Informationsflut und Verständnisverlust

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Peter Kern
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Informationsflut und Verständnisverlust
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Informationsflut und Verständnisverlust

Gegen die Informationsflut - für einen  Verständnisgewinn

In quantitativer Hinsicht werden immer mehr Informationen produziert und ausgetauscht; die Qualität der modernen Informationsflut wird zunehmend fragwürdiger: Statt eines verstehenden Wissens wird fast nur noch das instrumentelle Wissen vermittelt und angeeignet; die Frage, wie der deshalb eingetretene Verständnisverlust überwunden werden kann, fordert nicht die Technik der Informationserfassung, der Informationsverarbeitung und der Informationsanwendung heraus, sondern eine philosophische Reflexion.

Die Zunahme der Informationsangebote veranschaulicht ein Blick in die Geschichte. Der Mensch erfand immer wirkungsvollere Medien, um Informationen zu speichern und zu transportieren. Seit etwa 1450 gibt es den Buchdruck mit beweglichen Lettern, seit etwa 1600 Zeitungen im heutigen Sinne, seit etwa 1850 die elektrische Telegrafie, seit etwa 1880 das Fernsprechen, seit etwa 1920 den Hörrundfunk, seit etwa 1950 das Fernsehen, zuerst in Schwarz Weiss, dann in Farbe, und seit etwa 1970 kennen wir die Datenübertragung. Neue, noch komplexere und wirkungsvollere Medien kamen hinzu: Satellitenfernsehen, Kabelfernsehen, Faksimilezeitung, Teletexte, Datenbanken, schliesslich das Internet.

Angesichts des anthropologischen Tatbestandes, dass der Mensch als das lernbedürftigste Wesen, das wir kennen, zur Daseinsbewältigung auf Informationen,  auf Wissen angewiesen ist, erscheinen auf den ersten Blick die Fortschritte bei der Informationserfassung und Informationsweitergabe positiv. Diese Einschätzung wird jedoch fragwürdig, wenn man sich die Frage stellt, was für eine Welt wir uns angesichts der Steigerung unseres Wissens eingerichtet haben. Die Welt des solchermassen informierten Menschen bietet trotz - oder gerade auch wegen? -  dieser Informationsflut das Bild zunehmender Krisen: Individuelle Miseren und kollektive Katastrophen sind nicht zu übersehen.

Damit ist auf die weltweiten Beschädigungen und Gefährdungen unserer Lebenswelt verwiesen, die nichts deutlicher machen als die Einsicht, dass die gegenwärtige Steigerung des Wissens, die Informationsflut, kein Damm ist gegen die Barberei des Menschen; im Gegenteil. Wir beobachten heute Auseinandersetzungen zwischen Einzelnen und Gruppen, die in unsinniger Weise sich selbst verabsolutieren; es herrscht die Unfähigkeit vor, gewonnene Einsichten in vernünftiges, also zukunftsfähiges planendes Handeln umzusetzen.

Angesichts dieser Einschätzung der gegenwärtigen Weltlage wird man zurückverwiesen auf die Frage nach der Qualität der modernen Informationsflut. Welches Wissen häufen wir an?

Statt verstehenden Wissens wird fast nur noch instrumentelles Wissen vermittelt; es kommt zu einem tiefgreifenden Verständnisverlust.

Wir wissen immer mehr, und dennoch: Wir verstehen immer weniger.

Die Informationsflut ermöglicht keine schärfere Wahrnehmung der Wirklichkeit, keine vernünftigere Bewertung des Erkannten und schon gar nicht ein zweckmässigeres, d. h. sinnvolles Handeln. Die modernen Informationen repräsentieren Tatsachen ohne Sinn, Wissen ohne existentiellen Rückbezug auf den Menschen. Dieses Wissen wird zum Mittel, zum Instrument für Zwecke, die nicht mehr reflektiert werden. Ein solchermassen instrumentelles Wissen schafft Erkenntnisse, die im Blick auf ihre Ziele ambivalent bleiben.

Diese Erkenntnisse werden nicht mehr verstanden in ihrer Bedeutung für die Stellung des Menschen im Kosmos; ihre partikular objektive Richtigkeit erschliesst nicht mehr die Wahrheit, die mehr ist als die Summe aller Faktenkenntnisse.


