Mut zur Utopie - aktueller Bezug zu Erich Fromm

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Peter Weber
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Mut zur Utopie - aktueller Bezug zu Erich Fromm
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Mut zur Utopie

In der Alternative der Lebensorientierungen »Sein oder Haben«

liegt der Schlüssel zur Utopiefähigkeit


Abgesehen von den Schriften Erich Fromms und seinen Ideen, die wir in Form von Beiträgen und Buchvorstellungen im KN hochhalten, verweise ich in diesem Kontext auf das im KN vorgestellte Buch „Pfade durch Utopia“ und meinen dazugehörigen Kommentar „Utopien“.

Ich empfinde zunehmend, daß der Zeitgeist immer mehr Unzufriedenheit und Hoffnungslosigkeit aufspült, die von einer inneren Leere und Perspektivlosigkeit – sowohl was das Alltagsleben als auch das Seelenleben angeht – herrührt. Der Glaube an eine Zukunft der Menschheit im Rahmen der Schaffung eines von der Mehrheit geteilten humanistischen Weltbildes wird erschüttert. Erich Fromm und sein Menschenbild  wird dann oft in diesem Kontext nur noch als illusionär, unrealistisch und irrational optimistisch abgetan. Diese Entwicklung tut mir in der Seele weh und ich versuche, dagegen zu halten. Dies gelingt mir zwar bezüglich meiner Person, aber die Möglichkeiten einer „Missionierung“ zur Vermittlung von utopischer Zuversicht sind heutzutage beschränkt und nicht mehr en vogue.

Dr. Rainer Funk, Psychoanalytiker und Nachlaßverwalter von Erich Fromm, hat in seinem Vortrag „Was den Menschen gelingen läßt – Die Aktualität des utopischen Denkens von Erich Fromm“ dieses Thema hervorragend aufgegriffen und auf die heutige Zeit bezogen. Sein Aufruf „Mut zur Utopie“ beruht auf der Beobachtung, daß wir in einer Zeit der Denunzierung des utopischen Denkens leben.

Daß Utopien heute meist als gefährliche illusionäre Spinnereien abgetan werden, hat nach seiner Einschätzung vor allem mit einem geänderten Menschenbild zu tun: Der der Mensch wird heute in fast allen Bereichen nur noch wie ein Ding betrachtet, wie eine hochkomplizierte Maschine, die berechenbar und steuerbar ist. Der Mensch wird nicht mehr als ein zukunftsoffenes, lebendiges Wesen gesehen, das seine Vorfindlichkeit durch die Potenzierung seiner menschlichen Fähigkeiten übersteigen kann. Weiterhin meint Funk, daß die Orientierung am Sein im Blick auf das, was heute eine Gesellschaft gelingen lässt, weitgehend eine Utopie bleibt und  angesichts neoliberaler Wirtschaftsphilosophie noch keine generelle Trendwende in Sicht ist, obwohl am Gemeinwohl orientierte Betriebe im Einzelfall sehr wohl zeigen, daß es auch anders geht.

Das komplette Redemanuskript veröffentlichen wir nachfolgend. Außerdem könnt Ihr Euch die vertonte Aufzeichnung des Vortrages hier auf diesem Video anhören.  Auch weise ich gerne auf die Veranstaltungsreihe HAMBURGER UTOPIEWOCHEN 2012 / 2013 hin, die unter dem Motto „Statt Wut und Lethargie – Mut zur Utopie!“ stehen.
 



Was den Menschen gelingen lässt


Die Aktualität des utopischen Denkens von Erich Fromm

 

von Dr. Rainer Funk

Vortrag im Rahmen der Reihe „Statt Wut und Lethargie – Mut zur Utopie!“

am 8. November 2012, 19 Uhr, im Rudolf Steiner Haus in Hamburg

 

1.  Mut zur Utopie

„Mut zur Utopie!“ – das ist in der Tat ein gewagter Ausruf und Aufruf in dieser Zeit. Er klingt fast wie eine Botschaft von einem fernen Stern angesichts einer Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, die weder vertraut noch glaubt, sondern alles berechnen will, die auf Umsätze, Wachstumsquoten, Statistiken und Bilanzen stiert und in allen Bereichen auf Nummer Sicher geht. Utopisches Denken ist aber auch für die meisten Individuen sozusagen „mega-out“. Es interessiert deshalb auch nicht, was der Mensch durch menschliche Anstrengung und mit seinen menschlichen Kräften zu erreichen vermag. Vielmehr wird alles Heil vom Technisch-Möglichen, vom i-Pad oder Smartlet, vom Navi und den Apps erwartet. Nicht das Menschlich-Mögliche, sondern das Technisch-Mögliche zählt. Wir leben nach der Devise, dass die technische Entwicklung es schon richten wird und uns eine Zukunft trotz Klimakatastrophe zu sichern imstande ist. Wichtig ist nur, selbstbestimmt über das Technisch-Mögliche verfügen zu können und die Gebrauchsanleitungen zu kennen.

Meines Erachtens hat die Denunzierung des utopischen Denkens, die sich seit den Achtziger Jahren beobachten lässt, weniger mit dem Scheitern der beiden großen politischen Utopien des 20. Jahrhunderts zu tun, nämlich mit dem Scheitern der nationalsozialistischen Utopie eines Dritten Reiches und dem Scheitern der Utopie des real existierenden Sozialismus. Dass Utopien – zumal politische Utopien – scheitern und eine destruktive Dynamik entwickeln können, ist eine altbekannte Tatsache. Sie hat die Menschen früherer Zeiten nicht davon abhalten können, an das, was noch keinen Ort – ou tópos – hat, aber als Menschen-Mögliches erahnt und von Einzelnen zumindest ansatzweise gelebt wird, als etwas für alle Menschen Mögliches zu glauben.

