Keine Verkehrswende ohne Überwindung der Autokultur
v. Meinhard Creydt
(eine gekürzte Fassung erschien in: Sozialistische Zeitung 7/8 2009, 24. Jg.)
Das Anliegen, zu zentralen gesellschaftlichen Querschnittsproblemen umfassende Alternativen aufzuzeigen, wie im Artikel von Angela Klein („Eine Verkehrswende für Europa“, Sozialist. Zeitung 6/09, S. 11), ist begrüßenswert. „Eine andere Welt ist möglich“ – substantielle Konkretisierungen dieser Parole, die über Umverteilungen hinausgehen und qualitativ den gesellschaftlichen Stoffwechsel betreffen, verdienen mehr öffentliche Verbreitung und Diskussion. Allerdings sollte es sich niemand mit dem Gegner zu leicht machen. D. h. beim Thema Autoverkehr, sein systemrelevantes Gewicht für die Kapitalakkumulation sowie seine subjektiven Dimensionen ernst zu nehmen.
Im Artikel ist allein von 800.000 Beschäftigten in der deutschen Autobranche die Rede. Abgesehen wird von den 2004 gemeldeten 665.900 Beschäftigten im Kfz-Handel, in der Kfz-Reparatur, in Tankstellen (Statist. Jahrbuch 2007, S. 400), von jenen Arbeitsplätzen, die sich der Herstellung von Maschinen und Betriebsstoffen für die Autoindustrie, das Kfz-Gewerbe und den Autoverkehr verdanken, sowie von vom Autoverkehr abhängigen Arbeitsplätzen in Straßenbau und Verkehrspolizei sowie in Fahrschulen, Rechtsschutz, KFZ-Versicherung, TÜV, Parkhäusern u. ä. Bei der in der Diskussion oft anzutreffenden Angabe, ein Siebtel der deutschen Arbeitsplätze hänge von der Autoindustrie ab, ist unklar, ob es sich um eine zutreffende Zahl oder um eine Übertreibung der Auto-Lobby handelt. Auch für den Luftverkehr gibt der Artikel allein die Zahl von 60.000 Beschäftigten in der deutschen Flugzeugfertigung an. Anders sieht die Arbeitsmarktrelevanz des Luftverkehrs aus, wenn der Lobbyverband ‚Initiative Luftverkehr’ „283.000 direkte, qualifizierte Arbeitsplätze“ nennt – „in der Luftverkehrsindustrie, bei den Luftverkehrsgesellschaften, den Verkehrsflughäfen und bei der Flugsicherung. Zusammen mit den indirekten und induzierten Arbeitsplätzen hängen in Deutschland heute rund 850.000 Arbeitsplätze vom Luftverkehr ab“ (http://www.initiative-luftverkehr.de/perspektiven/index.html).
Im Kapitalismus lassen sich die Ausgaben für nichtmehrwertproduktive Tätigkeiten nicht beliebig, sondern nicht ohne Rücksicht auf das Florieren des Kapitals vermehren. Wer meint, der Wegfall von mehrwert p r o d u k t i v e n Arbeitsplätzen in der Autobranche sei durch neu entstandene mehrwert u n p r o d u k t i v e Arbeitsplätze z. B. im öffentlichen Transportwesen zu kompensieren, argumentiert stofflich. Und sieht von den wirtschaftlichen und dann auch politischen Folgeproblemen ab, die entstünden, wenn in einer kapitalistischen Gesellschaft mit dem Ansinnen ernstgemacht würde, eine mehrwertproduktive Schlüsselindustrie zu schrumpfen.
Kapitalismuskritik konzentriert sich oft auf Ökonomie und Politik und sieht ab von der zu den angeblichen Sachzwängen komplementären und (über-)kompensatorischen Entfaltung problematischer Aufmerksamkeiten, Sinne und Leidenschaften. Nicht nur das Reich der wirklichen oder vermeintlichen Notwendigkeiten, auch das Reich der Freiheiten ist fragwürdig. Die für (post-)moderne Bürger einschlägige Kultur im weiten Sinne habe ich analysiert und kritisiert auf S. 328-367 meines Buches ‚Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit’ (Frankf. M. 2000) und in auf meiner Netzseite http://www.meinhard-creydt.de (Rubrik Kultur) enthaltenen Artikeln. Die Autokultur stellt eine Teilmenge dieser Kultur dar. An ihr (aber auch z. B. an Tourismus und Kulturindustrie als weiteren wesentlichen Wirtschaftsfaktoren) zeigt sich, dass Kulturkritik sich zum Werktag nicht wie der Feierabend oder Sonntag verhält. Vielmehr geht die Infragestellung zentraler Produkte des modernen kapitalistischen Wirtschaftslebens nicht ohne die Kritik an der ihnen vorausgesetzten und durch sie bedienten Kultur.