„Wahrheit will mehr als blosse Wissenschaft"


„Wissenschaft geht auf das Zwingende für jeden Verstand, das Denken der Wahrheit auf Überzeugung für menschliche Existenz“ (Karl Jaspers).
Der Mensch ist das auf Sinnerfahrung angelegte Wesen.
Diese Sinnerfahrung misslingt dem Menschen in der Profanität. Er treibt „Erkenntnis ohne Liebe“
(Carl Friedrich v. Weizsäcker).


Indem er dies tut, treibt er masslos massloses instrumentelles Wissen hervor.

Wie kommen wir zu verstehendem Wissen?


Die vertikale Gliederung: Subjektive Interessen und die korrespondierenden Kulturobjektivationen (Wilhelm Dilthey)

Die Welten der Wirtschaft, der Politik, des Rechtes, der Wissenschaften, der Künste werden immer komplexer, ohne dass der Sinn dieser Kulturobjektivationen für den Bildungsprozess des einzelnen oder ganzer Gruppen anschaulich wird. Es fehlt an verstehendem Wissen als Fähigkeit, den Sinn von Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft und Kunst zu erfahren.

Fragen wir danach, was uns als Person interessiert, was uns bedeutsam erscheint in je konkreten Situationen, dann lassen sich zu den soeben genannten Kulturobjektivationen die subjektiven Bedürfnisse ausmachen.

Wir haben davon auszugehen, dass Menschen sich im Daseinshorizont konfrontiert sehen von fundamentalen Erfahrungen des Mangels, des Schmerzes und der Gefahr. Wir erleben unseren Daseinsbereich mithin als ein Gehäuse, in dem wir entweder geborgen sind oder in dem wir unbehaust grenzenlosen Gefährdungen ausgesetzt sind. In diesem durch eigene Erfahrungen erkundeten Daseinsbereich, in dem wir die Welt nicht nur passiv erleiden, sondern als handelnde Person uns dieses Dasein immer auch selbst ermöglichen müssen, wird es für uns bedeutsam, Mangel, Schmerz und Gefahr zu überwinden. Insofern erscheinen uns die Grundthemen des ökonomischen Interesses: Ernährung, Bekleidung, Behausung. Das Motiv dieses spezifisch ökonomischen Interesses ist das Streben sowohl der individuellen als auch der kollektiven Existenz nach Selbstbehauptung. Wirtschaft soll das sicherstellen.

Ausser diesem ökonomischen Interesse ist uns aus der Erfahrung anderer Gefährdungen des Daseins die Möglichkeit der Abwehr von Feinden bedeutsam. Ursprünglich auch ein individuelles Interesse, ist es seit langem auch ein kollektives Interesse der Gruppen, Staaten, Machtblöcke, bei dem es um ein Höchstmaß an Sicherheit geht, d. h. darum, die jeweilige kollektive Existenz vor möglichen sinnwidrigen Einbrüchen von aussen her zu schützen. Das ist ein spezifisch politisches Interesse. Insgesamt soll Politik diese Sicherheit nach aussen gewährleisten.

In der Beziehung des einzelnen zu anderen, verfassungsrechtlich zur Gruppe als solcher ist uns gegenüber einer Vielfalt von Nachteilen, Übervorteilungen, Gefährdungen bedeutsam, uns im Rahmen von Rechtsordnungen zu sichern  mit dem Ziel, den rechtlosen Zustand des Krieges aller gegen alle im Sinne der Selbstbehauptung des einzelnen zu überwinden: rechtliches Interesse. Das positiv gesetzte Recht übernimmt diese Aufgabe.

Der in seinem Streben nach Selbstbehauptung im Bereich vielfältiger Gefährdungen beunruhigte einzelne fragt erregt durch die Vielfalt möglicher Deutungen von Natur, Geschichte und Menschen was ist wahr, was ist eine in der Sache zutreffende Erkenntnis. Angesichts der Möglichkeit von Täuschungen und Irrtümern, der Vielfalt der Aspekte und der Wandlungen fundamentaler Auffassungsweisen, unter denen wir erkennen und in denen die Geschichtlichkeit aller Erkenntnisse als bedeutende Zugriffe des Menschen verständlich werden, ist die Frage nach „Wahrheit“ und der „Richtigkeit“ bedeutsam. Es ist das spezifisch theoretische Interesse, das hier wirksam wird und in den Wissenschaften seinen Ausdruck fand.

