

Liebe, freier Wille und der Mensch
Die Naturwissenschaften machen weiter Fortschritte. Auch im Erkennen dessen, was bzw. wer der Mensch sei.
Wir lesen, dass unsere Auffassungen beispielsweise von der „Liebe“ sich unter den empirisch-analytischen Zugriffsweisen der objektiven Forschung nur als hormongesteuerte und drüsenabhängige Reiz-Reaktions-Mechanismen entlarven lassen.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich unser „freier Wille“ unter den bildgebenden Verfahren der heutigen Hirnforschung auflöst in von uns als Person unabhängige Prozesse, die Bruchteile vor unserer Entscheidung schon über uns entschieden haben.
Wir hören, dass angesichts des wenig differierenden Genpools, es völlig unsinnig sei, den „Menschen“ strukturell vom Tier zu unterscheiden: 99% der genetischen Ausstattung haben wir mit den Schimpansen gemein.
Hier ist nun Aufklärung geboten.
► Wie steht es um die Tragweite der Wissenschaften, insb. der Naturwissenschaften, wenn sie Aussagen über den Menschen macht?
Drei Phänomene wurden angesprochen: „Liebe“, „freier Wille“, „der Mensch“. Was diese Phänomene bedeuten, wissen wir immer schon – weil wir an ihnen teilhaben. Aber wir wissen es eben nur im Horizont unserer je subjektiven, sehr persönlichen Erfahrungen. Die sind nicht verallgemeinerbar.
Wissenschaft will es genauer wissen, sie will zu objektiven und damit verallgemeinerbaren Erkenntnissen kommen, die intersubjektive, also für alle Geltung beanspruchen. Im Experiment sollen die Aussagen erhärtet werden. Um das erreichen zu können, müssen die Phänomene beobachtbar und berechenbar gemacht werden. Sie werden zerteilt, analysiert, bis sie im günstigsten Falle zu überall wiederholbaren Gesetzesaussagen führen, die sogar prognostisches Wissen ermöglichen.
► Haben wir es nach all diesen methodischen Schritten mit den ursprünglichen Phänomenen zu tun?
Wer jetzt behauptet, die Biologie habe die „Liebe“ erklärt, die Hirnforschung den „freien Willen“ und die Genforschung „den Menschen“, der übersieht, dass vor jeder experimentellen Forschung die Klärung der Begriffe liegt.
Was „Liebe“, „freier Wille“ und der „Mensch“ sind, kann nicht die experimentelle wissenschaftliche Forschung herausfinden. Das bestimmt vorgängig eine philosophische Klärung. Dabei geht es nicht darum, Biologie, Hirnforschung und Genforschung philosophisch zu verunglimpfen, wohl aber geht es darum, diese Wissenschaften zu angemessener philosophischer Wahrnehmung der empirisch zu erforschenden Phänomene anzuhalten.
Im übrigen erfolgt Forschung, auch und gerade die der Naturwissenschaften, immer unter Bedingungen. Es sind bestimmte kategoriale Zugriffsweisen unter denen erkannt wird.
So haben beispielsweise die in der Physik verwendeten Begriffe „Arbeit“, „Kraft“ und „Leistung“ nicht mehr ihre umgangssprachliche Bedeutung. Sie werden zu berechenbaren Grössen umdefiniert, die erst die empirisch abgesicherten objektiven Gesetzesaussagen ermöglichen.
Die Wahrheitsbedingungen des Physikalischen werden von der Physik bestimmt. Und die Wahrheitsbedingungen mentaler Zustände werden immer noch introspektiv erfasst. Insofern gehen die Gesamtphänomene „Liebe“, „freier Wille“ und der „Mensch“ nicht in dem auf, was empirische Forschung über sie zu sagen hat. Das robuste lebensweltliche Vorverständnis weiss mehr über diese Phänomene als die methodisch zugerichteten Experimente von ihnen zu fassen bekommen.
Was an den Gesamt-Phänomenen „Liebe“, „freier Wille“, „Mensch“ empirisch erkannt wird, setzt also eine vor der Forschung liegende kategoriale Auswahl der Teil-Phänomene voraus. Diese Auswahl ist selbst prinzipiell nicht empirisch überprüfbar! Die Biologie erfasst also nur die anthropo-biotische Dimension des Liebesphänomens, die Hirnforschung nur die neuronalen Prozesse des Wollens, die Genforschung nur den Gencode des hoch komplexen Anthropos.
Und dann gilt immer noch: Das „Wesen“ der Dinge müssen wir unerkannt liegen lassen. Gute Naturwissenschaftler, wie etwa Carl Friedrich von Weizsäcker, wussten das. Und sein Freund Georg Picht hat in anspruchsvollen Studien zeigen können, dass die heutige Naturwissenschaft die Natur zerstört. „Warum zerstört sie die Natur? Weil sie die Natur nicht so erkennt, wie sie von sich aus ist“, sondern nur so, wie sie im berechnenden Denken empirischer Forschung zugänglich wird.
Die Gefahr, die droht, wenn behauptet wird, die empirische Erforschung von Teil-Phänomenen habe die jeweiligen Gesamt-Phänomene erkannt, ist ein falsches Denken mit tödlichen Konsequenzen. Die Vorherrschaft des berechnenden Denkens ist, so betrachtet, der Grund für die gegenwärtige Ökologieproblematik. Wenn wir das Unheil abwenden wollen, das im berechnenden Denken liegt, dann muss es durch ein besinnendes philosophisches Denken domestiziert werden.
