Neid und Gier – Menschliche Laster als ökonomische Tugenden?

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Neid und Gier – Menschliche Laster als ökonomische Tugenden?
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Neid und Gier – Menschliche Laster als ökonomische Tugenden?

von Prof. Dr. Marianne Gronemeyer


Wer heutzutage und hierzulande die an die politische und ökonomische Einsicht der Bürger gerichteten Appelle verstehen will, der muß sein Hirn schon ziemlich strapazieren. Denn diese Appelle sind hoffnungslos widersprüchlich und einem scharfen Alltagsverstand kaum zugänglich. Dass man sparsam sein müsse, wenn die Kassen leer sind, das leuchtet unmittelbar ein, und das wird uns ja tagtäglich in hinreichender Deutlichkeit eingehämmert, (einmal abgesehen davon, dass es offenbar viel mehr Geld gibt in diesem Lande als die leeren öffentlichen Kassen vermuten lassen). Während wir also einerseits zum Sparen angehalten werden und uns eine neue Bescheidenheit angelegen sein lassen sollen, werden wir andererseits dringlich ermahnt, unserer ersten Bürgerpflicht nachzukommen, will sagen, nach Kräften zu konsumieren, denn nur das werde die sogenannte Binnennachfrage ‚beleben’- wie man sagt - das Wachstum fördern und so Arbeitsplätze schaffen.

Voilà: noch zwei weitere Zumutungen für den normal arbeitenden Verstand: Denn das hat sich ja inzwischen doch auch herumgesprochen, dass unter dem Wachstumswahn, uns Erde, Luft und Wasser ausgehen, die Winde verrückt spielen und das Klima kollabiert. Wir wissen doch, dass wir um unserer selbst und unserer Nachkommen willen zur entschiedensten Selbstbegrenzung verpflichtet sind. Und wir wissen auch, dass das Wachstum der Konzerne, ihr immens gesteigerter Profit keinesfalls Arbeitsplätze schafft, sondern im Gegenteil, sie massenhaft wegschafft.

Wachstum ist in diesen Größenordnungen ja ohne Beschleunigung nicht zu haben und beschleunigen lässt sich die menschlich Arbeitskraft nur in engen Grenzen. Die Maschinen können das allemal besser, auch wenn sie dazu einen Riesenappetit auf Energiezufuhr entwickeln. Gesteigertes Wachstum tendiert also nicht dazu, Menschen langfristig in Lohn und Brot zu bringen, sondern im Gegenteil dazu, sie überflüssig zu machen. Je mehr wir tagtäglich mit diesen für unumstößlich erklärten Satzwahrheiten bombardiert werden, desto mehr werden wir irre an uns und unserer Vernunft. Damit werden diese Sätze aber keinesfalls wahrer, nur wir werden dümmer.

Wie ist es aber möglich, dass solche offenkundigen Falschaussagen so unbeanstandet durchgehen? Wie kommt es, dass sich beinah alle ihnen gläubig unterwerfen, sogar und an erster Stelle die, die sie selbst erfunden haben?

Nun, wir sind sehr gewohnt, unter Konsumpflicht zu stehen, auch wenn die Mächtigen sich normalerweise schlau hüten, von Pflicht oder gar Zwang zum Konsum zu reden. Im Gegenteil: dem Konsumenten ist Freiheit versprochen, Wahlfreiheit, die unübersehbare Fülle der Möglichkeiten, auf die er Zugriff hat. Und tatsächlich begnügen sich die Konsumenten faute de mieux mit dieser abgehalfterten Variante von Freiheit, die ihnen das Sortiment im Supermarkt der Angebote lässt, und entschließen sich tapfer, sich unter Zwang frei zu fühlen.

Um dem Wesen des Konsumismus auf die Spur zu kommen, müssen wir das Wesen moderner Macht genauer in Augenschein nehmen. Zum Beispiel müssen wir die Macht nicht nur in ihrer besitzergreifenden Maßlosigkeit, sondern auch und vor allem in ihrer diagnostischen Aufdringlichkeit ins Auge fassen. Mächtig sind nicht nur jene 220 Reichsten der Welt, die sich den halben Globus unter den Nagel gerissen haben, mächtig sind vor allem auch die Experten, die sich anmaßen, darüber zu befinden, was in einer Gesellschaft und über sie hinaus im Weltmaßstab als normal angesehen werden muß, was also ‚Standard’ ist, wie man heute sagt, oder doch zumindest Mindeststandard: Bildungsstandard zum Beispiel, Gesundheitsstandard, Lebensstandard, Sicherheitsstandard, Bequemlichkeitsstandard. Unter dem prüfenden Blick dieser schonungslosen Expertendiagnose wird alles, was hinter dem verordneten Standard zurückbleibt, für entwicklungsbedürftig erklärt. Wer über kein Spülklosett verfügt, ist entwicklungsbedürftig, wer seine Kochwärme nicht aus der Steckdose bezieht, ebenso. Wer etwa glaubt, daß man ohne die Schule gebildet sein kann, ohne Versicherung im Kreis von Freunden sich hinreichend sicher fühlen kann, ohne High-Tech-Medizin leidlich gesund, wer glaubt, daß man ohne das Automobil mobil, ohne Coca Cola durstgestillt sein kann und ohne den Sterbeberater bereit sein zu sterben, der ist überfällig für Bekehrung - und, wo die nicht fruchtet -, für den unnachgiebigen Zwang zum Konsumismus, jener neuen Glaubensrichtung, von der der Schriftsteller und Filmregisseur Pier Paolo Pasolini schon in den siebziger Jahren sagte, daß sie der heutige Faschismus sei. Der Konsumismus, die neue Form der Gleichschaltung, unter der alle kulturellen Differenzen lautlos verschwinden.

