Je ne suis pas Charlie oder: Der 7. Januar als Neuauflage von 9/11

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Je ne suis pas Charlie oder: Der 7. Januar als Neuauflage von 9/11
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Je ne suis pas Charlie oder: Der 7. Januar als Neuauflage von 9/11

Wider Verlogenheit und Größenwahn deutscher Medien

von Conrad Schuhler / Vorsitzender des isw (Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.) 

Die Toten in Paris waren noch nicht bestattet, da hatten sich auch in Deutschland Publizisten und Journalisten aller Art schon in Positur geworfen: Wir alle sind Charlie, wir Journalisten werden auch weiterhin unter Lebensgefahr für Meinungsfreiheit, Wahrheit und die Verteidigung der demokratischen Werte in Europa kämpfen. So, unter anderen, der Herausgeber des Handelsblattes. Der Chef des Springer-Konzerns, Döpfner, ernannte den 7.1., den Tag der Pariser Attentate, zum neuen „9/11“, dem Beginn des „Kampfes gegen Terrorismus“ nach dem verheerenden Anschlag auf das World Trade Center in New York. Die Spiegel-Redaktion trat in voller Mann-und Frauschaftsstärke vor die Kamera und reckte Plakate in die Luft: Je suis Charlie.


„Wir sind Charlie“ wurde „zum Symbol für die bedrohte Öffentlichkeit und demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung insgesamt“ (Süddeutsche Zeitung). Viele haben die Losung aus diesem respektablen Grund in die Höhe gehalten. Viele andere haben es getan, die schon dabei sind, Meinungsfreiheit einzuschränken, Menschen auszugliedern aus der Solidar- und Rechtsgemeinschaft. Viele reden von einer „Attacke auf die Republik, auf die Werte der Aufklärung und der Französischen Revolution“ (Spiegel), und sind dabei, mit dem französischen 9/11 einen neuen „Kampf gegen den Terrorismus“ einzuläuten, bei dem diese Werte auf der Strecke bleiben würden.

Drei Fragen sind zu stellen:

1.) Steht Charlie Hebdo für die Meinungsfreiheit, auf die uns die Werte der Aufklärung verpflichten?

2.) Was ist von den Propagandisten des „Je suis Charlie“ in den deutschen Groß-Medien zu halten? Haben wir es hier mit Aufklärern zu tun oder nicht eher mit dem Gegenteil?

3.) Was steht uns bevor in der angekündigten neuen Offensive im „Kampf gegen den Terrorismus“?

Charlie Hebdo – linke Karikaturen für den rechten Fremdenhass

Der Mord an den 12 Redakteuren und Zeichnern und Schutz- und Reinigungspersonen von Charlie Hebdo ist schauerlich. Er ist selbstverständlich durch nichts zu rechtfertigen oder zu verharmlosen. Es muss alles getan werden, um ähnliche Schauertaten zu verhindern.

Das sagt aber nichts über die humanistische Qualität der Produkte von Charlie Hebdo. Die sind zumindest ambivalent. (Vgl. Harald Neuber: Das wird man doch wohl noch zeichnen dürfen! (⇒ Artikel bei Heise / TELEPOLIS). Ihre Muslim-Karikaturen sind in der Regel abstoßend. Ein scharfnasiger, glupschäugiger Mohammed wird mit seinen dümmlich-ironischen Sprüchen lächerlich gemacht. Das Argument der Verteidiger dieser Manier der Schmähung lautet, Charlie Hebdo mache das durchgängig so mit allen Religionen. Es ist aber ein gewaltiger Unterschied, ob ein Magazin eine Religion angreift und schmäht, die im Lande eine überragende politische Gestaltungsmacht besitzt, oder ob sie sich gegen eine Minderheit richtet, wo ihre fremdenfeindlichen Gegner nur auf Munition gegen den verhassten Gegner warten. Nicht umsonst hat Pegida eine Trauer-Veranstaltung mit den Charlie-Opfern mit über 25.000 Teilnehmern in Dresden organisieren können. Man trauert mit den Opfern und fühlt sich einig im Abscheu über die Muslim-Objekte der satirischen Kritik. Dieses Zusammenspiel von aufklärerisch gemeinter Satire mit übelster rechter Agitation wird von den Satirikern natürlich nicht eingeplant, aber auch nicht mitbedacht. Es ist aber ein Faktum.

Zur Satire gegen Minderheiten muss man sich nur folgende Vorstellung vor Augen halten: In Deutschland würden Magazine Juden nur noch als hakennasige, verschlagen blickende Figuren auftauchen lassen, die Hand am Bank-Computer, am Telefon die Gruppe der Verfolger unschuldiger Kinder. Alles (modifizierte) mediale Stereotype der Nazizeit. Die Israelitische Kultusgemeinde würde Sturm laufen gegen solche „Aufklärung“. Und dies zu Recht, und hoffentlich mit Unterstützung aller Demokraten.