Neben dem ökonomischen, politischen, dem rechtlichen und dem theoretischen Interesse ist ein spezifisch ästhetisches Interesse zu beschreiben. Trotz des Wandels aller sog. Kunststile gibt es den gleichbleibenden Versuch, mit Hilfe der Sprache, Musik, Malerei, Baukunst usw. gültige Formulierungen des Selbstverständnisses des Menschen zu entwerfen unter der Fragestellung, was ist „schön“, was „hässlich“? Es sind die Künste, die hier Antworten geben.

In Fortführung der Frage nach der Wahrheit und der Schönheit erscheint uns die andere Frage bedeutsam: Was ist edel, was ist gemein? Was ist fern aller blossen Ideologie, fern von autoritären Geboten, fern von scheinbarer Selbstverständlichkeit – nicht nur in den zwischenmenschlichen Beziehungen eindeutig und verbindlich „gut“? Welche Maße gelten dafür? Wie sind diese Maße zu begründen? Auch diese Grundfragen des spezifisch philosophisch-ethischen Interesses durchziehen die Geschichte des Menschen, und ihre Antworten sind nicht mehr im Zusammenhang des instrumentellen Wissens zu entwerfen. Das ethische Interesse stellt nach dem Zusammenbruch der metaphysischen Systeme die schwer zu beantwortende Frage: Gibt es auf Erden ein verbindliches, universal gültiges Maß? Es ist die Philosophie, mit deren Hilfe wir hier nach Antworten suchen.

Der in Erfahrungen von Mangel, Schmerz und Gefahr bestimmte, aus diesen Erfahrungen heraus vom Streben nach Selbstbehauptung motivierte einzelne wird   überall in der Welt dessen inne, dass er in radikaler Weise immer gefährdet bleibt, letztlich durch den Tod. Deshalb wird auch die Frage bedeutsam: Gibt es wenn nicht in der Welt, so vielleicht überweltlich, metaphysisch Sicherheiten gegen den Tod, gegen alle Undurchdringlichkeiten, Rätsel, Fragwürdigkeiten, Grundlosigkeiten des Daseins? Das religiöse Interesse wird wirksam. Alle grossen Religionen, viele der geschichtlichen Mythologien versuchten auf diese Fragen des in seiner Selbstsorge ruhelosen Menschen zu antworten.

Dieses spezifisch religiöse Interesse erscheint in einem doppelten Bezug. Einmal bleibt es motiviert im Streben nach Selbstbehauptung. Der Bezug religiöser Art auf überweltliche Realisation erlaubt dann, die metaphysischen Ansprüche zu akzeptieren, um der Überwindung der Angst willen. Religion wird dann missbraucht zur Sanktionierung von Herrschaft, Macht und Geltung. Die Befreiung des Menschen von seinem Streben nach Selbstbehauptung bleibt eine scheinbare, das Motiv dieser Befreiung bleibt die Selbstsorge.

Zum anderen kann das religiöse Interesse motiviert sein im Sprengen dieses Strebens nach Selbstbehauptung. Die Person vertraut sich in diesem Sprengen der Selbstbehauptung der neuartigen Wertgestimmtheit einer nicht mehr in der Selbstsorge motivierten Person Struktur an: der „Liebe“.

Hinter diesen radikal verschiedenartigen Auffassungen des religiösen Interesses steht eine radikale Veränderung des Menschen selbst.

Erst der solchermassen veränderte Mensch erfährt in seinem Bildungsprozess jenen Sinn, aus dem heraus es ihm möglich wird, vernünftig Ökonomie und Politik zu treiben, Recht an die Ideen der Gerechtigkeit zu binden, Wissenschaft um der Wahrheit willen fortzuschreiben, Kunst, Philosophie und Religion für ein zukunftsfähiges und darin heute schon sinnvolles Leben zu binden.

M. a. W.: Erst aus den Erfahrungen des ethisch-religiösen Dialogs heraus wird es dem Menschen möglich, das allein in der Selbstsorge motivierte instrumentelle Wissen zu überschreiten. Erst dem solchermassen veränderten Menschen erschliesst sich das verstehende Wissen, das wieder Formen der „Weisheit“ annimmt. Erkenntnis wird aus dem Ursprung der „Liebe“ heraus gewonnen; solche Erkenntnis ist sinnhaft auf den Menschen bezogen. Diese Erkenntnis, die zu verstehendem Wissen führt, wird nicht Ursprung für individuelle Miseren und kollektive Katastrophen.