Welteinheitskultur, die Perversion der Gleichheitsforderung.

Die moderne Macht ist absolut unduldsam gegenüber jeder Lebensäußerung und jeder Lebensform, die sich nicht dem Konsum von industriell produzierten Waren und warenförmigen Dienstleistungen verdankt. Produktion und Konsumtion sind schließlich die einzigen Daseins- und Tätigkeitsformen, die dem modernen Menschen übriggeblieben sind. Die 24 Stunden des Tages teilen sich für jeden Bürger in diese beiden Existenzformen. 8-10 Stunden - wer höher hinauswill auch mehr – sind wir als Produzenten von Waren und Dienstleistungen tätig, sofern wir denn zu den Glücklichen gehören, die über einen Arbeitsplatz verfügen.

Die übrige Zeit verbringen wir als Konsumenten oder verrichten Schattenarbeit, jene Tätigkeiten, die wir unbezahlt erbringen müssen, damit wir überhaupt produzieren und konsumieren können:

  • das Pendeln zum Arbeitsplatz auf verstopften Autostraßen,
  • den Transport der Kinder zu ihren jeweiligen Förder- und Unterhaltungsmaßnahmen,
  • das Einkaufen,
  • das Warten auf Behörden und Ämtern und in Arztpraxen,
  • das Schlangestehen am Fahrkartenschalter,
  • die Reklamation schadhafter Waren, die
  • Wartung und Pflege des Autos, die Mülltrennung,
  • der Gang zur Berufsberatung,
  • die therapeutischen Maßnahmen,
  • die notwendig werden damit Kinder und Erwachsene ihren institutionellen Alltag überhaupt überstehen können,

und so weiter und so weiter.

All dies sind Tätigkeiten, mit denen sich die Konsumenten/Produzenten selbst und gegenseitig für ihre Institutionen- und Maschinentauglichkeit zurichten. Schattenarbeit macht immer mehr Teilprozesse von Dienstleistungen, die wir ja bezahlen müssen, zur unbezahlten Obliegenheit der Konsumenten. Inzwischen müssen wir den Banken die Arbeit durch Tele-Banking erleichtern, der Bahn AG durch die Selbstbedienung im Internet, der Telekommunikation ihren Konkurrenzkampf durch penible Preisvergleiche ermöglichen. Immer mehr Zeit muß in diese Handlangerei für den Apparatus investiert werden, Zeit die den Wohltaten, die wir einander gewähren können, abgeht.

Noch wenn wir schlafen, sind wir Schattenarbeiter und Konsumenten: Wir konsumieren dann, abgestellt neben unseren garagierten Autos unsere eigene Unterbringung, so Ivan Illich, und schlafen uns zurecht für die Anforderungen, denen wir morgen als Produzenten und Konsumenten gewachsen sein sollen. Kurzum:


- Ehe nicht einer ein Konsument und ein Mehrfachklient geworden ist, angewiesen auf die Zufuhr der Versorgungsindustrie, angewiesen auf Serviceleistungen der Dienstleistungsindustrie, kann er nicht als hinreichend loyal gelten.

- Ehe nicht der letzte Erdenbürger zum belieferungsbedürftigen Mängelwesen wurde, zum Drug-addict, zum Junky, der nach den Drogen der Versorgungsindustrie japst und jammert und mit jedem Schuß abhängiger wird, hilfloser, unfähiger, sich selbst zu erhalten;

- ehe nicht diese Abhängigkeit total ist;

- ehe nicht die Kunde von dem, was als normal zu gelten hat, in den letzten Winkel gedrungen ist;

- ehe nicht jeder glaubt, daß sein Mensch-Sein, seine Humanitas, seine Vollständigkeit als menschliches Wesen auf Gedeih und Verderb an den Daseinszutaten hängt, die von der Industrie ausgespuckt werden;

- ehe sich nicht die Überzeugung durchgesetzt hat, daß der Apparat, der Maschinenkoloss alles menschliche Tun in den Schatten stellt;

- ehe nicht der letzte Bauer, die letzte Bäuerin sich als Nahrungsmittelproduzenten verstehen und der letzte Heiler Alternativmediziner geworden ist und sich als Untercharge der modernen Medizin begreift;

- ehe nicht der letzte Weise sich dem Bildungswesen als professioneller Pädagoge subordiniert hat;

- ehe all dies nicht machtvoll durchgesetzt ist, kann die moderne Macht ihrer Mächtigkeit nicht sicher sein.