Dasselbe muss aber auch für die Minderheit der Muslims gelten. Der französische Autor Michel Houellebecq, mit seinem Roman „Unterwerfung“ mitten im Tumult um den 7.1., hielt zwar den Islam für die dümmste aller dummen Religionen, die alle abgeschafft gehörten, aber Demokraten dürfen darüber das Gleichheitsgebot nicht vernachlässigen.


Deutsche Medien: Wir sind Charlie. Welch ein Witz.

Die Pose deutscher Medien als Brüder und Schwestern im Geiste von Charlie ist in aller Regel pure Heuchelei. Harald Neuber führt in dem zitierten Artikel folgende Fälle an: Der WDR hat das Attentat von Paris als „Anschlag auf die Freiheit“ gegeißelt. Doch hat der WDR das Musikvideo von Carolin Kebekus, die kirchenkritische Sendung „Dunk dem Herrn“, Mitte 2013 kräftig zensiert. Die Berliner Zeitung, die sich als Charlie-Kombattantin hervortut, hat die Zensur der Kölner Kabarettistin damals so kommentiert: „Der Skandal besteht nicht darin, dass der WDR dieses Video bearbeitet hat. Der Skandal besteht darin, dass der WDR Carolin Kebekus überhaupt eine Sendung gegeben hat.“

Neubers Schlussfolgerung: „Die Mehrheit der Journalisten und Redaktionsleiter, die heute ein Din-A4-Papier mit dem Aufdruck „Je suis Charlie“ in die Kamera halten, hätten gestern noch eine Publikation von Karikaturen dieser Zeitschrift abgelehnt.“ Man darf hinzufügen: Hätten sich diese Karikaturen gegen christliche Personen und Inhalte gerichtet.

Unsere „Leitmedien“ sind willige Mitstreiter für die Mächtigen im Reich der „Werte des christlichen Abendlands“, ihre Chefs sind Teil von deren Eliten. So gehören die außenpolitischen Spitzen von SZ (Kornelius), FAZ (Frankenberger), Welt (Stürmer) und Zeit (Joffe) eng in Netzwerke transatlantischer Eliten. Dementsprechend sehen ihre Stellungnahmen über eine Welt, die immer gefährlicher werde und ein höheres NATO-Engagement verlange, auch aus (vgl. Uwe Krüger: Meinungsmacht. Köln 2013). Und dem-entsprechend auch die Kennzeichnung des Islam, der die Hauptquelle der internationalen Friedensgefahr geworden sei. Das Pariser Attentat ist für diese Propagandisten Munition für ihre immer aggressivere Innen- und Außenpolitik.


7/1: Neue Welle im „Kampf gegen den Terrorismus“

Eines der abscheulichsten Bilder von der „Welthauptstadt Paris“ zeigte das Defilé der Staatschefs bei der „ersten internationalen Demonstration gegen den Terrorismus“. In der ersten Reihe, knapp getrennt von Frankreichs Präsident Hollande, marschierte Israels Regierungschef Netanjahu. Ein französischer Muslim hat dazu den passenden Satz gesagt: „Ihr seid einen Tag Charlie, aber wir sind jeden Tag Gaza.“ (SZ) Der politische Hauptverantwortliche für täglichen Terror gegen hunderttausende Palästinenser darf sich in Paris als Opfer des Terrors darstellen – und als Rächer.

Denn darum geht es natürlich. Von Paris soll die neue Welle im „Kampf gegen den Terrorismus“ ausgehen, der 7.1.15 als der zweite 9/11. Was war damals geschehen, nach 2001?

Der Irak wurde von den USA und seinen „willigen Verbündeten“ überfallen. Hunderttausende starben. Afghanistan wurde überfallen. Hunderttausende starben. Syrien wurde zerrissen. Hunderttausende starben. Die NSA überzog die Welt mit einem totalen Überwachungsnetz. Privatsphäre und geschützte politische Basisarbeit sind völlig überholte Begriffe in unserer Lebenswelt. „Big Brother“ ist die Realität, und „Big Gun“ – Konflikte werden nach Waffengewalt entschieden. Was steht uns bevor mit dem „7.1.“?

Das Handelsblatt, ein Zentralorgan der wirtschaftlichen Eliten Deutschlands, hat nach dem 7.1. ein „Manifest der Freiheit“ publiziert. „11 Werte, auf die es jetzt ankommt“, werden herausgestellt. Darin heißt es: „Europa muss nicht nur seine gemeinsame Währung, sondern wir müssen auch unsere gemeinsamen Werte bewahren.“ Und als letzten Schluss: „Der ökonomische Erfolg der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union ist ganz grundlegend mit dem rechtlichen Schutz des Eigentums verbunden.“

Wir sollen Hass auf Migranten und Muslime und vielleicht bald auch auf Griechen erleben, neue Kriege, wo immer geboten (Afrika!), mehr Opfer der Armen und Prekarisierten – fundamental bleibt: „der rechtliche Schutz des Eigentums“.

In diesem Sinne: Je ne suis pas Charlie.   