Das Auto ermöglicht den Genuss an der Geschwindigkeit, das Erproben und Bewältigen von Fahrtechnik, das mit dem Fahren verbundene praktische Umgangsknowhow usw. Diese Sinne, Fähigkeiten und Leidenschaften übersteigen die unmittelbare Nützlichkeit des Autos als Fortbewegungsmittel und betreffen seine Attraktivität als Objekt, an dem sich Sinne und Fähigkeiten entfalten lassen. Beim Auto geht es u. a. um die Freude am kraftvollen Motorengeräusch und um den Genuss am Gleiten. „Die Art, wie man die amerikanischen Schlitten anspringen lässt, wie sie dank Automatik und vorgeschriebener Richtung sanft abheben, sich ohne Anstrengung losmachen, den Raum geräuschlos verschlingen, ohne Erschütterung dahingleiten …, stotternd, doch weich bremsen, wie auf einem Luftkissen vorwärtsgleiten … . Die Intelligenz der amerikanischen Gesellschaft beruht gänzlich auf einer Anthropologie der Automobilgewohnheiten – die viel aufschlussreicher als politische Ideen sind“ (Baudrillard 1987, 79). Das „Gleiten als Bewegung“ wird durch „das Kontinuierliche, Mühelose“ attraktiv. „Das Gleiten gibt uns Weite. Darum sind gleitende Bewegungen meist erfreulich. Sie steigern das Erlebnis des Könnens, geben ein Bewusstsein der vitalen Freiheit. Aber das Gleiten verlangt als kontinuierliche Bewegung eine Fortdauer, eine Bestätigung gleichsam des früheren Momentes durch den späteren. Das Gleiten kennt keinen Halt und keine Ruhe. Dieses Ohne-Halt-Sein des Gleitens ist das Beglückende und das Bedrohliche am Gleiten und an der Glätte, die wir im Empfinden noch nicht voneinander trennen können“ (Straus 1956, 386). „Ausgelöscht sind das Empfinden der Oberflächenbeschaffenheit wie Rasen, Kopfsteinpflaster … auch kleine klimatische Wechsel … Konstante Temperatur, Radio oder Unterhaltung entrücken aus der Umgebung .. Häufig kommt einem auf der Autobahn … das Gefühl des Treibens oder Schwebens an“ (Appleyard 1969, 177 zit. n. Schönhammer 1991, 4).
Auch der Kontrast des Autos zum Zustand des öffentlichen Personen’nah’verkehrs macht es attraktiv. Tom Wolfe formuliert das gereizte Unbehagen in einem überfüllten U-Bahnwagen, wenn er ihn als „Fleischbüchse auf Rädern“, als „Rattenmühle“, als „ekligen menschlichen Brei“ beschreibt (Wolfe 1985, 30). Das Auto verdankt seine positive Besetzung auch der durch es möglichen, vergleichsweise höheren individuellen Kontrolle in einer unkontrollierbaren Umwelt. Die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel befinden sich gegenwärtig oft in einer ähnlichen Lage wie Versuchstiere, an denen man das Konzept der ‚gelernten Hilflosigkeit’ ausprobiert. Der private Besitz des Autos erlaubt demgegenüber eine ständige Verfügbarkeit des Autos, das quasi auf seinen Benutzer wartet und ihm im Gedränge und Gewühl wenigstens eine kleine Welt für sich ermöglicht. Zutritt zum Auto hat nur sein Besitzer und von ihm erwünschte Personen. Es wird mit dem Auto möglich, die „abgeschlossene Privatexistenz“ nicht erst nach den Durststrecken des ÖP“N“V zu erreichen, sondern „vor der Tür des Arbeitsplatzes im eigenen Auto sozusagen zu sich selbst kommen zu können und damit schon zu Hause, und d.h. unabhängig zu sein“ (Kob 1966, 187). Im Auto können die Individuen den harten Wechsel zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit abmildern, langsam die Rollen wechseln. „Die Abteile der Eisenbahn und die Kabinen der Schiffe wechseln die Menschen wie die Menschen das Geld, die vier Wände des Autos aber bleiben unser eigen, sie warten nicht nur auf uns, sie bewahren auch all die Notdürftigkeiten und liebenswürdigen Dinge, die uns in der Fremde unentbehrlich scheinen“ (Hornickel 1968, 53). Zentral für die Attraktivität des Autos ist die ihm gesellschaftlich zukommende Eigenschaft als „Unabhängigkeitsmaschine“ (Schönhammer 1991, 