Nährstoff des Neides

1 Beitrag / 0 neu
Bild des Benutzers Helmut S. - ADMIN
Helmut S. - ADMIN
Offline
Verbunden: 21.09.2010 - 20:20
Nährstoff des Neides
DruckversionPDF version



DENKANSTÖSSE ZUM THEMA: NR. 52

Gesellschaft im Wandel


Nährstoff des Neides

 

Rede von Gert Heidenreich

 

Die Frage nach dem Wertewandel in unserer Gesellschaft unterstellt zumeist, dass traditionelle Werte und Tugenden ihre Bedeutung als Leitschnur unseres Handelns verlieren. Die bisherigen Grundlagen eines demokratischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesellschaftskonsenses werden damit in Frage gestellt und es entsteht die Gefahr für unser Gemeinwesen, „aus den Fugen zu geraten“. Das kann zu wachsender Unzufriedenheit und zu sozialen Spannungen bis hin zu Unfrieden und Gewalt führen.

Der Schriftsteller Gert Heidenreich (http://www.gert-heidenreich.com/) hat in einer „Kanzelrede“ in sehr eindringlicher Form den Finger in viele Wunden unserer Gesellschaft gelegt und mit der Frage nach der „Neidgesellschaft“ sozialpsychologische Zusammenhänge aufgezeigt, die zu Nachdenklichkeit und Diskussion anregen. Wir danken dem Autor für die Überlassung des Textes.


Rede von Gert Heidenreich

Nährstoff des Neides

In Zeiten, in denen ich als Bürger nachhaltig gedrängt werde, nach vorn zu sehen, blicke ich als Privatmann gern zurück. Gern auch sehr weit. Im vierten vorchristlichen Jahrhundert stoße ich auf den Satz: Man muss dafür sorgen, dass der Gegensatz der Reichen und Armen sich möglichst ausgleicht oder dass der Mittelstand wächst.

Die Forderung stammt aus der Staatslehre des Aristoteles von Stageira, einem Werk, dessen anhaltende Aktualität mich immer wieder fasziniert. Ihm zufolge kommt es in der Demokratie auf zwei wesentliche Elemente an: Freiheit und Gleichheit, wobei erstere auch Unabhängigkeit meint und letztere sowohl Rechtsgleichheit als auch Gleichberechtigung. Beide Grundelemente erst, meint Aristoteles, erlaubten dem Menschen, sein Leben so zu führen, wie es ihm angenehm ist.

Fügen wir der Vollständigkeit halber noch eine weitere aristotelische Forderung hinzu: Namentlich muss man bedacht sein, durch die Gesetze die Verhältnisse so zu regeln, dass niemand aufkommen kann, der allzu mächtig ist durch Anhang oder Reichtum.

Nun fällt auf, wie weit wir es gebracht haben: In nahezu jeder Hinsicht versagt die gegenwärtige Gesellschaft vor den fast zweieinhalbtausend Jahre alten demokratischen Grundforderungen. Ja, träte heute einer wie Aristoteles auf und würde die Einlösungen oder Einhaltung seiner Regeln fordern, er wäre sofort mit dem Vorwurf konfrontiert, dass er der Neidgesellschaft das Wort rede. Der Begriff des Neiders füllt exakt dieselbe rhetorische Rolle aus, die in der Adenauerzeit das Wort Kommunist inne hatte und, nicht weniger unbedenklich genutzt, das Wort Faschist in den Manifesten von ´68: Es geht darum, unerwünschte Kritik zu denunzieren und Nachdenklichkeit präventiv zu unterbinden. Im Vergleich zur Unterstellung ideologischer Voreingenommenheit ist freilich die jüngere Polemik raffinierter: Sie verfährt psychologisch und ordnet den als missgünstig abqualifizierten Kritiker in die Kartei der nicht ganz Zurechnungsfähigen ein - ein politisch nicht nur bedenkliches, sondern gefährliches Verfahren.