Conrad Schuhler



Mehr Informationen und Fragen zur isw:

isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.

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Das isw versteht sich als Wirtschaftsforschungs-Institut, das alternativ zum neoliberalen Mainstream Analysen, Argumente und Fakten für die wissenschaftliche und soziale Auseinandersetzung anbietet. Unsere Themen und Forschungen beziehen sich deshalb in besonderem Maß auf die "Bedürfnisse" von Gewerkschaften und von sozialen, ökologischen und Friedensbewegungen. Unser Anspruch ist, Wissenschaft in verständlicher Form darzustellen und anschaulich aufzubereiten. Deshalb sind isw-Ausarbeitungen auch besonders geeignet für Unterricht und Schulungsarbeit und als Grundlage für Referate und Diskussionen. Die Mehrheit unserer LeserInnen, AbonnentInnen und Förder-Mitglieder sind Menschen, die sich in Bewegungen und Gewerkschaften engagieren.

  • Im Zentrum unserer wissenschaftlichen Analysen und Forschungsarbeit stehen Fragen und Probleme der Globalisierung, der Bewegung des transnationalen Kapitals, der Rolle und Wirkungen der Multis und transnationalen Institutionen (IWF, WTO, OECD, G7, etc).
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  • Im Rahmen der Friedensforschung befassen wir uns mit Aspekten der Rüstungsökonomie (z.B. Konzentration in der Rüstungsindustrie), der Militärstrategie und Auswirkungen von Rüstung und Krieg.
  • Im ökologischen Bereich konzentrieren wir uns auf Fragen der Energiewirtschaft und -konzerne.
  • Schließlich beschäftigen wir uns kontinuierlich mit Untersuchungen zur Entwicklung der Sozialsysteme, der Konjunktur- und zyklischen Entwicklung der Weltwirtschaft.

Auf Veranstaltungen und jährlich stattfindenden isw-Foren werden Erfahrungen ausgetauscht, Gegenstrategien diskutiert und Alternativen erarbeitet. Wir freuen uns über Vorschläge und Anregungen, aber auch über solidarische Kritik.

 

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Bild- u. Grafikquellen:

1. The Million Merkel March: "Je suis Angela". Photo illustration: Esther C. Werdiger (draws, writes and podcasts), New York.. Quelle: Esthers Twitter-Account ThatSoundsAce. Esther ist ART DIRECTOR for the jewish TABLET MAGAZINE, New York. Der Anlass für diese Merkel-Illustration: On Jan. 14, 2015, the Associated Press reported: “A small Jewish ultra-Orthodox newspaper in Israel is making waves internationally for removing German Chancellor Angela Merkel from a photo of this week’s Paris march out of modesty.” Eine kleine Zeitung aus Israel duldet aus religiösen Gründen keine Frauenbilder in der Öffentlichkeit und schnitt daher Merkel aus dem Originalbild. Werdiger schnitt daher Merkel über 12x in das Bild.

2. Propaganda-Poster "YOU WRITE WHAT YOU`RE TOLD! Thanks, corporate news! We couldn’t control the people without you” Zu Beginn des Vietnamkrieges berichteten damals US-amerikanische Mainstream-Medien in Wort und Bild offen und detailiert über das blutige Gemetzel ihrer Kameraden, bis die Stimmung im Lande und weltweit in Empörung und Ablehnung kippte. Heldentum und Patriotismus waren angekratzt. Die US-Regierung reagierte und beschloß, fortan den Informationsfluß hinsichtlich dessen, was veröffentlicht werden sollte, zu kontrollieren. Man produzierte verharmlosende Propaganda-Informationen und schränkte u.a. auch die Zugangsberechtigung einiger ausgewählter Medienvertreter ein. Irgendwann kreierte jemand dieses Poster als "DANK" für die Manipulation und Einschränkung der Pressefreiheit. Es ist natürlich im sarkastischen Ton gehalten um sich über die Regierung mit diesem Versuch einer Gegen-Propaganda lustig zu machen, sie öffentlich zu blamieren und um beim Betrachter negative Gefühle auszulösen.   

Seit dem "hässlichen" Vietmankrieg verloren noch mehr US-Amerikaner ihr Vertrauen, sowohl in ihre Regierung als auch in die Massenmedien. Viele Verlage wurden geschlossen oder "übernommen" und embedded. Es ist mehr als auffällig, daß sie während und nach einem weiteren Krieg oder militärischer Intervention - so grausam, opferbringend und teuer es auch sein mag - am Ende immer positiver an der Seite der Präsidenten stehen, als noch zuvor. Nach 9/11 ist es besonders schlimm. Bush und Obama dürfen sich fast alle Schweinereien nahezu kritiklos erlauben, weil sie - wie auch die Medien - zu Marionetten verkommen sind. Das oben dargestellte Plakat war überall in den USA öffentlich zu sehen und dürfte sein Ziel, die Öffentlichkeit weiter zu sensibilisieren, nicht verfehlt haben.