157). Micha Hilgers (1997, 124ff.) hat zur Psychologie der Autonutzung weitere wesentliche Faktoren aufgeführt: Eine gewisse nervenkitzelige Angstlust ist mit den Gefahren des Autofahrens verbunden. Und Größenphantasien aufgrund des Kraft- und Machtzuwaches, den das Auto ermöglicht. Das Auto erlaubt es, den Kontakt mit Betrunkenen, „Pennern“ u. ä. zu vermeiden, der sich im öffentlichen Nahverkehr nicht vermeiden lässt. Das Auto bildet einen wesentlichen Bestandteil einer Pseudo-Identität usw. Der motorisierte Individualverkehr lädt dazu ein, die mit ihm verbundenen Gefährdungssituationen zu verdrängen oder Unfälle schlechten Fahrern zuzuschreiben. Die imaginäre Selbststärkung durch die mit dem Autofahren verbundenen Fähigkeiten und Sinne und die mit ihnen verbundenen Kontrollillusionen verbinden sich mit vielfach bestätigten Befragungsbefunde, „wonach sich mehr als 99% der Fahrer gegenseitig zumuten, zu den Fahrern mit unterdurchschnittlichem Fahrkönnen zu gehören, während sie sich selbst dies weniger als 1 % zumuten“ (Klebelsberg 1982, 102). Viele in der Autokultur zur Geltung kommenden Sinne und Leidenschaften sind vom Mangel an menschlichem Bezug auf andere Menschen, vom Mangel an Gestaltung einer gemeinsamen Welt und durch die Vorherrschaft selbstbezogener Empfindungen gekennzeichnet.
Kann eingewandt werden, die Freude am Auto sei eine Angelegenheit der Vergangenheit, in der es noch keine oder weit weniger Staus gegeben habe ? Diese Auffassung setzt erstens voraus, dass nur die Zahl der Autos, nicht die Straßenkapazität gewachsen sei. Zweitens werden die staureduzierenden Effekte differenzierter Arbeitszeiten übergangen. Drittens scheint diese Auffassung davon auszugehen, dass die Mehrheit der Autofahrten im Berufsverkehr stattfinden. In ihm sind die Staugefahren am größten und die Möglichkeiten des Ausweichens am geringsten. Tatsächlich verteilen sich 2003 im motorisierten Individualverkehr (Auto und motorisiertes Zweirad) 307, 7 Mrd. Personen-Kilometer auf Fahrten, die mit dem Erwerbs- und Geschäftsleben zu tun haben, 360,6 Mrd. auf freizeit- und urlaubsbezogene Fahrten. Es entfallen 167,9 Mrd. Personen-Kilometer auf berufsbezogenen Verkehr, 17,2 auf ausbildungsbezogene Fahrten, 122,6 auf Geschäftsfahrten, 162,5 auf Einkauf, 306,6 auf Freizeit, 54,1 auf Urlaub (Bundesministerium für Verkehr: Verkehr in Zahlen 2005/2006, S. 241). Bei Freizeit- und Urlaubsfahrten, die die Mehrheit des Autoverkehrs ausmachen, eröffnen sich bei allen Beschränkungen, denen Autofahrer unterliegen, Möglichkeiten für „freie Fahrt für freie Bürger“. Und „selbst bei einer Berufspendlerfahrt finden mindestes einige der oben genannten psychologischen Bedürfnisse Befriedigung, so dass es die ‚reine’ Beförderungsfahrt im privaten PKW nicht gibt“ (Hilgers 1997, 128).
A. Klein schreibt: „W. Wolf legt großen Wert darauf zu betonen, dass es nicht die Bedürfnisse der Menschen nach mehr Mobilität und auch nicht der Markt, sondern politische Entscheidungen sind, die eine Verkehrswende bislang verhindern“. Diese Feststellung mag in dieser Entgegensetzung zutreffen. Aber warum kommen die „Bedürfnisse“ – nun nicht „d e r Menschen“, sondern moderner Bürger – im Artikel nicht vor ? Wenn eine ‚Verkehrswende’ absieht von der mit dem Auto in der gegenwärtigen Gesellschaft verbundenen Freude oder gar Faszination, verbleibt sie im Horizont einer ökonomischen und politischen Vernünftigkeit, verfehlt aber zentrale ideologische, psychische und kulturelle Momente, die das Auto erst für viele Autofahrer zu dem machen, was es h e u t e ist.
Den Originalartikel findet Ihr auf meiner Webseite zusammen einer umfangreichen Literaturliste.
An dieser Stelle darf ich noch auf mein Buch „Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit“ hinweisen.