Die horizontale Gliederung: Prämoderne – Moderne – Postmoderne – Neomoderne

Die materialen Auslegungen der aus den subjektiven Interessen sich heraus entwickelten Kulturobjektivationen von Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Religion unterliegen nun ihrerseits der Geschichtlichkeit.

Prämoderne, moderne, postmoderne und neomoderne Horizonte solcher Auslegungen lassen sich unterscheiden. Am Beispiel der Begründung unbedingt geltender Imperative im Rahmen ethischer Reflexionen sei dieser geschichtliche Wandel veranschaulicht.


Prämoderne


Die „Prämoderne“ steht für die geschlossenen Weltbilder von Antike und Christentum. Der Sinn des kosmischen Ganzen ist metaphysisch von den Göttern für ewig verbürgt bzw. offenbarungstheologisch durch den einen Gott absolut gesetzt. Ziele und Zwecke des Handelns stehen unverbrüchlich fest. Die theozentrische Auslegung von Gott, Mensch und Welt ermöglicht unbedingt geltende Normen mit allgemeinverbindlicher und universalisierbarer Reichweite. Ethik bestimmt sich im Horizont eines antiken und christlichen Humanismus. Die griechischen Kardinaltugenden und der Dekalog konkretisieren das emphatisch verstandene „Liebes“-Gebot dieser Tradition. Man orientiert sich antik an der Idee des Wagenlenkers, der als „nous“ der Animalität und dem Thymos den rechten Weg weist; man orientiert sich christlich am Gedanken der „Imago Dei“, der Gottebenbildlichkeit, die, durch die Sünde gestört bzw. zerstört, durch ein gottgefälliges Leben approximativ wieder herzustellen sei.

Antike, aristotelische Philosophie und christliche Scholastik verknüpfte Thomas von Aquino zu einem umfassenden System. Diese Sichtweise des Seienden schloss die Vorstellung von einem ganzheitlich zu denkenden organischen, lebendigen und spirituellen Universum ein. Der Einheitssinn aller menschlichen Aktivitäten, auch des erkennenden Zugriffs auf die uns tragende Natur, lag nicht im Machen, Beherrschen und Ausbeuten, nicht im Haben, sondern darin, die Bedeutung der Dinge in ihrem Gefügtsein zu verstehen, sie lag im Sein des Seienden selbst. Verantwortliches Handeln, das hiess, den Dingen zu entsprechen, ihrem Wesen gemäss zu leben.


Moderne


In der Prämoderne zahlte man für die verbindliche Geltung der als ewig erfahrenen Werte den Preis der metaphysischen und offenbarungstheologischen Legitimation. Man war vom Glauben durchdrungen. Antik glaubte man an den Ideenhimmel, christlich an den Schöpfer und die durch ihn gesetzte Wertorientierung.

Das ändert sich am Ausgang des Mittelalters. Der Glaube an einen immer schon präsenten ontologischen Sinn wird der Skepsis ausgesetzt. Diese Skepsis ist irreversibel. Um die ethische Substanz von Antike und Christentum zu retten, muss sie ihrer metaphysischen Legitimation entkleidet werden. Die neuzeitlichen Entwürfe eines modernen Welt- und Menschenbildes nehmen jetzt ihren Ausgang bei den erkenntnis- und handlungsbegründenden Bewusstseinsakten eines autonomen Subjektes.

Aus der theozentrischen wird eine anthropozentrische Begründung der Moral.

In diesem Prozess der Aufklärung findet man im Begriff der „Vernunft“ ein neues, verbindliches Sinnkriterium. Dabei unterschied man ursprünglich deutlich „Vernunft“ und „Verstand“. Verstand ermöglicht rationales Denken unter den Kategorien von „richtig“ und „falsch“; „Vernunft“ dagegen vernimmt, was sein soll; sie macht erfahrbar, was „gut“ bzw. was „böse“ ist. Das Schicksal der Aufklärung wird sein, dass sie in ihrer Dialektik zur „instrumentellen Vernunft“ verflacht, die nur noch die Rationalität des Verstandes respektiert und folglich die ethische Verbindlichkeit des Vernunftanspruches aus der Hand gibt.

