Freigabe!)
Erich Fromm: Ihr werdet sein wie Gott
In diesem Buch interpretiert der berühmte Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm das Alte Testament der Bibel aus einer radikalen humanistischen Perspektive. Für Erich Fromm ist die hebräische Bibel "ein revolutionäres Buch; sein Thema ist die Befreiung des Menschen von den inzestuösen Bindungen an Blut und Boden, von der Unterwerfung unter Götzen, von der Sklaverei, von mächtigen Herren, zur Freiheit des Individuums, der Nation und der ganzen Menschheit." Gott ist für Erich Fromm "eine der vielen poetischen Ausdrucksweisen für den höchsten Wert im Humanismus und keine Realität an sich. (...) Als der Mensch ein fragmentarisches Wissen von der Möglichkeit hatte, daß man das Problem der menschlichen Existenz durch die volle Entwicklung der menschlichen Kräfte lösen könnte, als er das Gefühl hatte, er könnte dadurch zur Harmonie gelangen, daß er Liebe und Vernunft voll entwickelte, anstatt den tragischen Versuch zu unternehmen, zur Natur zu regredieren und die Vernunft auszulöschen, da gab er dieser neuen Vision, diesem X, viele Namen: Brahman, Tao, Nirwana oder Gott. (...) Im Nahen Osten fand dieses X seinen Ausdruck in der Vorstellung von einem höchsten Stammeshäuptling oder König, und so wurde 'Gott' zum höchsten Begriff des Judentums, des Christentums und des Islam, die in den Gesellschaftsstrukturen dieses Kulturraums wurzelten. In Indien konnte der Buddhismus das X in anderen Formen ausdrücken, so daß hier keine Vorstellung von Gott als dem obersten Herrscher notwendig war." Für Erich Fromm bedeutet die "Verehrung des einen Gottes ... die Negierung der Verehrung von Menschen und Dingen."
Die Vorstellung einer Erbsünde - als eines Zustands, in dem der Mensch von Geburt an verstrickt ist und aus dem er nur durch göttlichen Gnadenakt erlöst wird - sowie einen daraus resultierenden Pessimismus lehnt Erich Fromm ab. Für ihn bedeutet der Sündenfall vielmehr, dass der Mensch das Band zwischen sich und der Natur zerschneidet, womit die menschliche Geschichte beginnt: "Mit diesem ersten Schritt der Zerschneidung des Bandes zwischen Mensch und Natur beginnt die Geschichte - und die Entfremdung. Wie wir sahen handelt es sich dabei nicht um den 'Sündenfall' des Menschen, sondern um sein Erwachen und so um den Anfang seines Aufstiegs. (...) Mit der Vertreibung aus dem Paradies wurde die ursprüngliche Einheit zerstört. Der Mensch wurde sich seiner selbst und seines Mitmenschen als Fremden bewußt." Der Mensch findet wieder zu sich und zur Harmonie dadurch zurück, indem er Gott nachahmt: "Aufgabe des Menschen ist, dieselben Eigenschaften, die auch Gott kennzeichnen, zu erwerben und zu praktizieren: Gerechtigkeit und Liebe (...) [Der Mensch] erwirbt die Eigenschaften Gottes, er steht nicht unter Gott, sondern er geht mit ihm den gleichen Weg." In der Nachahmung Gottes ("imitatio dei") erkennt der Mensch Gott, nicht in gedanklichen Konstruktionen!
Ziel der menschlichen Geschichte ist das messianische Zeitalter: "Das Paradies ist das Goldene Zeitalter der Vergangenheit (...) Die messianische Zeit ist das Goldene Zeitalter der Zukunft." Damit ist eine Zeit gemeint, in welcher der Unterschied zwischen Mensch und Gott aufgehoben ist, weil der Mensch seine menschlichen Kräfte - Liebe und Vernunft - voll verwirklicht, damit Gottes Gesetz ("Halacha") verinnerlicht und somit die völlige Unabhängigkeit von Gott erlangt hat, nur um als Gottes ebenbürtiger Partner die Welt zu beherrschen. Natürlich vermochte das Judentum nicht den letzten logischen Schritt zu vollziehen, d.h. "'Gott' aufzugeben und ein neues Bild vom Menschen zu errichten als einem Wesen, das auf dieser Welt allein ist und sich trotzdem auf ihr zu Hause fühlen kann, wenn es ihm gelingt, mit seinen Mitmenschen und mit der Natur zu Harmonie zu gelangen."
Zentrales Anliegen Erich Fromms ist die Bekämpfung von Götzendienst: "Götzendiener finden sich sowohl unter Gläubigen als auch unter Nichtgläubigen. Götzendiener unter den Gläubigen haben Gott zu einem Götzen, einer allwissenden, allmächtigen Macht gemacht, die mit dem Mächtigen auf Erden im Bunde ist. Ähnlich gibt es auch Nichtgläubige, welche zwar Gott nicht anerkennen, aber andere Idole anbeten (die übrigens auch von vielen Gläubigen verehrt werden): den souveränen Staat, die Flagge, die Rasse, die materielle Produktion und Leistungsfähigkeit, politische Führer oder auch sich selbst."