Verstehen wir es richtig: Der Konsumismus ist totalitär. Niemand darf ihm entkommen. Verrückterweise nicht einmal die Habenichtse der Welt, die hoffnungslos abgehängt sind von der Möglichkeit, als Konsumenten ihr Auskommen zu finden, die niemals als zahlungskräftige Käufer das Geschäft beleben werden. Auch sie sollen sich am Standard messen, sollen in die Konkurrenz um die Weltofferten hineingezwungen werden, Lebensmühe darauf verwenden, sich Millimeter um Millimeter ächzend vorzuarbeiten in die schöne neue Konsumentenwelt, in der der Gelderwerb absoluten Vorrang genießt vor dem Broterwerb.

Alle müssen bedürftig werden. Warum das? Nun, nur wer bedürftig ist, ist beherrschbar. Moderne Macht, Machtgebaren, das auf der Höhe der Zeit ist, ist nicht tyrannisch oder diktatorisch. Es fuchtelt nicht mit Gewalt herum. Moderne Macht ist elegant, von souveräner Unauffälligkeit. Sie wandert in die Bedürfnisse ein, so daß die Unterworfenen wollen, was sie sollen, ihre Unterworfenheit leugnend, befangen im Freiheitswahn.

‘Bedürfnisse’, hören wir auf das Wort. Im ‘Bedürfnis’ steckt das ‘Dürfen’. Wer bedürftig ist, wer Bedürfnisse geltend macht, hält sich an das, was man wollen darf. Und wollen dürfen wir nur noch, was die Konzerne, an Gütern und Dienstleistungen im Angebot haben, wie verderblich und schädlich die Produkte auch immer sein mögen. Wer bedürftig ist, kann sich nicht in Gemeinschaft mit andern auf je eigene Weise und mit je eigenen Präferenzen am Leben erhalten. Er kann zu seinem Lebensunterhalt nichts tun, er muß alles, was er braucht, kriegen. Der Bedürftige ist ein kriegender Mensch in des Wortes doppelter Bedeutung, dass er sich an eine jeweilige Instanz wenden muß, damit ihm gewährt werde, was er zu brauchen glaubt. Dafür muß man bezahlen, meistens cash, gelegentlich mit Wohlverhalten oder mit beidem. Kriegender Mensch ist er aber auch in dem andern Sinne, dass er, um etwas abzukriegen, ‚Krieg’ führen muß mit allen jenen, die genauso bedürftig sind wie er oder sie selbst. Der Arbeitsmarkt zum Beispiel ist heute ein veritabler Kriegsschauplatz, auf dem sich die gleichermaßen Bedürftigen gegenseitig die Vorteile abjagen müssen. Unsere Sprache ist sehr verräterisch, man muß nur gut auf sie hören. Nicht nur sind bedürftige Menschen in ihrem Wollen auf das reduziert, was sie wollen dürfen, nicht nur sind sie kriegende Menschen, abhängig und kriegerisch gegen ihresgleichen gesonnen. Das, was sie kriegen, heißt bezeichnenderweise Befriedigungsmittel, womit deutlich wird, dass die Bedürfnisbefriedigung einen jeweiligen Kriegszustand vorübergehend befriedet, bis zum Ausbruch des nächsten Bedürfnisses also des nächsten Kriegszustandes.

In den reichen Ländern ist das Projekt des Konsumismus abgeschlossen. Hier hat die moderne Macht ausgesorgt. Die Bewohner der reichen Weltareale sind zu 100 Prozent Konsumenten, in nahezu jeder Lebensverrichtung auf Versorgungspakete angewiesen, bedürftig bis auf die Knochen. Im retardierenden Rest der Welt steht die Vollendung des Projektes noch aus, wiewohl auch hier der Glaube an den Konsumismus sich epidemisch ausgebreitet hat. Nur steht wegen erwiesener Aussichtslosigkeit die Glaubenspraxis hinter der Glaubensüberzeugung noch zurück.

Daß dem Coca Cola-Schluck aus der Dose vor dem nahrhaften Hirsegetränk aus der eigenen Herstellung der Vorzug gebührt, wird auch im südlichen Afrika kaum noch bezweifelt; daß die von hochbezahlten Experten exekutierte High-Tech-Medizin der traditionellen Heilkunst den Rang abläuft und deren Heilkraft in das Reich des Aberglaubens verweist, hat sich auch im ländlichen Indien herumgesprochen, obwohl an den Segnungen der hochgerühmten Hightech-Medizin nur ein Prozent der indischen Menschen partizipieren kann.

Dennoch: es scheint in den ärmsten Ländern nach wie vor ein für die Herren der Erde beunruhigend großes Widerstandspotential gegen die Konsumabhängigkeit zu geben und ein bedenklich großes Vertrauen in die Selbsterhaltungsfähigkeiten. Der unlängst stattgehabte Konflikt um die Nahrungsmittelhilfe, der zwischen südafrikanischen Ländern und dem staatlichen Hilfsprogramm USAid aufgebrochen ist, spricht eine beredte Sprache. Die Afrikaner wollten den genmanipulierten Mais aus Amerika nicht haben. Nicht so sehr, weil sie sich fürchteten, ihn zu essen. In gemahlener Form zum reinen Verzehr würden sie ihn ins Land gelassen haben, um dem Hunger zu wehren.