Dass Utopien heute meist als gefährliche illusionäre Spinnereien abgetan werden, hat in meiner Einschätzung vor allem mit einem geänderten Menschenbild: Der der Mensch wird heute in fast allen Bereichen nur noch wie ein Ding betrachtet, wie eine hochkomplizierte Maschine, die berechenbar und steuerbar ist. Der Mensch wird nicht mehr als ein zukunftsoffenes, lebendiges Wesen gesehen, das seine Vorfindlichkeit durch die Potenzierung seiner menschlichen Fähigkeiten übersteigen kann. Darum übt er sich auch nicht mehr darin, zu lieben, zu vertrauen, seine eigene Vernunft zu praktizieren, zu teilen, kreativ und solidarisch zu sein. Seine Zukunftsfähigkeit definiert sich vielmehr durch seine Berechenbarkeit und Brauchbarkeit. Brauchbar und berechenbar ist eben nur Dingliches und zum leblosen Ding Gemachtes. Da ist es nur logisch, wenn Weiterentwicklungen des Menschen-Möglichen ausschließlich als Visionen des Technisch-Möglichen begriffen werden. Und selbst, wenn bei der Berechnung des Lebens Eventualitäten und Wahrscheinlichkeiten mitberücksichtigt werden, so ändert dies nichts an dem zugrunde liegenden Ideal, das Leben und den Menschen als etwas Dingliches zu begreifen, von dem utopische Entwicklungsmöglichkeiten auf Grund von menschlichen Fähigkeiten nicht zu erwarten sind.

Wird die gegenwärtige Utopie-Verachtung als Folge der heute allgegenwärtigen Verdinglichung des Menschen begriffen, dann wird schnell klar, warum der Ausruf und Aufruf eines Mutes zur Utopie heute nottut: Mut zur Utopie zu haben bedeutet heute, den Menschen wieder in seiner Kreativität und Nichtberechenbarkeit sehen zu können. Mut zur Utopie heißt vor allem, dem Wahn, alles zu berechnen und zu verdinglichen und technisch lösen zu wollen, Grenzen zu setzen, um dem Menschen-Möglichen wieder einen Entwicklungsraum zu geben. Und nicht zu vergessen: Mut zur Utopie kann es nur geben, wenn wir wieder lernen, zwischen etwas Lebendigem und einem Ding zu unterscheiden, was zugegebener Maßen gar nicht so einfach ist, weil die Dinger – die iPads and Smartphones – so quicklebendige Alleskönner zu sein scheinen – zumindest so lange der Akku hält.

Dass eine solche Öffnung zum Utopischen nicht bedeutet, jeder Fantasterei Tür und Tor zu öffnen, sondern psychologisch begründbar ist und eine hohe Evidenz hat, wenn man sich ihr nicht von vornherein verschließt, lässt sich am utopischen Denken von Erich Fromm zeigen. Seine Theorie der Orientierung am Sein statt der am Haben, wie er sie 1976 in dem Buch „Haben oder Sein“ ausgeführt hat, hat zumindest im Blick auf ihre gesellschaftliche Realisierung utopische Züge, denn bis dato gab und gibt es keine Gesellschaft, die stärker am Sein als am Haben orientiert ist.

Ich möchte mich im Folgenden mit der Frommschen Utopie eines Menschen, der mehrheitlich statt am Haben am Sein orientiert ist, beschäftigen. Zum einen soll damit die Aktualität des utopischen Denkens von Fromm illustriert werden; zum anderen aber möchte ich zeigen, dass es psychologisch eine Plausibilität für die Orientierung am Sein gibt. Die Utopie hat also durchaus einen realistischen Gehalt, auch wenn dieser heute noch mehr in die Ferne gerückt zu sein scheint als bei Erscheinen des Buches vor mehr als 35 Jahren.


Fragen wir mit Fromm zunächst danach, warum der Mensch utopiefähig ist und wie das Frommsche Menschenbild aussieht.


2. Das Menschenbild Erich Fromms

Um die besonderen Möglichkeiten des Menschen zu erfassen, die für das Menschenbild relevant sind, ist ein Vergleich mit den Tieren, speziell mit den Primaten, unerlässlich. Der Mensch hat gegenüber dem Tier nicht nur weiter entwickelte intellektuelle und kognitive Fähigkeiten; vor allem sein Antriebs-, Affekt- und Gefühlsleben ist auf Grund seiner Fähigkeit, sich seiner selbst bewusst zu sein, denken zu können und sich ganz andere Wirklichkeiten vorstellen zu können, anders konstruiert als beim Tier. Nach Fromm führen die genannten spezifisch menschlichen Fähigkeiten dazu, dass der Mensch neben körperlichen Bedürfnissen (zu essen, zu trinken, zu schlafen, sich fortzupflanzen) auch das unabdingbare psychische Bedürfnis hat, bezogen zu sein.

Der Mensch muss auf die Wirklichkeit bezogen sein; er muss auf andere Menschen bezogen sein; er muss auf sich selbst bezogen sein, indem er eine Vorstellung von sich selbst entwickelt und auch eine Vorstellung von dem, wer er sein und werden möchte und wer er nicht sein und nicht werden möchte; er braucht einen Rahmen der Orientierung und er braucht Objekte der Hingabe, um sein Bedürfnis nach Bezogensein zu befriedigen. Religion, Wissenschaft, Kunst, Technik, Kultur – alles, was sich als typisch menschlich erweist – resultiert aus dem spezifischen Bedürfnis des Menschen, bezogen zu sein. Sowohl sein körperliches als auch sein psychisches Überleben hängt davon ab, dass das Bedürfnis nach Bezogenheit befriedigt wird.