Kant wusste um diese Differenz von Vernunft und Verstand. Indem er in der „Kritik der reinen Vernunft“, seiner Erkenntnistheorie, menschliches Wissen als begrenzt nachwies – das „Ding an sich“ müssen wir prinzipiell unerkannt liegen lassen -, ermöglichte er in der „Kritik der praktischen Vernunft“, seiner Ethik, mit dem kategorischen Imperativ den Nachweis einer  innerweltlich begründeten verbindlichen normativen Orientierung.

Doch das Projekt Aufklärung vermag die Transformation der theozentrischen in die anthropozentrische Weltauslegung nicht zu meistern. Die Hoffnung, das „Licht der Vernunft“, das lumen naturale, könne das „göttliche Licht“, das lumen supranaturale, ohne Substanzverlust aus der Prämoderne in die Moderne hinüberretten, hat sich bisher noch nicht erfüllt. Aufklärung als Befreiung des Menschen von Mythen, Hexen-Wahn und Götterwelten führt, wie wir geschichtlich schmerzhaft lernen mussten, nicht geradlinig zum humanen Menschen und zu einer humanen Gesellschaft. Die „Dialektik der Aufklärung“ ( Adorno / Horkheimer ) holt bisher die Aufklärer immer wieder ein; sie bleiben einer manipulierenden Rationalität ( Verstand ohne Vernunft ) verhaftet. Die mühsam gewonnenen Schritte der „Freiheit“ führen dann immer wieder nur in neu erzeugte Zwänge.


Postmoderne


„Postmoderne“ ist ein schillernder Begriff. Er umfasst kunsttheoretische, philosophische und sozialtheoretische Konzepte. Attraktiv wurde er als Mode- und Schlagwort in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Im Bemühen, den kulturgeschichtlichen Wertewandel nachzuzeichnen, weiten wir zunächst den Inhalt von „Postmoderne“ aus. Wir nehmen den Begriff beim Wort: Post-Moderne, also das, was als Wertehorizont sich nach der Moderne öffnete. Dann ist die Postmoderne nicht nur eine Modeströmung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. So betrachtet setzt sie bereits da ein, wo die aufgeklärte Vernunft als verbindlicher Wertmass-Stab brüchig wird und schliesslich ihre orientierende Kraft ganz verliert. Das geschieht im Paradigma des naturwissenschaftlichen Positivismus, das sich vom Wertrationalismus der sinnstiftenden Vernunft verabschiedet. Seither leben wir unter den Bedingungen der Heraufkunft des Nihilismus.

Furchtgetriebene und verstandgesteuerte Machtkonkurrenz bestimmt das Handeln. Wissenschaft und Technik verstärken diese Machtkonkurrenz. Wir verwirklichen uns, angesichts individueller Miseren und kollektiver Katastrophen, in einer selbstzerstörerischen Zivilisation, wir leben im Elend der Lieblosigkeit. Carl Friedrich von Weizsäcker: „Die wissenschaftliche und technische Welt der Neuzeit ist das Ergebnis des Wagnisses des Menschen, das Erkenntnis ohne Liebe heisst. Diese Erkenntnis ist an sich weder gut noch böse. Ihr Wert hängt davon ab, in den Dienst welcher Macht sie tritt. Ihr Ideal war, frei von jeder Macht zu sein. So hat sie den Menschen schrittweise aus seinen instinktiven und traditionellen Bindungen gelöst ( also aus den metaphysischen und dogmatischen Bindungen der Prämoderne und der emphatisch gedachten Moderne, P.K. ), aber ihn nicht in die neue Bindung der Liebe geführt. Das äusserste Erlebnis dieser Bindungslosigkeit...ist der Nihilismus“.

Folglich scheiterten die grossen Erzählungen von antikem, christlichem und aufgeklärtem Humanismus, auch die des Kommunismus. Als man beginnt, sich dies einzugestehen, gewinnt vor allem in Frankreich postmodernes Denken Gestalt: u.a. Michel Foucault und Jean-François Lyotard. Man wendet sich nachdrücklich gegen moderne Konzepte von gesellschaftlichen und politischen „Systemen“, man kämpft gegen die moderne Annahme, dass solche Systeme durchschaubar und beherrschbar seien, man wendet sich vor allem gegen Gesellschaftsutopien und Totalitarismen jeder Art. In ihnen sieht man Vereinheitlichungszwänge bis hin zum Terror der einen Meinung, weil Partikulares illegitim für das Ganze genommen werde. Eine antitotalitäre Grundeinstellung bestimmt postmodernes Denken und postmoderne Lebenspraxis. Statt eines universalisierbaren verbindlichen Einheitssinnes strebt man bewusst nach radikaler Pluralität und postuliert das unüberschreitbare Recht des hochgradig Differenten.