Sie fürchteten aber, daß sie sich, wenn sie dieses Zeug als Saatgut verwendeten, ein für allemal in Abhängigkeit vom großen Agro-Business begäben, ihre Böden für ihr eigenes Saatgut unbrauchbar machten und künftig auf den Ankauf patentrechtlich geschützten Saatgutes angewiesen wären. Die Amerikaner lehnten es ab, den Afrikanern gemahlenen Mais zu überlassen. So hatten sie nicht gewettet. Afrikanische Selbstversorger sollten Konzernkunden werden, das war der Hintersinn der generösen Hilfsbereitschaft der Weltmacht. Imperialismus getarnt als Nothilfe.

Wir haben gesagt: Bedürfnisse gestatten den Menschen, nur noch das zu erstreben, was man für Geld oder im Tausch erwerben kann und nicht mehr das, was sie aus eigener Kraft und in selbstbestimmter Tätigkeit für sich und andere tun können. Vollkommen widersinnig aber ist, daß die von Bedürfnissen getriebenen Menschen tatsächlich gegenüber den Gegenständen der Begierde vollkommen gleichgültig sind. Wir haben die Vorstellung, daß Bedürfnisse eine Beziehung stiften zwischen einem begehrenden Subjekt und einem begehrten Objekt. Wäre das so, dann müßte sich ja das Begehren an der Brauchbarkeit und Lebensdienlichkeit des Gegenstandes orientieren. Tatsächlich aber begehren Menschen nicht nur Dinge, die vollkommen nutzlos sind, sie können sogar dazu gebracht werden, energisch Jagd auf Dinge zu machen, die ihnen wirklich schaden. Die mächtige Triebfeder des Bedürfens ist eben nicht die Annehmlichkeit oder Nützlichkeit, der Genuß die Freude, die der Gegenstand gewährt oder seine Brauchbarkeit, sondern der Neid.

Die Unersättlichkeit der Bedürfnisse, die die Produktionsmaschinerie und die Profitdynamik im Gange hält, beruht darauf, daß ich nur begehre, was andere auch begehren oder mehr noch, daß ich etwas begehre, weil andere es auch begehren.

Bedürfnisse konstituieren Dreiecksbeziehungen, zwischen dem begehrlichen Subjekt, dem begehrlichen Anderen und dem begehrten Objekt. Und die Befriedigung kommt nicht aus den guten Eigenschaften des Objekts, sondern aus dem neidvollen Blick des Andern, in dem ich mich als Beneideter sonnen kann.

Es gibt eine tiefgründige Darstellung des Neides in der von Giotto um 1305/06 ausgemalten Scrovegni-Kapelle in Padua: eine Gestalt steht in einem Feuer, dessen Flammen an ihr emporzüngeln, nach ihr zu lecken scheinen. Ihr Kopf wird im Profil gezeigt, ein übergroßes Ohr ist an ihm gewachsen. Aus ihrem Mund kriecht eine Schlange, die ihr in die Stirn beißt und aus einem Turban ragt ein geschwungenes Widderhorn, das sich zu dem enormen Ohr zurück biegt. Die linke Hand umklammert einen Geldbeutel. Da sind alle Ingredienzien des Neides beisammen. Die Flammen symbolisieren das Verzehrende dieses Lasters. Der Neid ist buchstäblich in der Lage, die Person auszubrennen und ganz von ihr Besitz zu ergreifen. Das Feuer ist aber auch die verwandelnde Kraft, die die Weltdinge umschmilzt zu etwas, was sie von sich aus nicht sind: in den Flammen des Neides wird alles zum Mittel, nichts hat mehr einen Sinn und Zweck in sich selbst, alles wird unter dem Gesichtspunkt erwogen, ob es mich beneidendenswert für andere macht. Das gerüchtesüchtige Riesenohr trägt dem Neider unablässig die Botschaft zu, daß Andere ihm gegenüber im Vorteil sind. Das vergiftet seine Gedanken und macht ihn schafsköpfig dumm. Er klammert sich ans Geld, jenen Inbegriff des Mittels, das in sich selbst keinerlei Brauchbarkeit hat, aber über grenzenlose Tauschkraft verfügt, so daß es alles gegen alles austauschbar macht.

„Gibt es erst einmal das Geld, dann wird alles, womit es in Berührung kommt, verhext. Es läßt sich nun nach seinem Wert taxieren, ob das nun eine Perlenkette, eine Grabrede oder der wechselseitige Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge ist. Das Geld ist jenes Zaubermittel, das die Welt insgesamt in ein (etwas) verwandelt, das nach seinem Wert taxiert und darum auch verwertet werden kann.... Das Geld dringt in jeden noch so verborgenen Winkel der Welt, es kann alles mit allem verbinden, so disparate Dinge wie eine Bibel und eine Flasche Branntwein", schreibt Rüdiger Safranski 1 Alles wird mit allem austauschbar, alles wird gegen alles aufrechenbar, alles wird reduziert auf seinen Geldwert. Indem es solchermaßen bewertet wird, unterliegt es einer radikalen Entwertung. Das heißt, es wird seiner Einzigartigkeit, seiner Besonderheit, seiner Gültigkeit und Sinnhaftigkeit entkleidet. An ihm gilt nur, was sich als Geldwert realisieren läßt. Und diese Vergeldlichung macht nicht Halt vor dem Menschen. Sie taxiert längst aucnicht mehr nur den 'Wert' seiner Arbeitskraft. Sie ist eingewandert in die privatesten Belange und dreht sich im wesentlichen um die Frage, wieviel man sich denn die unprofitablen Gesellschaftsmitglieder noch kosten lassen will , kann oder soll.