Mich erfüllt darum mit wachsender Unruhe, wie in unserer Republik reflexartig das Wort Neid ausgestoßen wird, wenn man auf den zerbrechenden, wenn nicht zerbrochenen sozialen Zusammenhang der Gesellschaft hinweist. Wenn man fragt, ob es eigentlich gerecht und nötig ist, Glücklosigkeit im öffentlichen Amte mit Abschiedssummen zu vergolden, die mancher Betriebskrankenkasse aus ihrer Zahlungsnot helfen würden. Denkt einer darüber nach, Vermögen zu besteuern, ruft es aus vermögenden Etagen herab: Neidsteuer! Werden in der Presse die astronomischen Abschlagszahlungen für entlassene Spitzenversager angeprangert, schreit sofort die Lobby der Vorstände: Neidgesellschaft!

Denn auch ihr Versagen könnte eines Tags zur Debatte stehen. Darum ist der Wille zur Solidarität heute in den Chefetagen höher als der Wille zur Konkurrenz.

Auch hinter einem solchen Satz wird gewiss Neid vermutet, so als würde ich das Geld denen neiden, die es verdienen. Ist das wahr? Leben wir in einer Neidgesellschaft, repräsentieren wir sie? Und was meint der Begriff eigentlich?

Ein gerichtetes, missgünstiges Gefühl gegenüber Einzelnen oder Gruppen wegen eines Wertes, dessen Besitz dem Neider nicht gegeben ist. So definiert der Brockhaus den Neid. Schenkt man dem Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos Glauben, ist der Neid ein Übel, das die Seele martert, den Körper verdorren lässt, hohläugig macht, blass und dürr, und den Leib zerfrisst wie die Motte ein Kleid.

Traditionell gehört der Neid zu den sieben Todsünden. Für den Apostel Paulus ist er ein Werk des Fleisches. Laut Friedrich Schiller aber hat er scharfe Augen, und Bertrand Russell zufolge bildet der Neid gar die Grundlage der Demokratie. Doch Russell gilt als Anarchist. Immerhin wissen wir, welche Farben diese Variante der Missgunst trägt: Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid, heißt es im Grimm´schen Märchen von Schneewittchens Stiefmutter. Die Dame wird aus Neid mehrere Mordanschläge unternehmen.
Der komplette Text der Rede von Gert Heidenreich ist   hier nachzulesen - klick 

 


 

Informationen zum Verein Studiengesellschaft für Friedensforschung e.V. München:

Die STUDIENGESELLSCHAFT wurde 1958 gegründet - zu einem Zeitpunkt heftiger politischer Auseinandersetzungen um die Eingliederung der Bundesrepublik in die atomaren Verteidigungsstrategien des Westens und der atomaren Bewaffnung der Bundeswehr. Es lagen erst bescheidene Ansätze zur wissenschaftlichen Erhellung der Ursachen des Krieges und der Bedingungen des Friedens vor. Eine deutsche Friedensforschung gab es noch nicht. Unter der Leitung ihrer Initiatorin und langjährigen Vorsitzenden, der Psychotherapeutin Christel Küpper, sah die STUDIENGESELLSCHAFT damals ihre erste Aufgabe darin, Krieg und Frieden als legitime Themen wissenschaftlicher Forschung bewußt zu machen, um der Entwicklung einer Friedensforschung den Weg bereiten zu helfen.

Schwerpunkte seit 1966

Das allgemeine Ziel der Arbeit der Studiengesellschaft: In der Bevölkerung das kritische Denken und die eigene Urteilsbildung auf der Basis sachlicher Information zu fördern, um so zu ethisch-politischen Entscheidungen und verantwortlichem Handeln zu kommen.

hier bitte weiterlesen    http://www.studiengesellschaft-friedensforschung.de/
 

Studiengesellschaft für Friedensforschung e.V.

Fritz-Baer-Straße 21

81476 München

Telefon/Fax (0 89) 724 471 43

E-Mail: info@studiengesellschaft-friedensforschung.de


AnhangGröße
PDF Icon SFF_52_Naehrstoff_des_Neides.pdf194.72 KB