Kuhglocken-Alarm: Tierschützer fordern GPS

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Wolfgang Blaschka
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Verbunden: 09.11.2010 - 02:16
Kuhglocken-Alarm: Tierschützer fordern GPS
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Kuhglocken-Alarm

Tierschützer fordern GPS

Jedes Jahr vor dem Alm-Abtrieb entflammt die Debatte aufs Neue: Ist das monotone Gebimmel in der stillen Bergwelt überhaupt noch zeitgemäß? Ist es nicht eine Zumutung für die Kälbchen, rund um die Uhr bei jeder Regung unüberhörbar geortet zu sein? Wo bleibt da die Privatsphäre beim Erkunden der steilen Wiesen? Und wo die Ruhe der Einsamkeit in luftigen Höhen? Das Heidi kann sich bei dem Geläute nur schwer auf die Schulaufgaben konzentrieren. Bergwanderer könnten irritiert sein und abstürzen. Gämsen könnten sich benachteiligt fühlen, der Widerhall gar Lawinen und Murenabgänge auslösen. Auf Dauer lockert die Beschallung das Gestein.
 

Daher fordern Tierschützer nun eine zeitgemäße Methode, das Weidevieh den Sommer über mit weniger akustischen Emissionen unter Kontrolle zu halten. Mit umgehängten oder unter die Kuhhaut implantierten GPS-Sendern wäre eine tierische Lösung gefunden, um auch allen Aspekten der Animalität Rechnung zu tragen: Die Kühe könnten sich frei bewegen und wüssten gar nichts von ihrer Überwachung. Bei jedem Grasrupfer, bei jedem Wiederkäuen, bei jedem Hinlegen und Aufrappeln zu läuten wie ein Klingelbeutel, diese Zumutung für Tier und Mensch wäre ein für allemal folkloristische Vergangenheit. Allerdings wäre die Diskussion sinnvoller vor dem Alm-Auftrieb zu führen gewesen, doch damals gähnte kein Sommerloch. Nun scheint es für dieses Jahr wieder zu spät zu sein. Was zunächst wie ein Bonmot aus dem Alpenländischen anmuten mag, ist jedoch datenschutzrechtlich brisant und hochpolitisch.
 

Man könnte ja noch weiterdenken, und auch der Sennerin oder dem Hirten einen GPS-Sender umhängen, um zu wissen, ob sie nicht zwischendurch heimlich ins Tal absteigt oder er vor Sonnenaufgang noch luftigere Höhen erklimmt, weil ihn gelegentlich "der Berg ruft". All diese dienstverletzenden Privat-Ausflüge in die Disko, den Lebensmittelladen oder auf die Gipfel alpiner Leidenschaft wären so diskret dokumentiert, und bei der Lohnabrechnung im Nachhinein zu berücksichtigen. Auch Bergsteiger könnten leichter aus Bergnot und Lebensgefahr gerettet werden, wenn sie unfreiwillig in eine Gletscherspalte abgetaucht oder den unwegsamen Hang hinuntergepurzelt sind. Selbst abgestürzte Bergwacht-Hubschrauber wären am Ende leichter aufzufinden, sogar ohne Blackbox.

Überhaupt alle Touristen, Sommerfrischler und Kurgäste könnten so unter Kontrolle gehalten werden. Zur Berechnung der Kurtaxe ergäben sich elegante Möglichkeiten elektronischen Zahlungsverkehrs: Jeder Besuch eines Kurkonzerts, jede Durchquerung einer Klamm oder sonst eines landschaftlichen Höhepunkts wäre individuell und leistungsgerecht abzufinden. Auch die Hotelrechnung. Kein Schmu mehr mit Privatvermietungen unter der Hand! Jahrelang leerstehende Ferienwohnungen wären jederzeit lokalisierbar.

Und warum, wenn es denn technisch möglich wäre, nicht gleich alle Menschen? Von klein auf mit dem subkutanen Chip versehen wäre es bald möglich, ihnen das Mitschleppen von Mastercard, "Personal"ausweis, Schlüsseln und Gesundheitskarte zu ersparen, ja selbst den Geldbeutel zu verüberflüssigen. Nichts könnte mehr verloren gehen oder geklaut werden, was wiederzubeschaffen bisher soviel Bürokratie-Aufwand erforderte.