Aber diese Geldwerte, die allem und jedem angeheftet werden, sind nicht real, sie haben keine Wirklichkeit, sie konstituieren eine Gespensterwelt, die wie ein Verhängnis auf der Welt der realen Dinge und Wesen liegt ( Vgl. M. Burckhardt, Metamophosen von Raum und Zeit, 1997, S. 75 ff.) Das Geld gibt dem Neidhammel die Sicherheit, daß er mit seiner Hilfe beliebigen Andern ihre beliebigen Vorteile abtrotzen kann.

Der Neider kann nichts genießen, sondern nur etwas gewinnen im schnödesten Sinn des Wortes. Er begehrt nichts um seiner selbst willen, nichts ist ihm aus sich heraus erfreulich, angenehm, hilfreich, brauchbar. Zwischen ihn und jeden denkbaren Gegenstand schiebt sich ein Drittes, das mißtrauische, argwöhnische Schielen auf den Andern, das ihm den Wert des in Erwägung gezogenen Objektes, sei es Ding oder Mensch, abzuschätzen erlaubt. Wertvoll ist nur, was andere auch begehren. Gewinn zieht der Neider daraus, daß er für andere, die dasselbe begehren, beneidenswert wird.

„Modernes Denken und Handeln ist tiefgreifend dadurch bestimmt, daß zunehmend allem, was Wert hat, Knappheit zugeschrieben wird.“ (I. Illich, Vom Recht auf Gemeinheit, 1982, S. 125) Dies gilt vor allem auch umgekehrt: Nur was knapp ist, was nicht jedem zukommt, ist etwas wert, denn nur weil es knapp ist, zeichnet es den, der es sich leisten kann, aus und macht ihn beneidenswert. Und beneidenswert will jeder sein, um nicht in Bedeutungslosigkeit zu versinken. In einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern nützliches Tun versagt und sie zu belieferungsbedürftigen Mängelwesen degradiert, entsteht ein wucherndes Bedürfnis nach Sinn. Der neidvolle Blick der Anderen ist ein wenn auch schäbiger Sinnersatz, er verleiht dem Beneideten den Schein der Bedeutsamkeit.

Was heißt Bedürfnisbefriedigung, wenn Neid im Spiel ist? Dann geht es um viel mehr als um schlichte Bedürfnisbefriedigung. Es geht um Erlösung. Die Erlösung, die der Neider sich von den Attributen verspricht, mit denen er sich zum Beneideten emporadelt, stimuliert die Begehrlichkeit mehr als irgendein Objekt der Begierde es je könnte. Es macht im Gegenteil das Begehren und den Begehrenden gegenüber den tatsächlichen Eigenschaften des Begehrten vollkommen gleichgültig. Jedes beliebige Objekt, sei es schädlich oder nützlich oder keines von beidem, kann Ziel des heißesten Strebens sein, wenn es die wundersame Verwandlung vom Neider zum Beneideten verspricht.

Umgekehrt kann die mimetische Begierde, die sich allein durch Neid leiten läßt, nur geschürt werden, wenn die genuinen Beziehungen der Subjekte zu den Gegenständen unterbrochen sind. Solange Menschen zu den Gegenständen ihres Bedarfs in einem Verhältnis stehen, das durch Eigentätigkeit und unverwechselbare Erfahrung geworden ist, sind die Gegenstände in der Biographie der Person verwurzelt, sie sind nicht beliebig austauschbar. Nur käufliche Waren, denen keine lebens- und erfahrungsgeschichtliche Bedeutung anhaftet, die erinnerungslos und leer sind, erlauben ein blindes Umherschweifen der Begierden. Neidhandeln heizt die Bedürfnisse an, es ist imstande, die Begierden an x-beliebige Gegenstände zu heften und es macht sie unersättlich. Man kann sagen, wer von neidstimulierten Bedürfnissen getrieben ist, ist jemand, der kauft, was er nicht braucht, von dem Geld, das er nicht hat, um dem zu imponieren, den er nicht mag. (Wolfgang Menges)

Es ist schon bemerkenswert zu sehen, wie sich in dem, was einst Tugenden und Laster waren, in der Konsumgesellschaft eine wirkliche Umstülpung vollzieht. Die ehemaligen Todsünden werden zu ökonomischen Tugenden geadelt: Der Neid macht uns zu Konkurrenten, und Konkurrenz belebt das Geschäft. Die Habgier lässt uns in unseren Bedürfnissen unersättlich werden, und das hält die Wachstumsmaschinerie im Gange. Die Ungerechtigkeit macht uns fit für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt. Die Dummheit, hält uns das lästige Grübeln über die Folgen unseres Tuns vom Halse. Der Zorn gibt uns die notwendige Aggressivität, um unsere Herrschaft über die Natur durchzusetzen. Und die Trägheit wird zum Recht auf Bequemlichkeit und Lebenserleichterung umgedeutet und macht uns willig und bereit, unser selbstbestimmtes Tun an die Maschinen abzutreten. Der Unglaube schließlich lässt uns unser Schicksal in die eigene Hand nehmen und stattet uns mit dem eisernen Willen aus, uns nur uns selbst zu verdanken, unserer Planung und Kalkulation und der souveränen Beherrschung unserer selbst und der Natur.