In seiner Arbeit „Das postmoderne Wissen“ geht Lyotard von der These aus, „dass das Wissen in derselben Zeit, in der die Gesellschaften in das so genannte postindustrielle und die Kulturen in das so genannte postmoderne Zeitalter eintreten, sein Statut wechselt“.  Es kommt zum „Zerfall der grossen Erzählungen“, was bedeutet, dass die Handlungsregeln, die von diesen Erzählungen überliefert wurden, nicht mehr gelten. Mehr noch: „Das alte Prinzip, wonach der Wissenserwerb unauflösbar mit der Bildung des Geistes und selbst der Person verbunden ist, verfällt mehr und mehr“.

Wenn aber Vernunft, Person, Bildung ihren Sinn verlieren, dann ist auch keine Ethik mehr zu begründen, die zu verbindlichen und allgemeingültigen Werten führt. Die Heterogenität auch der ethischen Sprachspiele und Diskurse ist dann anzuerkennen, der darin erfahrbare Widerstreit muss ausgehalten werden, indem er unversöhnt bestehen bleibt. Die radikale Pluralität als positive Vision und das eingeklagte unüberschreitbare Recht des hochgradig Differenten führt im postmodernen Denken notwendigerweise in die Sackgasse des ethischen Pluralismus und damit auch des ethischen Relativismus.

(Dass die Postmoderne faktisch, eben weil ihr ein verbindlicher ethischer Mass-Stab fehlt, mit blinder Begeisterung die anonyme Knechtschaft der Monetarisierung aller Lebensbereiche erträgt, sei wenigstens angemerkt; man denke nur an die lebensfeindlichen Tendenzen der aktuellen ökonomischen Globalisierung.)

Damit stehen wir vor einem ethischen Abgrund.

Überträgt man Lyotards Diktum, dass es „keinen Übergang vom Universum des Satzes des Deportierten zu dem des Satzes der SS“ gebe, von der deskriptiven auf die präskriptive Ebene, dann ist, wohlgemerkt: wissenschaftlich, den Forderungen etwa der Bergpredigt das gleiche Recht zuzusprechen wie den Gedanken und Taten menschenverachtender Diktatoren. Dass ein solches Urteil in aller Regel unseren elementarsten Intuitionen zuwiderläuft, ist keine rationale Begründung für den Vorzug der Sätze der Bergpredigt!


Neomoderne


Es geht also nicht um einen naiven Rückgriff in die Prämoderne, und es geht auch nicht um eine unkritische Wiederholung der Moderne. Wohl aber wird die autonome Letztbegründung einer universalisierbaren Ethik, auch jenseits religiöser Dogmatik, versucht. Ziel ist die Vollendung der Aufklärung als metaphysisch offene rationale Begründung existentieller normativer Grunderfahrungen mit universalisierbarem Anspruch.

Vier Anwege zu diesem Ziel wären zu diskutieren:

  • die „Rehabilitierung des objektiven Idealismus“ von Vittorio Hösle und
  • die „existentielle Empirie“ von Hans Wittig.

Angesichts der Steigerung technischer Zweckrationalität und im Blick auf den Verfall vernünftiger Wertrationalität wird in diesen Konzepten versucht, den postmodernen ethischen Relativismus und Indifferentismus zu überwinden, ohne dem unaufgeklärten Dogmatismus der Religionen  zu verfallen. In einer kritischen Anknüpfung an Kant wird die Pflicht begründet, der Zerstörung der Vernunft entgegenzuwirken. Die komplexe Argumentationsstruktur dieser Konzepte soll hier  nicht nachgezeichnet werden. In herausragender Weise leistet das Michael Grossmann: „Wertrationalität und notwendige Bildung“.


Im folgenden werden nur wenige Hinweise zur Transzendentalpragmatik und zur existentiellen Empirie gegeben.