Vorüber wären die Zeiten, als Schlüsselkinder durch den Großstadt-Dschungel irrten, Babies entführt und geparkte Autos nicht mehr auffindbar waren. Denn selbstverständlich wären auch Zündung und Wegfahrsperre mit dem Wagenbesitzer verbunden, die Wohnungstür mit dem Mieter, die Leberwerte mit der Krankenkasse und der Kontostand direkt mit dem Finanzamt. Banken, Krankenkassen, Jobcenter und Fundbüros könnten ihren Publikumsverkehr drastisch reduzieren, Filialen schließen und sich auf das Wesentliche konzentrieren: Kontrolle. In Zeiten von Terrorismus und weltweitem Antiterrorkrieg geradezu ein Muss!

Wer keinen Zugangscode zum Bierzelt buchen konnte, kommt nicht aufs Oktoberfest. Protestanten, die in katholischen Kirchen zu hohen Feiertagen mal Weihrauchduft schnuppern und sich ein wenig Orgelgebraus erschleichen wollten, wären schnell entlarvt. Alle Daten wären jederzeit abrufbar, und an unauffälligen Portalen vor Kaufhaus-Eingängen oder gleich beim Betreten der Fußgängerzone extern abzulesen. Ohne Mindest-Guthaben kein Zutritt! Jede Transaktion, und sei es der Erwerb dreier Kugeln Speiseeis, ließe sich ohne manuellen Aufwand buchen und abrechnen, inklusive Vergnügungs-, Glücklichkeits- und Atem-Steuer, Daseins-Abgabe und kommunaler Bürgersteig-Benutzungsgebühr.

Dafür käme die Hartz-IV-Überweisung ohne Antrag bei Bedürftigkeit. Schöne neue Welt mit Big Brother auch außerhalb des Containers: Niemand müsste im Verdachtsfall mehr nach seinem Alibi forschen. Es wäre alles gespeichert, und möglicherweise auch ohne polizeiliche Vorladung zum Verhör fernauslesbar. Nicht weniger als das Ende der Kriminalität wäre mit derartiger Technik zu gewährleisten, wo jeder Furz registriert wäre, zumindest für ein halbes Jahr auf Vorrat.

Hirnforschern erschlössen sich neue Forschungsgebiete: Welche neuronalen Verbindungen gelte es anzuzapfen, um nicht nur Lust- oder Angstgefühle zu dokumentieren, sondern auch Gedanken aufzuzeichnen? Wie differenzierte man Hass-Impulse gegen den Chef, den Vermieter, den Lebenspartner oder den Gerichtsvollzieher? Ließen sich Illusionen von Visionen unterscheiden? Wären Traum-Inhalte nach dem Genuss einer Flasche Rotwein von Halluzinationen nach dem neunten Cocktail scharf genug zu trennen?

Wie stünde es mit der Extrapolierung von politischen Einstellungen, moralischen Überzeugungen, philosophischen Überlegungen? Ticken Neonazis und Salafisten unterschiedlich? Wie lassen sie sich exakt auseinanderhalten? Ein weites Feld täte sich da auf: Hat jemand seinen Mops gestreichelt oder mit dem Kuscheltier gespielt? War er vom Sonnenuntergang betört oder vom Smartphone geblendet? Konnte der Proband wissen, dass seine geweitete Iris auf das unmittelbare Gegenüber beängstigend wirken musste? Flirt oder sexuelle Belästigung? Depression oder Müdigkeit? Burnout oder faule Ausrede? Für Gerichte wäre es wichtig zu wissen.

In der Weiterentwicklung gäbe es einen elekronischen Klapps, einen Gegenreiz oder eine zusätzliche Stimulation zu guten Taten. Sublimation und Selbstkontrolle könnten so technisch perfektioniert, fiese Gedanken verscheucht und falsche Gelüste ausgebremst werden. Ein abendlicher Protokoll-Ausdruck könnte das altmodische Tagebuch-Schreiben ersetzen. Beichten wäre ohne Gewissens-Erforschung möglich, selbst Liebesgeständnisse, Heiratsanträge, aber auch Urlaubsgrüße oder Einladungs-Absagen ohne Blumen, Briefmarken und andere Umschweife jederzeit transferierbar: Alles nur mal kurz gedacht und umgehend gesendet, das funkt!

Noch gibt es die nötigen Hochleistungskristalle nicht in Serie, und auch juristische Hürden wären zu überwinden: Das Recht auf körperliche Unversehrtheit stünde dem im Wege, und datenschutzrechtliche Bedingungen müssten angepasst werden. Wie sollte man Säuglingen ihre Einverständniserklärung abschwatzen? Vielleicht käme das Implantat erst mit Erreichen der Strafmündigkeit zum Einsatz, in einer feierlichen Zeremonie statt Jugendweihe, Firmung oder Konfirmation, als Initiationsritus zum Staatsbürger.