Nun können sich aber Menschen nicht nur mit ihren Bedürfnissen mit den Weltdingen verbinden, sie können sich mit ihren Fähigkeiten zu ihnen ins Verhältnis setzen, sogar mit Fähigkeiten, über die sie noch gar nicht verfügen, die erst in und an ihnen wachsen müssen. Sie werden dann einer ganz anderen Welt ansichtig, einer unfertigen Welt, die betrachtet und bedacht sein will und an die jeder einzelne noch Hand legen kann. Sie selbst sind in diesem Weltverhältnis nicht 'kriegende', sondern tätige Menschen. Im tätigen Weltumgang, entstehen unvergleichlich andere Bezüglichkeiten zu den Gegenständen als im bedürftigen. Die Beziehung zwischen dem tätigen Menschen, (der natürlich nicht mit Lohnsklaven welchen Niveaus auch immer verwechselt werden darf) und seinem Gegenstand ist keinesfalls beliebig, sie ist direkt und unverwechselbar und von Anbeginn auf Gegenseitigkeit angelegt. Der schaffende Mensch und sein Gegenstand (Gegenstand hier im weitesten Sinn des Wortes gebraucht, als das oder der oder die Andere, die mir gegenüberstehen) verwandeln sich gegenseitig, man könnte sagen sie zähmen einander. Nehmen wir das Beispiel des Bildhauers im Angesichte des unbearbeiteten Marmorblocks. Er will ihm eine Gestalt geben nach seinem Bilde, aber seine Vorstellung wird durch die Beschaffenheit des Steins gebändigt. Der Stein muß betastet, betrachtet werden, er erhebt seinerseits den Anspruch, daß das ihm Gemäße aus ihm wird. Er setzt dem Bildhauer den Widerstand seiner Artung entgegen. Der wird seine Kräfte mit ihm messen müssen.

Der französische Autor und Architekt Fernand Pouillon, der jahrelang mit seinen Studenten den Baugeheimnissen des Zisterzienser-Klosters Le Thoronet nachgespürt hat, versucht, sich einzufühlen in dessen Baumeister, und er läßt diesen am Abend vor dem Beginn der Aufmauerung der Abtei folgende Rede an seine Mitbrüder halten:

"Ich habe die Grenzen des Möglichen und Schönen für die künftige Architektur abgesteckt, ohne meine tiefsten Bestrebungen und mein Gefühl außer Acht zu lassen! Nachdem wir alles, was die Materialien betrifft, genau durchdacht hatten, wußten wir , wie die Spielregeln in Zukunft aussehen werden. Ich habe nie gesagt, ich will, ohne die Dinge geprüft zu haben. Ich habe alles erwogen, die Schwierigkeiten abgeschätzt und dann gesagt: 'So könnten wir es versuchen'."

Dann fragt ihn ein Mitbruder, der ihn beharrlich auf die Unmöglichkeit, diesen besonderen spröden, berstenden Stein, fugenlos zu mauern, hinweist: "'Du liebst also diesen Stein?'

'Ja, und ich glaube, er erwidert diese Liebe. Seit dem ersten Tag habe ich Ehrfurcht vor diesem Stein. Ich hätte nichts darüber sagen können, bevor ich dieses Gefühl hatte. Jetzt ist der Stein zu einem Teil meiner selbst geworden... . Im Traum liebkose ich ihn, die Sonne breitet sich auf ihm aus, weckt ihn morgens zu neuen Farben, der Regen läßt ihn in dunkleren Tönen schimmern,... und ich liebe ihn um seiner Fehler und Schwierigkeiten (willen) um so mehr, um seiner wilden Abwehr gegenüber unserem Zugriff, um all der Tücken (willen), mit denen er uns begegnet. Für mich ist er fast wie ein Wolf, edel, mutig, mit abgemagerten Flanken, von Narben, Bissen, Wunden und Schlägen gezeichnet. So ist unser Stein in den Mauerreihen und in den Gewölben gezähmt: wie ein Wolf. Wenn ich unsere Abtei in Harmonie und Maß zwinge, wird sie doch etwas von seiner unbändigen Wolfs-Seele behalten. Sie wird zwar bekehrt sein zu Ordnung und Regel, dennoch wird die Schönheit eines wilden Tiers mit gesträubtem Fell immer ihr Merkmal bleiben. Deshalb, verstehst du, will ich sie nicht so bauen, daß sie mit Kalk verkleistert wird, Freiheit will ich ihr lassen, sonst kann sie nicht leben. Willst du denn diesem Stein gegenüber wirklich unberührt bleiben, wo ich nur hier bin, um dieses Gestein lieben zu lernen?" (F. Pouillon, Singende Steine, 1996, S. 103f)

Dies ist eine eindringliche Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem tätigen Menschen und dem Gegenstand seiner Tätigkeit. Im Augenblick ihres Zusammentreffens wirken sie aufeinander ein. Das Objekt ist dem Subjekt in diesem wechselseitigen Zähmungsakt ebenbürtig, sie respektieren sich, so will es scheinen, gegenseitig, indem sie einander ihren gebändigten 'Willen' aufnötigen. Ja, es macht gar keinen Sinn mehr von Subjekt und Objekt zu sprechen, denn es geht nicht um ein verursachendes Subjekt und ein gefügigiges Objekt, das nur noch Wirkung zu zeigen hat. Wirken und Bewirktwerden sind in einem unentwirrbaren Wechselspiel ineinander verschlungen. Das Gegenüber, an das da Hand gelegt wird, ist ein ‚Du’ und nicht ein ‚Das da’. Mit dem ‚Das da’ kann ich nach Belieben umspringen. Vom ‚Du’ muß ich mich überraschen lassen. Aber diese Angewiesenheit aufeinander hat nicht das geringste zu tun mit der Abhängigkeit von belieferungsbedürftigen Mängelwesen.