Postmodernes Denken würde negieren, dass es Sätze mit universaler Gültigkeit gibt. Dagegen argumentiert man im Umfeld der Transzendentalpragmatik: Es gibt letztbegründete, deskriptive Sätze mit universaler Geltung. Ein Satz ist letztbegründet, wenn er nicht mehr weiter begründbar ist, ohne ihn selber schon vorauszusetzen, und bei dessen Negation man in einen performativen Selbstwiderspruch gerät. Ein solcher Satz ist z.B. dieser: „Es gibt wahre Sätze.“ Auch auf der normativen Ebene gibt es letztbegründete Sätze wie z.B. diesen: „Dialogbereitschaft soll sein“. Wer diesen Satz bestreitet, auch der gerät unweigerlich in einen performativen Selbstwiderspruch, denn im Sprechakt des Bestreitens macht man ja vom Dialog Gebrauch. Und auch dieser Satz ist nicht begründbar, ohne selbst schon vorausgesetzt zu werden, denn wer ihn im Dialog noch weiter begründen will, muss ihn bereits voraussetzen. Der normative Satz „Dialogbereitschaft soll sein“ ist nun keineswegs belanglos. Im Prinzip enthält er eine Anerkennung des kategorischen Imperativs.

„Pragmatik“ meint hier die Lehre vom Sprachhandeln und „Transzendentalpragmatik“ die Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit von Sprachhandeln und sprachlicher Verständigung. Eine derartige Bedingung ist Dialogbereitschaft. Wer argumentiert, setzt immer schon voraus, dass er im Diskurs zu wahren Erkenntnissen kommen kann, d.h. dass es Wahrheit gibt. Er setzt ferner voraus, dass der Gesprächspartner im Prinzip der Erkenntnis der Wahrheit fähig ist. Er hat ihn damit als Person anerkannt. Diese Argumentationssituation ist für jeden Argumentierenden unhintergehbar. Die gemeinsame Suche nach der Wahrheit ist keine strategische Machtkonkurrenz. Wer also ernsthaft (!) argumentiert, hat sich bereits auf den Vorrang des besseren Arguments eingelassen, unabhängig davon, wer es verwendet. Damit hat er die furchtgetriebene und verstandgesteuerte Machtkonkurrenz vernünftig überwunden, er hat sich der Person des Gesprächspartners geöffnet, also dessen Würde anerkannt. Argumentativ ist aus dieser Haltung heraus eine egoistische Ethik der Durchsetzung, eine Ethik von Macht und Gewalt ebenso wenig möglich wie eine völlige Negierung ethischer Ansprüche, denn man praktiziert ja bereits eine ethisch positive Grundhaltung.

Etwas ganz anderes ist es, ob wir die gemeinsam gefundene Wahrheit auch anerkennen. Der letztbegründeten universal geltenden Wahrheit „Dialogbereitschaft soll sein!“ kann man auch ausweichen, indem man aus dem Feld geht oder physische Gewalt anwendet, statt zu argumentieren.

Deshalb ist es sinnvoll, zwischen Genese, Geltung, Anerkennung und Durchsetzung von ethisch begründeten Normen zu unterscheiden.

Die genetisch, also historisch letzte vorherrschende Position in der Ethikdiskussion ist die der Postmoderne mit der Negierung der Vernunft. Die genetisch aktuellste Erkenntnis muss aber nicht zwangsläufig auch die in der Geltung wertranghöchste sein. Die Argumente in der Neomoderne rehabilitieren ja gerade die Vernunft und zeigen ihren unhintergehbaren universalen Wert. Die rationale Begründung der Vernunft als universalen Wert hat aber nicht zwangsläufig deren Anerkennung und Durchsetzung zur Folge. Dazu bedarf es der entsprechenden Wert-Erfahrungen.

Eine existentielle Empirie ist notwendig.

Existentielle Empirie und rationale Ethikbegründung fundieren sich nun wechselseitig. Rational begründete ethische Postulate ohne entsprechende Werterfahrungen bleiben im Lebensvollzug unverbindlich; Werterfahrungen ohne rationale Ethikbegründung laufen Gefahr, nur Ausdruck von Partikularinteressen zu sein. Insofern gehört zur rationalen Ethikbegründung zugleich auch die Emporbildung der handelnden Person. Vernunft, Person und Bildung werden so zur Bedingung der Möglichkeit einer sittlich sich bewährenden Existenz. Und diese wird so der Grund für eine gelingende Zukunft.
 


Literatur: Michale Großmann: Wertrationalität und notwendige Bildung, Verl. Peter Lang, FFM (2003) ISBN-10: 3-631-51346-1