Wenn zuvor gesagt wurde, dass der Mensch anders konstruiert ist als das Tier, dann lässt sich jetzt genauer sagen: Dieses Bezogenseinmüssen des Menschen hat zur Konsequenz, dass es zur Ausbildung von verinnerlichten Bezogenheitsmustern kommt, die ihn in seinen Verhaltensäußerungen disponieren. Zu solchen Verinnerlichungen kommt es, wenn der Mensch sich mit anhaltenden Erfahrungen des Bezogenseins identifiziert. Derart internalisierte Bezogenheitsmuster nennen wir gemeinhin „Persönlichkeit“ oder „Charakter“.

Der Charakter tritt an die Stelle des tierischen Instinkts. Die charakterlichen Bezogenheitsmuster stellen deshalb jene Kräfte in der psychischen Struktur eines Menschen dar, die das Verhalten, das heißt unser Denken, Fühlen und Handeln steuern. Sie sind der Grund dafür, warum Menschen ein „Wollen“ spüren, sich triebhaft erleben und warum sie etwas mit Leidenschaftlichkeit erstreben. Mit Recht wird deshalb im Charakter jene Antriebskraft gesehen, die dem menschlichen Verhalten eine bestimmte Ausgerichtetheit, Motiviertheit und Intentionalität – kurzum: eine bestimmte Orientierung verleiht.


3. Charakterorientierung und Gemeinwohl

An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, welche Charakterorientierungen für das Gemeinwohl und das Wohl des Einzelnen zuträglich sind und welche nicht. Die Antwort Fromms lautet: Nur dann, wenn die Charakterorientierung eine produktive Qualität hat, trägt sie zum Gelingen von Mensch und Gesellschaft und zu deren Wohl bei. Hat sie eine nicht-produktive Qualität, dann ist sie dem Gemeinwohl und dem individuellen Wohl-Sein („well-being“) abträglich.

Mit der im Deutschen etwas sperrigen Kennzeichnung „produktiv“ bzw. „nicht-produktiv“ werden Charakterorientierungen daraufhin bewertet, ob sie für das Leben und Überleben des Menschen funktional sind. Mit „produktiv“ meint Fromm, dass jene dem Menschen eigenen körperlichen, geistigen, sinnlichen, intellektuellen, emotionalen und affektiven Kräfte gefördert und praktiziert werden, die den Menschen autonomer, liebender, solidarischer, empathischer, kreativer und in dem Sinn vernünftiger machen, dass er die Wirklichkeit kognitiv und emotional adäquat zu erfassen und zu durchdringen imstande ist – und die deshalb sein Menschsein gelingen lässt.

Wenn Fromm in seinem Alterswerk Haben oder Sein von der „Orientierung am Sein“ statt am Haben spricht, geht es ihm genau um das, was er zuvor mit dem Begriff der psychischen Produktivität oder Kreativität  gemeint hat: Bei einer Orientierung am Sein dominieren jene charakterlichen Strebungen, durch die die Fähigkeit zu einer liebenden, vernünftigen, autonomen, empathischen, solidarischen und kreativen Bezogenheit auf die Wirklichkeit, auf andere Menschen und auf sich selbst verstärkt werden und die deshalb zum Gemeinwohl und zum individuellen Wohl-Sein beitragen.

Nun galt Fromms Hauptinteresse schon immer der Frage, welche prägende Rolle die Gesellschaft bei der Ausbildung von Charakterorientierungen hat. Er erkannte im Gesellschafts-Charakter der vielen Einzelnen jene psychische Größe, die diese so denken, fühlen und handeln lässt, wie es für die Stabilität und das Funktionieren einer bestimmten Gesellschaft dienlich ist. Damit war für Fromm allerdings noch nicht die Frage entschieden, ob die betreffende Gesellschafts-Charakterorientierung eine produktive oder nicht-produktive Qualität aufweist und tatsächlich dem Gemeinwohl und dem Wohl-Sein des Einzelnen dient. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen:


Eine auf Wettbewerb aufgebaute Marktgesellschaft führt zu einer Gesellschafts-Charakterbildung, bei der Menschen, die gesellschaftlich erfolgreich sein wollen, eine Lust am Rivalisieren entwickeln müssen; sie haben den anderen als Konkurrenten wahrzunehmen und müssen ihn zum Verlierer und sich selbst zum Alpha-Tier und zum Gewinner machen wollen. Das Wetteifern und Siegenwollen wird zum Lebenselixier für eine ganze Gesellschaft, wie unschwer ein Blick auf die Bedeutung des Leistungssports oder die Beliebtheit von Quiz-Sendungen verdeutlicht. Selbst die Wetterfrösche von Kachelmanns Gnaden simulieren ihren Wetterbericht so, wie wenn es um die Ergebnisse eines sportlichen Wettkampfs ginge und beten lange Listen von höchsten oder tiefsten Temperaturen herunter.


Das simple Beispiel zeigt bereits, dass eine rein soziologische Perspektive, die nur nach dem fragt, was eine Gesellschaft zusammenhält und stabilisiert (und deshalb als normal ansieht), ergänzt werden muss durch eine sozial-psychologische Perspektive. Eine solche misst die vorherrschende Gesellschafts-Charakterorientierung an der Frage, ob das charakterliche Streben der Vielen dem Gemeinwohl und dem Wohl-Sein des Einzelnen dienlich ist – oder ob ihr Streben im Blick auf das tatsächliche Gelingen von Mensch und Gesellschaft in Wirklichkeit kontraproduktiv ist.

Wie bereits angedeutet, lässt sich sehr wohl zeigen, welche produktiven Eigenkräfte zum Gelingen und Wohl-Sein des Menschen beitragen. Von dorther lässt sich auch aufzeigen, welche strukturellen Voraussetzungen auf wirtschaftlicher, politischer, gesellschaftlicher und kultureller Ebene geschaffen werden müssen, um eine produktive Qualität des Gesellschafts-Charakters zu gewährleisten.  Für Fromm ist es völlig unzweifelhaft: Das, was den Menschen gelingen lässt und sein Wohl-Sein befördert – nämlich das Ausdruckgeben von solidarischen, empathischen, gerechten, vernunftorientierten, realitätsangepassten Bezogenheitsformen – befördert auch das Gemeinwohl und das menschliche Gelingen von Gesellschaft.