In dem Ringen, das der Baumeister beschreibt, hat der scheele Blick auf einen neidischen oder beneideten Dritten auch nichts zu suchen. Was nun widerfährt dem tätigen Menschen und was dem Gegenstand in dieser Begegnung?

Dem Gegenstand wächst durch die an ihn gewendete Tätigkeit die Brauchbarkeit zu, er nimmt die in ihn hineingedachte Gestalt an. Er fügt sich der Ordnung und der  Bestimmung, in die er eingestellt wird, und übernimmt die ihm zugedachte Aufgabe. Aus einem 'Stein an sich' ist ein 'Stein für uns' geworden. Ihm wird allerdings Gewalt angetan, er wird aus der Fülle seiner unbestimmten Möglichkeiten einer Bestimmung zugeführt. Aber er wird als Kreatur ernst genommen, als ein Geschöpf das in sich selbst seinen letzen Sinn hat und das in sofern vollendet ist, das aber nicht am Ende ist, sondern ein immer noch zu erschaffendes Wesen ist, das in seinen Möglichkeiten zur Erscheinung gebracht werden kann und will. Kreatur ist ja das Geschaffene zu Erschaffende.

Aber was geschieht dem Baumeister und den Mönchen, die im Steinbruch und auf der Baustelle mit dem widerstrebenden Stein ringen nun ihrerseit? In jedem Stadium seiner Verfertigung wirkt der Stein auf den, der ihn bearbeitet, zurück. Der Steinmetz findet genau wie der Stein aus der Unbestimmtheit zu seiner Bestimmung, ihm wachsen Fähigkeiten zu und Erfahrungen, Erfahrungen des Gelingens und des Scheiterns, die ihn nachhaltig prägen. Jedes Versäumnis an Sorgfalt im Umgang mit dem Stein, wird auch den Steinmetz oder den Maurer oder den Architekten affizieren, er wird seine Bestimmung verfehlen, hinter seiner besten Möglichkeit auf eine nicht wieder gut zu machende Weise zurückbleiben: Was er dem Stein tut, tut er sich selbst. Sowohl also aus dem mählich sich verwandelnden Gegenstand, als auch aus dem daran gewandten Tun wirken Kräfte auf den Bearbeiter zurück. Und noch einmal wird er sich in Ansehung des fertigen Bauwerks und in seiner Nutzung für Gebet und Lobgesang verwandeln. Er kann sich im Werk seiner Hände, seines Kopfes und seiner Gesinnung spiegeln, sich selbst erfahren und Richtungweisung für weiteres Tun oder Lassen daher erhalten. Fähigkeiten und die Vorgefühle, die sie ahnen lassen, sind in sich Antriebskräfte für's Handeln. Nicht nur 'Gefühle des Mangels, verbunden mit dem Streben, ihn zu beseitigen', sondern auch Gefühle eines unerweckten Vermögens, verbunden mit dem Bestreben, es zu erproben und zur Erscheinung zu bringen, lassen Menschen in Unruhe geraten und tätig werden. Nur aus diesem Überschuß, aus dieser Ahnung von uneingelösten Möglichkeiten in uns selbst und in andern entstehen freie Anfänge, denen nicht die Not die Melodie pfeift und denen nicht die Bedürftigkeit den Takt schlägt.

Und nun die Gemeinschaft, die sich um die Aufgabe des Baus der Abtei versammelt: Ihr muß keine 'Corporate Identity' verpaßt werden, damit sie sich mit dem Aggressor identifiziere und in ihre Fron einwillige, wie es heute zum Basiswissen einer halbwegs elaborierten Unternehmensführung gehört. Die Gemeinsamkeit, die Bindung aneinander, wächst aus der gemeinsamen Aufgabe, die die Beteiligten sich selbst vorgesetzt haben, heraus, und diese wiederum gewinnt ihre Kontur durch die Vorscheine der Fähigkeiten, die die einzelnen in sich tragen. Das dienende Verhältnis, in dem sie als Mönche stehen, ist, recht verstanden, keines, das sie als Menschen zu Mitteln macht. Jeder, der nicht seine Tauglichkeit zu dem Werk bis zur Neige ausschöpft, vergeht sich nicht nur an dem Bau, sondern auch an allen Mitbrüdern und an sich selbst.