Bis dahin wäre freies Krabbeln und Ausbüxen gewährleistet. Eltern müssten sich mit Babyphon, Gitterbettchen und langen Leinen begnügen. Das bisschen Taschengeld ab dem Schulpflicht-Alter ließe sich notfalls auch auf einer Handy-App unterbringen. Dennoch warnen Kinderpsychologen davor, zu lange auf das Setzen von Grenzen zu verzichten. Der junge Mensch könne sich nur allzuleicht an zuviel Freiheit und Freizeit gewöhnen. Daher empfehlen sie dringend die frühzeitige Anmeldung zu Kinderkrippen, Kindergärten und Vorschul-Kursen, damit die Kleinen nicht meinen, die Welt sei ein Ponyhof und das Leben ein einziges Wunschkonzert. ADHS-Klienten bekämen bei jedem Zappler einen gewischt. Man stelle sich vor, was los wäre, wenn sie Glöckchen um den Hals trügen!

So weit dachten die Tierschützer in Oberbayern vermutlich nicht, dass ihre Phantasien allgemein übertragbar sein könnten. Doch ist die Menschheit ohnehin längst von derlei Science-Fiction-Szenarien infiziert: Manche Innenminister träumen davon jede Nacht, aber auch tagsüber im Büro, wie sie die Welt sicherer, das Leben bequemer und die Überwachung perfekter machen könnten. Gerade bei der Erstregistrierung von Flüchtlingen müsste die medizinische Versorgung doch noch deutlich ausbaufähig sein, hoffen sie. Dazu wagen sie sich allerdings noch nicht öffentlich zu äußern. Ihre Gedanken sind dennoch frei. Die passten freilich auf keine Kuhhaut.

Inzwischen formieren sich auch die Anhänger der Kuhglocken. Die wollen das Gutachten der "Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich", kurz ETH Zürich, unter Leitung von Dr. Edna Hillmann (Leiterin Einheit f. Verhalten, Gesundheit, Tierwohl - D-USYS) nicht gelten lassen. Das Gutachten stellte fest, dass der Lärmpegel nah am Ohr der besonders geräuschempfindlichen Kuh im Durchschnitt 90 bis 113 Dezibel betrage, was dem Geräusch eines Presslufthammers am Ohr des Menschen gleichkomme, sodass man davon auszugehen müsse, dass viele Tiere bereits schwerhörig seien. Die Wiederkau-Dauer sei bei Kühen, die 5,5 Kilogramm schwere Glocken zu tragen hätten, um 2,5 Stunden reduziert. Die Kühe bewegten zudem ihre Köpfe signifikant seltener als glockenlose Artgenossen, fräßen und ruhten weniger. Der Versuch wurde an drei Beobachtungstagen mit 19 trockenstehenden Kühen durchgeführt, die ganztätig auf der Weide gehalten wurden.
 

Heiliger Bimbamm! „Das ist kompletter Schmarrn“, halten die Glockenbefürworter dem entgegen. Schließlich trügen die Kühe die schweren Glocken nur maximal je einen halben Tag lang beim Viehscheid, also dem Almauftrieb im Frühjahr und beim Abtrieb im September. Die übrige Zeit hätten sie kleinere Glocken am Hals, „die tun keinem Tier weh“. Man brauche das Geläut nicht nur zum Orten, besonders bei Nebel, sondern auch als Wirtschaftsfaktor: Touristen erwarteten das typisch bayerische Geläut, andernfalls blieben sie weg. Der Tierschutzbund Bayern hat sich inzwischen für ein zweites, noch tragfähigeres Gutachten ausgesprochen. Die im schweizer Kanton Aargau lebende niederländische Tierschützerin und Veganerin Nancy Holten (41) hat sich bereits medienwirksam selbst eine Kuhglocke umgehängt.

Wolfgang Blaschka, München

Pressemeldung zur ETH-Studie: hier - klick. Das vollständige, detaillierte Studienergebnis gibt es hier und nachfolgend auch als -Anhang (nur englisch!)


      
► Bild- und Grafikquellen:

1. Zwei junge schmusende Kühe mit kleineren KuhglockenFoto: Kaptain. Quelle: Wikimedia Commons. Der Urheberrechtsinhaber veröffentlicht dieses Werk als gemeinfrei. Dies gilt weltweit.

2. Grasrupfende Kuh mit großer dunkler Kuhglocke. Foto: hdzimmermann. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-NC-SA 2.0).

3. Zwei Kuhglocken. Foto: hdzimmermann. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-NC-SA 2.0).

4. Kleiner Junge bewundert einige Kuhglocken. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-NC-SA 2.0).

5. Viehschau in St. Georgen, St. Gallen. Laufende Kuh mit großer heller Glocke. Foto: hdzimmermann. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-NC-SA 2.0).