Auf die Frage, ob Gott tot sei, antwortet Erich Fromm folgendermaßen:
"Man sollte diese Frage nach zwei Aspekten angehen: Ist die Gottesvorstellung tot, oder ist die Erfahrung, auf welche die Gottesvorstellung hinweist, und ist der höchste Wert, der darin zum Ausdruck kommt, tot? Im ersten Fall könnte man auch fragen: Ist Aristoteles tot? Man könnte das deshalb tun, weil es hauptsächlich dem Einfluß des Aristoteles zu verdanken ist, daß Gott als gedankliche Konzeption diese Bedeutung gewann und die 'Theologie' ihren Aufschwung nahm. Was die Gottesvorstellung betrifft, so müssen wir uns auch fragen, ob wir eine Vorstellung beibehalten sollten, die man nur aus ihrem gesellschaftlich-kulturellen Wurzeln verstehen kann: aus den Kulturen des Nahen Ostens mit ihren autoritären Stammeshäuptlingen und ihren Königen mit uneingeschränkter Macht und aus dem späteren mittelalterlichen Feudalismus und den absoluten Monarchen. Für die heutige Welt, die nicht mehr nach den Prinzipien des aristotelischen systematischen Denkens und der Idee des Königstums gelenkt wird, hat die Gottesvorstellung ihre philosophische und gesellschaftliche Grundlage verloren.
Wenn wir andererseits die Frage stellen wollten, ob die Erfahrung tot ist, dann sollten wir - statt zu fragen, ob Gott tot ist - lieber fragen, ob der Mensch tot ist. Dies scheint mir das zentrale Problem des Menschen der Industriegesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts zu sein. Er läuft Gefahr, zu einem Ding zu werden, die wirklichen Probleme der menschlichen Existenz aus den Augen zu verlieren und sich nicht mehr für diese Probleme zu interessieren. Wenn der Mensch in dieser Richtung weitergeht, wird er selbst tot sein, und das Problem von Gott als Vorstellung oder als poetisches Symbol des höchsten Wertes wird kein Problem mehr sein."
Erich Fromm schließt sein Buch ab mit den Worten: "Für die nichttheistischen Humanisten aber erhebt sich die weitere Frage, was in einer Welt, in der der Gottesbegriff vielleicht tot sein mag, in der aber die dem Gottesbegriff zugrunde liegende Realität der Erfahrung lebendig sein muß, an die Stelle der Religion treten könnte."
(Alle angeführten Zitate stammen übrigens aus dem Buch.) J.P.
...
Der Gedanke des Universalismus im AT (hebräische Bibel)
In seiner Rezension des Buches hat sich Jacob Prabutzki auf die Thematik des Gottesbegriffes und eines Glaubensverständnisses mit oder ohne eine Vorstellung von Gott beschränkt. Eine Veröffentlichung wie „Zehn Gebote für moderne Antisemiten und solche, die es werden wollen“ des Rezensenten veranlaßt mich jedoch, einen Focus aus Fromms Buch „Ihr werdet sein wie Gott“ herauszugreifen, der sicherlich hinsichtlich des Verständnisses der Juden, das auserwählte Volk zu sein, mit einigen Mißverständnissen aufräumt. Vor allen Dingen ist es mein Anliegen, darauf hinzuweisen, daß nicht jede Kritik an Israel gleichbedeutend mit Antisemitismus ist. Ich habe oft den Eindruck (siehe die „Zehn Gebote“ von Prabutzki), daß bereits die Andeutung einer Kritik oder der Vorwurf von Mißachtung von Prinzipien der Menschenwürde an die Adresse Israels reflexartig mit einem ideologisch ausgerichteten Schwarz-Weiß-Denken abgewiesen wird.
Auf den Seiten 74 - 76 unter dem Kapitel „Das Menschenbild“ nimmt Fromm eine Beweisführung in der Richtung vor, daß der Geist des AT vornehmlich von einem universalistischen Bild des Menschen geprägt ist, das dem heutigen Begriff des Humanismus geschuldet ist und somit konsequenterweise z. B. auch kriegerische oder menschenunterdrückende Aktionen des Staates Israel und der seiner Unterstützer aus der ganzen Welt anprangert.