► Was hat das nun mit unseren Phänomenen „Liebe“, „freier Wille“, „Mensch“ zu tun?
Auch hier können sich die Phänomene nicht von sich aus zeigen wie sie sind, jedenfalls dann nicht, wenn sie unter die Herrschaft eines kategorialen Rahmens einer Wissenschaft gepresst werden: Biologie, Hirn- und Genforschung bleiben im Rahmen ihrer Zugriffsweisen prinzipiell unzureichend, um uns die Phänomene „Liebe“, „freier Wille“ oder „Mensch“ in ihrer Ganzheit verständlich zu machen. Wer das behauptet, kennt die Bedingungen nicht, unter denen seine Erkenntnisse zustande kommen.
Aus solcher Unkenntnis wird der Mensch letztlich auf die Funktionsweise von Lurchen herunterinterpretiert. Entsprechend gehen wir dann auch mit uns und mit dem Du um, wie auch mit der Natur überhaupt: respektlos, hochnäsig, machtförmig, zerstörerisch.
► Literatur:
- Georg Picht: Der Begriff der Natur und seine Geschichte. Mit einer Einführung von Carl Friedrich von Weizsäcker, 1993, 3. Auflage
- Reinhardt Brandt: Können Tiere denken? 2009
- Peter Janich: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, 2009
Schmalspur-Technokraten
wollen das Wunder des Lebens auf einen Baukasten reduzieren
Die Welt wird zunehmend von Schmalspur-Technokraten, Rationalisten und von der Hybris der Alllmächtigkeit verfallenen Geistern beherrscht. Sie sind anmassend von der Manie besessen, der gesamte Mikro- und Makrokosmos, seine Entstehung, seine Evolution und die darin ablaufenden Prozesse könnten mit naturwissenschaftlichen Methoden erklärt werden. Anscheinend glauben sie immer noch wie ihre mittelalterlichen Vorgänger an die Erschaffung eines Homunkulus, womit sie einem fundamentalistischen religiösen (Aber-) Glauben, dem sie ja eigentlich abgeschworen haben, wieder sehr nahe kommen.
Phänomene wie „Liebe“, „freier Wille“ oder das Wunder „Mensch“ kann man nicht schmalspurig lediglich als Abfolge und Wirkung von chemischen, neuronalen oder physikalischen Prozessen erklären. Wer das tut, der gibt sich selbst ein schlechtes Zeugnis, beweist damit seine geistige Beschränktheit und reduziert sich selbst auf eine gut funktionierende Maschine, der die Krone der Schöpfung total abhanden gekommen ist. Erich Fromm hat in „Jenseits der Illusionen“ die Thematik des „menschlichen Maßes“ aufgegriffen, von dem technokratische Naturwissenschaftler anscheinend keine Vorstellung besitzen. Fromm hat den Kontext wie folgt formuliert:
Wir sollten uns vor der Pathologie und Schizophrenie von Machbarkeitsfanatikern hüten, die davon überzeugt und willens sind, alles technisch Machbare auch umzusetzen. Vor solchen Menschen graut mir, denn sie haben den Glauben an das Vorhandensein von natürlichen Ordnungen und selbstregulierenden Systemen verloren, die auf eine Erfahrung von Milliarden von Jahren zurückblicken können. Was noch schlimmer ist, sie leben in einer gedanklich entgrenzten Welt, in der sie die Wunder des Lebens nicht wahrnehmen können. Sie sind derartig emotional verarmt und regrediert, daß sie verkrampft versuchen, das Lebendige in Dingliches zu transformieren und es in berechenbare mathematische Formeln zu pressen. Diese Geisteskrankheit hat Dr. Rainer Funk treffend in seinem Anfang 2011 veröffentlichten Buch „Der entgrenzte Mensch: Warum ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht“ wie folgt beschrieben:
„Die zweite fragwürdige Auswirkung des Angezogenseins vom entgrenzten Rechnen und Messen hat mit der bereits angesprochenen Quantifizierung sämtlicher Lebensbereiche zu tun. Alles soll berechnet werden könne, auch das Unwägbare, nur Gefühlte, die Stimmung, die menschliche Atmosphäre, das Intuitive, die »Chemie« in der Beziehung, das liebevolle Vermögen, die Fähigkeit zu trauern, die Unsicherheit des Lebens, die Glaubwürdigkeit und Authentizität eines Menschen. Was immer Begleiterscheinung und Wirkung eines lebendigen Vollzugs sind, muss hierzu in ein Ding, in etwas Lebloses und Totes verwandelt werden, denn nur Dinge und das zum Zwecke des Messens Verdinglichte lässt sich messen und dann berechnen. Der Fetischismus des Dinglichen und Berechenbaren ist dann zumeist mit einer Verdinglichung des Lebendigen gepaart.“
Ich kann nur empfehlen: Mensch, bleibe bei deinem Leisten! Glück, Zufriedenheit, menschliches Wohl und Vollkommenheit läßt sich nicht erreichen, indem man für alle Phänomene der sichtbaren und unsichtbaren Welt eine wissenschaftlich-rationale Erklärung findet und glaubt, dieses durch Messen und Berechnen zu realisieren. Seien wir doch mal ehrlich: Was wäre denn eine Welt ohne Geheimnisse und Wunder? Es wäre die Verurteilung, auf ewig in einen mit grellem Neonlicht erhellten Raum ohne Differenziertheiten und phantasieerregendes Zwielicht eingesperrt zu sein.
Peter A. Weber