Fordert und fördert eine Wirtschaft und Gesellschaft einen Gesellschafts-Charakter, der nicht am Gemeinwohl und am Wohl-Sein des Einzelnen orientiert ist, dann hat eine solche Sozial-Charakterorientierung eine nicht-produktive Qualität. Die Menschen empfinden zwar, um noch einmal am Beispiel der Wettbewerbsgesellschaft anzuknüpfen, das Konkurrieren und Besiegen des Wettbewerbers als gesund und normal, im Blick auf das Gemeinwohl und das menschliche Gelingen einer Gesellschaft stellt eine solche konkurrierende Beziehung zum Mitmenschen eine „Pathologie der Normalität“ dar.  Sie ist deshalb nicht-produktiv, weil sie Werte und Strebungen befördert, die die Vielen an der Entwicklung ihrer menschlichen Möglichkeiten hindern oder eine solche Entwicklung sogar vereiteln, so dass sie von einer inneren destruktiven Dynamik gesteuert werden. Wenden wir uns vor diesem Hintergrund jetzt in einem weiteren Abschnitt der Frage zu, welche Bedeutung die Alternative „Haben oder Sein“ konkret hat.


4. Die Bedeutung der Alternative „Haben oder Sein“

Die Grundaussage ist schnell referiert: Wenn Menschen ihr Leben am Haben ausrichten, dann hat ihre Charakterorientierung eine nicht-produktive Qualität, die sich darin zeigt, das sie für das Gelingen und Wohl-Sein des Menschen und der Gesellschaft eine behindernde oder gar vereitelnde Wirkung hat. Umgekehrt gilt, dass das Wohl-Sein des Menschen und das Gemeinwohl befördert werden, wenn die Art einer Charakterorientierung eine produktive Qualität und Ausrichtung hat. Dies soll zunächst für die Orientierung am Haben noch näher ausgeführt werden.


a) Orientierung am Haben


Wer sein Leben am Haben orientiert, der bestimmt sich selbst, seine Existenz, seinen Lebenssinn, seine Lebenspraxis von dem her, was er hat, haben kann und mehr haben kann. Nun gibt es fast nichts, was nicht Gegenstand des Habens und Habenwollens werden könnte, an erster Stelle materielle Dinge jeder Art (ein Eigenheim, Geld, Aktien, Kunstwerke, Bücher, Briefmarken, Münzen und andere Dinge, die teils „mit Sammlerleidenschaft“ gesammelt werden).

Aber auch andere Menschen können zum Gegenstand des Habens und Habenwollens werden. Natürlich sagt man nicht, dass man einen anderen Menschen in Besitz nehme und als sein Eigentum ansehe. Man spricht davon, dass man für andere die Sorge und Verantwortung habe. Bekanntermaßen hat aber der, der die Verantwortung trägt, auch das Recht, über den anderen zu verfügen. Und so werden Kinder, Behinderte, Alte, Kranke, Therapiebedürftige in Besitz genommen, als Teil des eigenen Selbst betrachtet – und nur ungern aus der Obhut entlassen, weil man sein Leben vom Haben dieser Menschen her definiert.

Nicht genug damit, dass auch andere Menschen „gehabt“ werden können, wir bestimmen unsere Lebenspraxis auch vom Haben von Tugenden und Werten her: Wir sind ganz darauf aus, ein Ansehen zu haben, ein bestimmtes Image, Gesundheit, Schönheit oder Jugendlichkeit zu haben, und wenn dies nicht mehr möglich ist, so wollen wir dann doch wenigstens „Erfahrung“ oder „Erinnerungen“ haben. Auch Überzeugungen politischer, weltanschaulicher und religiöser Art können wie ein Besitz erworben und hartnäckig – bis aufs Blut – verteidigt werden. Alles wird davon abhängig gemacht, ob oder dass man im Besitz der Wahrheit ist oder das Recht auf seiner Seite hat.

Die Rede vom „Haben“ kann das Missverständnis begünstigen, als dürfe der Mensch, der in der Weise des Seins lebt, nichts mehr haben oder haben wollen. Es stimmt zwar, dass sich der am Haben Orientierte leicht bereits dadurch outet, dass er dieses oder jenes unbedingt haben möchte. Das, was er an Eigentum, Bildung, Können, Ansehen hat, muss aber nicht notwendig ein Indiz für eine Lebenspraxis des Habens sein. Bei der Alternative „Haben oder Sein“ geht es nicht darum, was ein Mensch konkret hat oder nicht hat, sondern welchen Stellenwert das, was er hat oder nicht hat, für ihn hat. Die Alternative betrifft die Frage: Woher bestimmt der Mensch seine Lebenspraxis, sein Denken, Fühlen und Handeln? Bestimmt er sich von dem her, was in ihn hineingeht, das heißt, was er hat und haben kann, oder von dem her, was er ist und potentiell aus sich hervorbringen kann.

Es geht deshalb auch nicht darum, dass jemand nichts hat. Auch die Orientierung am Nicht-Haben ist eine Habenorientierung. Fromm vertritt kein Asketentum und die Orientierung am Sein ist gerade nicht identisch mit einer Orientierung am Nicht-Haben. Es geht vielmehr immer um die Frage, welchen Stellenwert das Haben oder auch das Nicht-Haben bei der Bestimmung des Lebenssinnes und bei der Bestimmung der eigenen Identität hat.