In der Antike kannte man für diese selbstauferlegte Pflicht der Ausschöpfung der eigenen Fähigkeit zugunsten der gemeinschaftlichen Aufgabe den Begriff der Tugend. Nicht daß dadurch das Miteinander in schönstem Gleichgewicht und dauernder Harmonie seinen ruhigen Gang nähme, es mag Konflikte, Reibereien, Zornausbrüche, Feindseligkeiten, ja sogar Haß und Eifersucht geben, aber die Beteiligten sind immer als Personen miteinander verbunden, und vor allem sie sind verbunden, aufeinander bezogen. Sie haben Bedeutung füreinander, das heißt, sie sind unersetzlich. Sie bilden ihre Erfahrung aneinander, nicht beliebige, allgemeine Erfahrungen, sondern besondere, durch diesen jeweiligen einmaligen Anderen geprägte Erfahrungen.

Nicht so im industriellen Fertigungsprozeß, der die Personenmodule austauschen kann wie Maschinenkomponenten. Ivan Illich nennt solche Bezüglichkeit eine konviviale Beziehung, für die entscheidend sei, dass sie das Werk von Personen (ist), die an der Erschaffung des sozialen Lebens beteiligt sind" (I. Illich, Selbstbegrenzung, 1975, S.32). Ob Menschen bei ihrer Arbeit eine solche Konvivialität, ein solches lebendiges Miteinander zuwege bringen können, das hängt zuallererst von den Werkzeugen ab, derer sie sich bedienen, ob dies große, übermächtige Apparaturen sind, die "leblose Menschen" erfordern, oder "individuell zugängliche Werkzeuge (...), um das sinnvolle und eigenverantwortliche Tun wirklich bewußter Menschen zu fördern." ( I. Illich, Fortschrittsmythen,1978, S.35)

Ich glaube, daß nur aus einem solchen Welt- und Menschenbezug Genuß entstehen kann. Genuß ist nicht gleich Bequemlichkeit und Anstrengungslosigkeit. Ich stelle mir das Schlaraffenland nicht sehr genußreich vor. "Heute", schreibt George Steiner, "wo die ganze Therapie darauf hinausläuft, alles zu vereinfachen und nur keine Anstrengung zu fordern, scheint es mir viel schwieriger geworden zu sein, zur Freude zu gelangen, in Freude zu wachsen. Der Kampf, der nötig ist, um alltägliche Probleme zu lösen, hat überhaupt nichts ... Trübsinniges an sich. Im Gegenteil, in dem Augenblick , da sich das Gelingen einstellt, gibt es einen Augenblick des Lachens, der riesigen Freude." (G. Steiner, Grammatik der Schöpfung, 2002)

Ganz anders, wenn die Menschen aufeinander und auf die Welt durch Bedürfnisse bezogen sind, statt durch Fähigkeit und Tätigkeit. Dann tritt an die Stelle des erschaffenen Werkes das fertige Befriedigungsmittel, an die Stelle der Tätigkeit tritt die Belieferung. Das Individuum wird nicht fähiger und erfahrener, sondern bestenfalls routinierter. Lernen wird durch Bedürfnisbefriedigung überhaupt überflüssig. Die Bezogenheit aufeinander wird zum konditionierten Reflex, zur stereotypen Reaktion in einem verapparateten Verlauf, den der einzelne nie begreifen wird. (Vgl.I. Illich, Selbstbegrenzung, 1975, S.32)

Das Bedürfnis vermag keine Bezüglichkeit zu stiften, weil die Menschen und die Gegenstände einander nicht verwandeln. Homo consumens gerät an seine Daseinszutaten durch einen Kaufakt. In diesem Akt werden Mensch und Ding einfach zueinander addiert, ohne sich gegenseitig herauszufordern. Und dennoch sind die Produkte mit Befehlsgewalt ausgestattet, nicht nur, daß sie unablässig den Befehl 'Kauf mich' ausstoßen, sondern sie drohen: 'wenn du mich nicht kaufst, bist du als Mensch unkomplett, ich aber sorge für deine Vervollständigung'.

Die industriellen Tätigkeiten haben keinen erkennbaren oder erlebbaren Bezug zum Gegenstand. Sie agieren gleichsam ins Leere. Was der einzelne im Produktionsprozeß tut, hat nichts mit dem zu tun, was er begehrt oder braucht. Die Tätigkeiten sind beliebig. Ihr Hauptzweck besteht darin, Geld zu verdienen, ohne das nun einmal niemand auskommt in der Konsumgesellschaft. Unendlich viele Tätigkeiten werden ausgeübt an Gegenständen oder Teilen von Gegenständen, die diejenigen, die diese Tätigkeiten verrichten, nie in ihrem Leben gebrauchen, ja, die sie nicht einmal zu Gesicht bekommen und von deren Existenz sie im Extremfall nichts ahnen. So können auch aus den Tätigkeiten keine Kräfte zu dem, der sie ausübt, zurückfließen, weder Fähigkeit noch Erfahrung, noch die Brauchbarkeit des Gegenstandes. "Ein Mensch (...) kann sich auch sein Tun stehlen lassen von anderen. Wenn man uns die Erfahrung nimmt, nimmt man uns unser Tun. Wenn uns unser Tun sozusagen aus den Händen genommen wird wie Kindern das Spielzeug, beraubt man uns unserer Humanität." (R. D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung, 1969, S.23) Denn dem Tun entspringt jener Augenblick des Lachens und der riesigen Freude.
 



Quelle:  Vortrag Teleakademie, SWR Fernsehen, November 2006 - klick