Nur wenn man einzelne Formulierungen des AT nicht aus dem Zusammenhang reißt und sie anderen – teilweise direkt gegenläufigen – gegenüber stellt, kann man sich eine Gesamtsicht der Dinge verschaffen. Deshalb bringe ich im folgenden einige Zitate aus den o. a. Seiten, die belegen sollen, was ich mit meinen Ausführungen meine:
„Auf den ersten Blick könnte es erscheinen, als ob die Bibel und die spätere jüdische Überlieferung stark nationalistische eingestellt wären, daß sie die Hebräer sowohl hinsichtlich ihres Wesens als auch hinsichtlich ihres Schicksals scharf von der übrigen Menschheit unterschieden. Ist nicht Israel „das auserwählte Volk“ und als Gottes Lieblingssohn allen andern Völkern überlegen? Gibt es nicht im Talmud viele nationalistische und fremdenfeindliche Stellen? Waren die Juden im Laufe ihrer Geschichte nicht oft nationalistisch? Neigten sie nicht oft dazu, sich den Nichtjuden überlegen zu fühlen und ein engherziges Stammesbewußtsein zu bekunden? Keiner kann das bestreiten, und man braucht nicht erst Beweise dafür anzuführen.“
[…] „Wenn wir diese nationalistische Einstellung untersuchen, sind wir zunächst versucht, sie zu entschuldigen, indem wir sie erklären.“ […]
Jetzt folgt im Originaltext die Beschreibung der den Juden geschichtlich widerfahrenen Unbillen und Ungerechtigkeiten. Fromm schreibt dann weiter:
[…] „Ist es da nicht natürlich, daß sie ihrerseits einen Haß auf die Unterdrücker, einen nationalistischen Stolz und ein übertriebenes Stammesbewußtsein als Ausgleich für die ständigen Demütigungen entwickelten? Aber alle diese Gegebenheiten erklären lediglich das Vorhandensein des jüdischen Nationalismus, entschuldigen können sie ihn nicht. Man sollte jedoch nicht vergessen, daß diese nationalistische Einstellung zwar das eine Element in der Bibel und in der späteren jüdischen Überlieferung ist, daß sie aber in dem diametral entgegengesetzten Prinzip des Universalismus ihr Gegengewicht erhält.“[…]
[…] „Die höchste Stufe erreicht der Universalismus bei den Propheten. Während wir in einigen Reden der Propheten den Gedanken finden, daß die Hebräer als Lehrer und geistiges Vorbild den Nicht-Hebräern überlegen sind, gibt es andere Aussagen, in denen von der Rolle der Kinder Israel als Gottes Lieblingskindern nicht mehr die Rede ist. Die Idee von der Einheit des Menschengeschlechtes findet inder pharisäischen Literatur, besonders im Talmud, ihre Fortsetzung.“ […]
[…] „In den Perioden, als die Juden von den Römern und Christen verfolgt wurden, überwog oft der nationalistische und fremdenfeindliche Geist über den universalistischen. Solange jedoch die Lehren der Propheten lebendig waren, konnte der Gedanke von der Einheit des Menschengeschlechtes nicht in Vergessenheit geraten. Dieser Geist manifestierte sich immer dann, wenn die Juden Gelegenheit hatten, aus dem engen Bezirk ihrer Gettoexistenz herauszukommen. Sie verschmolzen dann die eigene Tradition mit der der führenden humanistischen Denker der Außenwelt, und als im neunzehnten Jahrhundert die politischen und gesellschaftlichen Schranken fielen, gehörten jüdische Denker zu den radikalsten Vertretern des Internationalismus und der Idee des Humanismus.“
Es zieht sich wie eine Linie durch Erich Fromms Werk, daß er der Natur und der Zwiespältigkeit des Menschen auf den Grund geht. Und diese Natur beinhaltet sowohl die Anlage zum Guten und Bösen, zu für oder gegen den Menschen und die Natur gerichtete Aktivitäten und auch für faschistische Handlungen. Dies ist kein Privileg der Deutschen – auch Israelis sind der gleichen menschlichen Natur unterworfen und sollten sich nicht der Hybris hingeben, alle ihre Taten seien gerechtfertigt. Jeder Mensch hat die Pflicht, aus seinen Anlagen und seinem Potenzial das Beste für sich und die Menschheit heraus zu holen. Wer sich gegen „den Menschen“ an sich wendet, der muß kritisiert und zur Rechenschaft gezogen werden – egal ab Deutscher, Israeli, Araber, Amerikaner, Russe oder wer auch immer. Im übrigen wird das AT geradezu durchzogen von der Kritik und Warnungen Gottes sowie der Propheten in Richtung des Volkes Israel, nicht falsche Götzen anzubeten, weil dieses Grundgebot innerhalb der „10 Gebote Moses‘“ immer wieder verletzt wurde. Der Begriff „Götze“ ist dabei in einem weiteren Sinne zu verstehen: nicht nur als Anbetung von heidnischen Götzenbildern, sondern vor allem als Sünde gegen das Leben und das Versäumnis, sein Leben nach dem Motto des Wirken Gottes – d. h. als biophil und nicht nekrophil (nach Fromms Ausdrucksweise) einzurichten.
Peter A. Weber