Ob jemand etwas in der Existenzweise des Habens hat oder ob jemand „hat, als hätte er nicht“ – dies ist oft schwer zu unterscheiden. Und doch kann jeder schnell die Probe bei sich selbst machen, indem man sich fragt, woran das eigene „Herz“ ganz besonders hängt, um sich dann vorzustellen, wie es einem erginge, wenn das, was einem wichtig und wert ist, weggenommen würde: Ob es dann einem den Boden unter den Füßen wegzieht und einem das Leben sinnlos zu werden droht. Wer dann keinen Eigenwert mehr spüren kann, wenn es sich dann nicht mehr richtig lohnt, noch zu leben und zu arbeiten, wenn man mit sich und anderen nichts mehr „anfangen“ kann, dann sind dies ziemlich sichere Indizien dafür, dass man sein Leben von der Orientierung am Haben her bestimmt: vom Haben eines Berufes, vom Haben von Kindern, vom Haben eines guten Rufes, vom Haben tieferer Einsichten, vom Haben eines funktionsfähigen Körpers usw.

Der am Haben orientierte Mensch bedient sich – um es in ein Bild zu bringen –immer einer Krücke statt der eigenen Füße. Er bedient sich eines angeeigneten Gegenstandes von außerhalb von ihm, um zu sein, selbst und etwas zu sein. Er ist nur er selbst, insofern er etwas hat. Er bestimmt sein Subjekt-Sein vom Haben eines Objektes. Er wird vom Objekt, also vom Gegenstand des Habens, gehabt.


b) Orientierung am Sein


Die Metapher von den Krücken, die die eigenen Füße ersetzen, macht zugleich anschaulich, was mit der Orientierung am Sein gemeint ist. So wie der Mensch die körperliche Fähigkeit hat, auf eigenen Füßen zu stehen, die er – im Notfall – durch Krücken ersetzen kann, so hat der Mensch auch geistige und psychische Fähigkeiten zum Selbstand: seine Fähigkeit, selbst zu fühlen, interessiert, zärtlich, liebend zu sein; selbst zu denken, Ideen, Fantasien und Vorstellungen zu entwickeln und zu eigenen Erkenntnissen und Urteilen zu kommen; und er hat die Fähigkeit, Dinge selbst zu vollziehen, zu tun, hervorzubringen statt sie sich zu kaufen und anzueignen.

Fromm hat diese Fähigkeit, aus eigenem Denken, Fühlen und Handeln auf die Wirklichkeit und auf sich selbst bezogen zu sein, zunächst – wie bereits angesprochen – „produktiv“ genannt, bevor er sie in seinem Alterswerk „am Sein orientiert“ genannt hat, weil der Mensch seine Eigenkräfte aktiviert und etwas aus seinem eigenen menschlichen Sein und Vermögen produziert – herausführt und hervorbringt und nicht vom Haben fremden Vermögens und fremder Kräfte abhängig ist.

Die Orientierung am Sein zielt auf die Aktivierung der menschlichen Eigenkräfte. Solche menschlichen Eigenkräfte entstehen und wachsen nur in dem Maße, als sie praktiziert werden; sie lassen sich nicht konsumieren, kaufen, aneignen wie Gegenstände des Habens, sondern nur praktizieren, üben, wagen, tun. Anders als für die Gegenstände des Habens, die in dem Maße aufgebraucht werden, als sie gebraucht werden, gilt für eigenes Denken, Fühlen und Tätigsein, dass sie wachsen und mehr werden, wenn sie geteilt und gebraucht werden.

Dies gilt von allen spezifisch menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten. Vertrauen zum Beispiel lässt sich nur durch das Praktizieren und Üben von Vertrauen schaffen und eben gerade nicht aneignen, kaufen, konsumieren in Gestalt von immer mehr Versicherungspolicen. Das gleiche gilt von Fähigkeiten wie frei und selbständig zu sein, interessiert zu sein, aktiv zu sein, empathisch zu sein, lieben und solidarisch handeln zu können oder seine Wünsche realitätsangemessen befriedigen zu können. Das Wachstum solcher Fähigkeiten, die für unser Wohl-Sein und für das Gemeinwohl von entscheidender Bedeutung sind, können nicht Dritte leisten; es lässt sich weder durch Kauf noch durch Konsum erreichen, sondern nur dadurch, dass man diese Eigenkräfte übt und praktiziert.
 

c) Weitere Merkmale einer Orientierung am Sein bzw. am Haben


Neben diesem zentralen Merkmal der Orientierung am Sein, nämlich dass sie menschliches Wachstum befördert und deshalb eine Aktivierung des Menschen bedeutet, während die Orientierung am Haben zu einer Abhängigkeit von aktivierenden Stimulanzien und damit in Wirklichkeit zu einer „Passivierung“ und zu einem Mangel an Lebendigkeit des Menschen führt, lassen sich noch eine Reihe anderer Wirkungen benennen, die als Indikatoren dafür gelten können, ob die Antriebskräfte des Menschen am Haben oder am Sein, ob sie produktiv oder nicht-produktiv orientiert sind.

Gier und Antagonismus vs. Genügsamkeit und Solidarität

Wer sich vom dem her bestimmt, was in den Menschen hineingeht, möchte immer viel haben, mehr haben, am meisten haben. Zum Haben gehört deshalb die Gier. Diese Habgier ist unersättlich im doppelten Sinn des Wortes: Ein gieriger Mensch hat immer ein übersteigertes Verlangen und unbegrenzte Wünsche, und er wird bei aller Befriedigung seiner Gier nie satt, weil das Haben ihn nicht wirklich befriedigt und seine innere Leere nicht wirklich überwinden kann.

Wenn die meisten immer nur mehr zu haben wünschen, bleibt es nicht aus, dass die meisten Menschen auch eine Angst vor der aggressiven Absicht ihrer Umwelt entwickeln, Opfer der Gier der anderen werden. Auf diese Weise etabliert sich ein ständiger Antagonismus, eine Feindseligkeit unter den Menschen, für die dann tatsächlich gilt: homo homini lupus (womit auch den Wölfen Unrecht getan wird). Diese mit dem Haben einhergehende Feindseligkeit unter den Menschen bekommt ihre wirkliche Gefährlichkeit zunehmend dort, wo es nicht nur um einen Wettstreit der Konsumgüter und des Eigentums geht, sondern wo es um das Lebensrecht und die Überlebenschance von Nationen und Teilen der Menschheit geht.

Menschen, die am Sein orientiert sind, sind nicht darauf aus, auf Kosten anderer mehr haben zu wollen; sie haben auch nicht das Bedürfnis, sich von ihnen durch Macht, Reichtum, Privilegien usw. abzugrenzen, soziale Gegensätze aufzurichten und Ungerechtigkeiten als etwas Normales anzusehen, weil sie jene Gegenstände und Werte, die das Leben attraktiv und lebenswert machen, nicht privatisieren und zum Mittel der Selbstbehauptung umfunktionieren wollen. Im Gegenteil, sagt Fromm: „Nichts vereinigt Menschen mehr (ohne ihre Individualität einzuengen) als ihre gemeinsame Bewunderung und Liebe für einen Menschen oder wenn sie durch einen Gedanken, ein Musikstück, ein Gemälde oder ein Ritual verbunden sind oder gar das Leiden teilen.“  

Es ist die Weisheit aller großen religiösen, politischen und philosophischen Bewegungen, dass nur die Erfahrung des Teilens die Beziehung zwischen Menschen lebendig hält, und die Menschen zugleich eine Genügsamkeit spüren lässt: dass sie genug zum Leben haben (und deshalb auch am Ende des Lebens das Leben hergeben können). Genügsamkeit und Solidarität sind Indikatoren einer Lebenspraxis des Seins im Gegensatz zum antagonistischen Prinzip des Wettkampfs, der Absonderung und Hierarchisierung bei einer Lebenspraxis des Habens.

Freude vs. Vergnügen

Von den von Fromm selbst in „Haben oder Sein“ dargestellten Merkmalen  soll hier noch eines erwähnt werden, das besonders heute von Bedeutung ist: das Spaßhabenwollen und die Suche nach Vergnügungen (pleasure) als Merkmal der Orientierung am Haben und die Fähigkeit zur Freude (joy), die sich bei einer Orientierung am Sein einstellt.

Egal, um welche Art von Vergnügungen es sich handelt und was im Einzelnen Spaß macht, kennzeichnend ist immer, dass das Erstrebte einen Höhepunkt erleben lässt und Spaß macht, aber keine nachhaltige Freude auszulösen imstande ist. Der Spaß und das Vergnügen sind wie ein Strohfeuer. Eine weitere Eigenart des Vergnügens ist, dass der Reiz des Vergnügens gesteigert werden muss, um noch Spaß zu machen und etwas Lustvolles dabei erleben zu können. Auch hier spielt das „Unersättliche“ der Orientierung am Haben eine Rolle.
„Freude“, sagt Fromm, „ist eine Begleiterscheinung produktiven Tätigseins. Sie ist kein >Gipfelerlebnis<, das kulminiert und abrupt endet, sondern eher ein Plateau, ein emotionaler Zustand, der die produktive Entfaltung der dem Menschen eigenen Fähigkeiten begleitet. Freude ist nicht die Ekstase, das Feuer des Augenblicks, sondern die Glut, die dem Sein innewohnt.“

Fromm hat schon vor 35 Jahren davon gesprochen, dass wir in einer Welt „freudlosen Vergnügens“ lebten. Dies mag mit ein Grund sein, warum es immer schwieriger wird, die Bedeutung, die die Freude im Leben eines Menschen spielt, noch anders zu erfassen, als dass man eben seinen Spaß haben möchte. Vielleicht muss man erst die Statistiken der Krankenkassen über die Volkskrankheit „Depression“ zur Kenntnis nehmen, um zu begreifen, dass der Spaßgesellschaft die Freude abhanden gekommen ist.

Der Versuch, die Bedeutung der Frommschen Alternative „Haben oder Sein“ zu skizzieren, soll hier nicht weitergeführt werden. Betonen möchte ich aber, dass die Orientierungen am Haben und am Sein nur als Alternative richtig verstanden werden: Je mehr ein Mensch aus seinen körperlichen, seelischen und geistig-intellektuellen Eigenkräften lebt und diese praktiziert, desto stärker prägt sich diese produktive Orientierung aus. Umgekehrt gilt für die nicht-produktive Orientierung am Haben, dass sie sich um so mehr verstärkt, je mehr ein Mensch seine ihm eigenen Kräfte nicht praktiziert, und sich statt dessen an nicht eigenen, fremden Kräften orientiert. Man kann deshalb nur entweder mehr an der einen oder an der anderen Ausrichtung orientiert sein, auch wenn beide Orientierungen in uns am Werk sind. Die entscheidende Frage ist, welche Orientierung durch unsere Art zu leben befördert wird.

Natürlich bleibt die Orientierung am Sein im Blick auf das, was heute eine Gesellschaft gelingen lässt, weitgehend eine Utopie und ist angesichts neoliberaler Wirtschaftsphilosophie noch keine generelle Trendwende in Sicht, obwohl am Gemeinwohl orientierte Betriebe im Einzelfall sehr wohl zeigen, dass es auch anders geht.

Mein Versuch, an die Frommsche Utopie der Orientierung am Sein zu erinnern, sollte vor allem verdeutlichen, dass eine Alternative möglich ist und dass sich die Orientierung am Sein als die bessere Wahl für das Wohl des Einzelnen wie für das Gemeinwohl auch psychologisch begründen lässt. Auch wenn die öffentliche Meinung und das faktische Verhalten der Vielen vom geraden Gegenteil überzeugt ist und alles Heil in einer wachsenden Produktion und Konsumtion sieht, so gilt doch, dass die Orientierung am Sein und das Hervorbringen dessen, was an Möglichkeiten im Menschen steckt, die „vernünftigere“ Antwort für unser Wirtschaften, für das politische, kulturelle und gesellschaftliche Zusammenleben und für jeden Einzelnen ist.

Nun hat die Orientierung am Haben seit der Publikation von Haben oder Sein weitere 35 Jahre Zeit gehabt, ihre Dominanz zu verstärken, wie jeder zugeben muss, der das heutige Konsumverhalten der Menschen kritisch zu beurteilen imstande ist. Ich möchte die mir noch verbleibende Zeit jedoch vor allem nutzen, um darauf hinweisen, dass sich die Erscheinungsweisen der Orientierung am Haben in der Zwischenzeit sehr stark verändert haben. Verstanden die Menschen vor 35 Jahren die Orientierung am Haben in erster Linie als Besitzenwollen von materiellen Gütern – und wurde in der Orientierung am Sein das Modell für ein postmaterielles Leben gesehen, so hat die Alternative heute eine ganz andere Dimension und Aktualität.


5. Die Aktualität der Alternative „Haben oder Sein“: „Be-Lebung oder Sein“

Erfolgreiche Wirtschaftsunternehmen gingen in den letzten Jahren mehr und mehr dazu über, alle Energie in die Produktion von Lebenswelten und Bedürfniswirklichkeiten zu investieren. Natürlich werden auch weiterhin Sachgüter und Dienstleistungen produziert, doch das, was angeboten wird und was der Konsument kauft, sind Wirklichkeiten in Gestalt von Gefühlswelten, Erregungszuständen, Erlebniswelten, Emotionen, Leidenschaften, Lebenswelten und Lebensstilen. Wer immer heute kommerziellen Erfolg haben will, muss auf Emotionalisierung und Sentimentalisierung setzen.

Mit der Produktion von seelischen Wirklichkeiten soll bestimmten Zielgruppen die Möglichkeit gegeben werden, sich selbst wieder lebendig, voller Gefühle, aktiv, kreativ, bezogen, erregt, geborgen oder voller Leidenschaftlichkeit zu fühlen. Erfolgreiches Wirtschaften versucht also genau jene Fähigkeiten und Qualitäten, die eine Orientierung am Sein auszeichnen, zu inszenieren und zu simulieren und zu verkaufen. Dass diese Art des Wirtschaftens möglich und erfolgreich wurde, hat mit der Digitalisierung, der Vernetzungstechnik und der Entwicklung elektronischer Medien zu tun. Erst mit ihrer Hilfe lässt sich die uns umgebende Wirklichkeit für jedermann und jedefrau völlig anders und neu produzieren. Sie zu nutzen, ist von höchster Attraktivität, weil sie den körperlichen, sinnlichen, intellektuellen, geistigen und emotionalen Eigenkräften oft haushoch überlegen sind.

Mit Hilfe der vom Menschen geschaffenen Produkte sind wir heute imstande, die uns umgebende und die eigene Wirklichkeit neu, besser, eindrucksvoller, kompetenter gestalten. Sie ist belebender, farbiger, emotionaler, unterhaltsamer, als wenn wir uns unserer – zugegebenermaßen relativ bescheidenen – menschlichen Eigenkräfte bedienen würden. Es überrascht deshalb nicht, dass immer mehr Menschen die gegenwärtige Erfordernis des Wirtschaftens, nämlich seelische Wirklichkeiten zu produzieren, in der Weise verinnerlicht haben, dass sie die sie umgebende Wirklichkeit und sich selbst neu erfinden und erleben möchten bzw. an angebotenen Wirklichkeitskonstruktionen und Erlebniswelten teilhaben wollen.

Ich habe diese neue Charakterorientierung den „ich-orientierten Charakter“ genannt, weil er selbst bestimmen will, was Wirklichkeit ist und ohne Rücksicht auf Vorgaben und Maßgaben anderer leben will. Dieser Wunsch, Wirklichkeit neu und anders zu erleben, wird vor allem hinsichtlich der eigenen Person, des eigenen Denkens und Fühlens spürbar. Man will sich nicht mehr mit seinen eigenen Gefühlen, Antriebskräften und Fantasien zufrieden geben, weil man sich mit ihnen nur begrenzt und eingeschränkt erlebt. Warum nicht die eigene Persönlichkeit neu konstruieren und an den vielfältig angebotenen Erlebnisangeboten Anteil haben und die dramatisch in Szene gesetzten Gefühlen der Unterhaltungswelt mitfühlen, statt sich mit seinem popeligen Leben und mit den oft negativen Gefühlszuständen abplagen zu müssen?

Um an inszenierten und simulierten Erlebniswelten teilhaben zu können, muss man diese heute nicht mehr besitzen. Das Haben-Wollen zielt nicht auf den Erwerb von Eigentum, sondern auf das Zugang-Haben zu diesen Erlebniswelten, um verbunden zu sein, um dabei zu sein und Anteil zu haben. Die Orientierung am Haben wird zur Orientierung am Erleben, weil man nur lebt und ist, wenn man etwas erlebt. Und man erlebt nur etwas, wenn man belebt, animiert, inspiriert, unterhalten, stimuliert wird und interessiert gemacht wird. Es geht heute nicht um die Alternative „Haben oder Sein“, sondern um die von „Belebung oder Sein“. Das Lebendigsein wird nicht mehr als Attribut des Lebens und der eigenen Antriebskräfte empfunden, sondern als etwas dem Menschen Äußerliches, das die Belebungsindustrie anbietet und das man sich aneignen muss, um sich lebendig zu spüren. Salopp formuliert, gilt: „Ohne Animation nur >tote Hose<“.

Versteht man den heute gesellschaftlich so geförderten Drang, etwas erleben zu wollen, animiert, inspiriert und unterhalten zu werden als die heutige Erscheinungsweise der Orientierung am Haben, dann hat die Alternative „Haben oder Sein“ heute nichts von ihrer Aktualität verloren. Die Frage wird nur noch dringlicher, wie einer solchen nicht-produktiven Entwicklung gegengesteuert werden kann. Ich beschränke mich hier zum Schluss auf fünf Empfehlungen für den Umgang des Einzelnen mit der Alternative. Mit ihnen kann man überprüfen, welche Kraft die Orientierung am Sein bei einem selbst noch hat und ob es noch eine eigene Aktivität, ein eigenes Interesse, eigene Ideen und Antriebe, eigene Gefühle und Leidenschaftlichkeiten gibt. Denn nur dann, wenn Menschen noch einen Zugang zu ihren eigenen menschlichen Möglichkeiten haben, sind sie utopiefähig und tragen dazu bei, dass das Menschen-Mögliche zu einer gesellschaftlichen Realität werden kann.


6. Empfehlungen zum seinorientierten Umgang mit Erlebnisangeboten
 

(1) Eine erste Empfehlung besteht darin, bei sich selbst zu beobachten, welche Wirkung das Wahrnehmen von Erlebnisangeboten hat. Lösen sie eine Eigenaktivität aus? Spürt man das Bedürfnis, die Eindrücke auf sich wirken zu lassen, darüber nachzudenken, sich mit anderen darüber auszutauschen? Hat man das Gefühl, von dem Erlebten erfüllt und aktiviert zu sein, oder stellt sich eine Leere und der Wunsch nach Mehr ein?

(2) Eine zweite Empfehlung betrifft die sogenannten „spontanen“ Bedürfnisse und Wünsche, etwas erleben zu wollen oder sich unbedingt etwas gönnen zu müssen. In welchen Gefühlssituationen oder angesichts welcher Schwierigkeiten oder Anforderungen tauchen solche „spontanen“ Wünsche auf? Was soll mit ihrer Befriedigung vermieden oder umgangen werden?

(3) Eine dritte Empfehlung ist, sich immer wieder Entzugserfahrungen auszusetzen, und zwar nicht, um sich im Verzicht zu üben, sondern um herauszufinden, welchen Stellenwert das Animiert- und Unterhaltenseinwollen durch Gefühlsangebote, Events, oder Erlebniskulturveranstaltungen hat. Ein Wochenende ohne elektronische Medien oder gar ein Wochenende ohne Elektrizität (und zwar auch ohne Akku-Elektrizität) kann einem schlagartig deutlich machen, ob man mit sich und anderen noch etwas anfangen kann und also noch aus körperlichen, seelischen und geistigen Eigenkräften schöpfen kann.

(4) Eine vierte Empfehlung ist das gezielte Üben und Praktizieren der wenn auch begrenzten eigenen Kräfte. Bei den körperlichen Eigenkräften hat dies für uns alle noch eine große Plausibilität, weil wir unmittelbar spüren: Wer rastet, der rostet. Gleiches gilt aber auch für unsere geistigen und psychischen Eigenkräfte. Wer seine Vorstellungsfähigkeit nicht mehr übt, weil er nur noch angebotene und ins Bild gesetzte Fantasien konsumiert, der büßt mangels Praxis mit der Zeit seine eigene Imaginationskraft ein und wird phantasielos. Wer sich nicht mehr darin übt, seine begrenzte Fähigkeit, anderen zu vertrauen, zu üben, wird die Fähigkeit zu vertrauen verlieren, wird immer misstrauischer werden bzw. das Misstrauen mit überzogenen Sicherungsmaßnahmen kompensieren. Wer seine Fähigkeit, zärtlich zu sein, nicht praktiziert, wird sie verlernen. Und wer immer nur noch Positives denken und fühlen will und sich nicht mehr darin übt, der immer ambivalenten Realität ins Auge zu schauen, wird alles Bedrohliche und Belastende bei sich und in seiner Umwelt zu leugnen versuchen.

(5) Eine fünfte Empfehlung betrifft einen besonders wunden Punkt: Der gesteigerte Wunsch nach Erlebnissen und inszenierten und virtuellen Wirklichkeiten dient den meisten Menschen dazu, in illusionäre Welten einzutauchen, in denen es entweder keine Probleme gibt oder in denen solche Konflikte stellvertretend ausgelebt werden, denen man sich selbst emotional nicht stellen kann. Die Fähigkeit, sich Konflikten und Schwierigkeiten zu stellen, aggressiv zu sein oder sich zum eigenen Versagen bekennen zu können, ist jedoch eine ganz wesentliche Voraussetzung, um Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Wo immer es deshalb noch gefühlte Auseinandersetzungen gibt und man sich ihnen stellen kann, hat man den Zugang zu seinen eigenen begrenzten Kräften noch nicht verloren.


Das Schlusswort soll Fromm haben. In der dritten Radiovorlesung zum Thema „Überfluss und Überdruss“, die den Titel „Die produzierten Bedürfnisse“ trägt, sagt Fromm: „Ich glaube, der Mensch ist nur er selbst, wenn er sich äußert, wenn er die ihm innewohnenden eigenen Kräfte ausdrückt. Wenn das nicht geschieht, wenn er nur „hat“ und benützt, statt zu „sein“, dann verfällt er, dann wird er zum Ding, dann wird sein Leben sinnlos. Es wird zum Leiden. Die echte Freude liegt in der echten Aktivität, und echte Aktivität ist der Ausdruck, ist das Wachstum der menschlichen Kräfte.“
 

Peter A. Weber