Neoliberalismus in Lateinamerika

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Neoliberalismus in Lateinamerika
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Zuerst eine wichtige Erklärung: Liberalismus in Europa und in den USA ist keinesfalls einer und derselbe Begriff, denn man stützt sich nämlich auf unterschiedliche  Auffassungen von der Funktion des Staates für die Wirtschaft. Was man unter dem klassischem Liberalismus versteht, gehört erst zur west-europäischen Tradition. Zur Funktion des Staates im Neoliberalismus: auch die Auffassung von dem Verhältniss zwischen Wirtschaft und Policy im Neoliberalismus ist etwas anders als bei uns!

 


 

Was verstehen wir unter Neoliberalismus

von Michael Rösch

 


Probleme bei der Begriffsdefinition

Die Definition des Begriffs Neoliberalismus wirft verschiedene große Probleme auf. Zunächst ist es wichtig, zu klären, daß hier nur erörtert werden soll, was Neoliberalismus in Lateinamerika bedeutet und welche Maßnahmen verwendet werden. Dazu ist es unerläßlich, sich von der in Europa und den USA üblichen Liberalismus Definition als Grundlage einer Erklärung des Neoliberalismus gänzlich zu verabschieden. Die normalerweise verwendete Deutung, daß der Neoliberalismus sich aus dem Liberalismus entwickelt hat, der sowohl wirtschaftliche als auch politische oder gesellschaftliche Aspekte umfaßt, greift in dem hier betrachteten Gebiet nur bedingt. In Lateinamerika beinhaltet der Neoliberalismus in der praktischen Anwendung nur die wirtschaftliche Komponente des Liberalismus. Diese These wird am bekanntesten neoliberalen Projekt in Lateinamerika belegt, dem chilenischen Modell. Hier kam es unter der Leitung der "Chicago Boys", einer Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern, die vor allem die Ideen Milton Friedmans zu realisieren versuchten, zu massiven Umgestaltungen der chilenischen Wirtschaft. Daneben blieb jedoch das autoritär diktatorische Regime Pinochets bestehen. Es wurden also liberale Grundsätze nur in der Wirtschaftspolitik verwirklicht, eine Liberalisierung der Gesellschaft trotzalledem nicht vorgenommen.

Allerdings herrscht auch unter Sozialwissenschaftlern teilweise große Verwirrung bei der Klärung des Begriffs Neoliberalismus. Dies liegt nun wohl hauptsächlich daran, daß es sich bei den theoretischen Grundlagen dieser Umgestaltung eben nicht um gesellschaftswissenschaftliche, sondern um wirtschaftswissenschaftliche handelt. Deshalb stellen sich für Neoliberalisten verschiedene sozialwissenschaftliche Fragen wenn überhaupt nur in sehr geringem Ausmaß..

Hinzu kommt, daß es keinen Theoretiker gibt, der sich explizit als Neoliberalist bezeichnet. Vielmehr handelt es sich bei diesem Begriff um ein Label, das vornehmlich von Kritikern desselben verwendet wird.

Die Grundgedanken des Neoliberalismus , wie er in Lateinamerika verstanden und mehr oder weniger konsequent angewandt wird, werden größtenteils aus den Ausführungen und Ideen Friedmans übernommen, der durch seine Lehrtätigkeit an der Universität von Chicago maßgeblichen Einfluß auf die spätere Entwicklung dieser ökonomischen Strömung hatte.
 

Das Menschenbild des Neoliberalismus

Der Neoliberalismus geht von einem negativen Menschenbild aus, das auf der Annahme basiert, daß jeder Mensch, vor allem in öffentlichen Ämtern, versuchen wird, sich oder Personen aus seinem Umkreis zu bevorzugen (Messner 1995, S. 1341). Deshalb wird weiterhin angenommen, daß sich zwangsläufig Korruption entwickeln müsse. Verhindert oder zumindest eingeschränkt werden kann diese Entwicklung nur durch möglichst weitgehende Reduzierung des öffentlichen Sektors und der absoluten Selbststeuerung des Marktes. Die Optimalvorstellung des Menschen im Neoliberalismus beschreibt Friedman als vergleichbar mit der Situation Robinson Crusoes, der alleine auf seiner Insel zwar nur begrenzte Macht und Alternativen besitzt, der aber durch keine andere Person oder Gruppe von Personen beeinflußt oder diskriminiert wird, sondern die Begrenztheit seiner Möglichkeiten nur aus den natürlichen Umständen resultiert, er also in absoluter Freiheit leben und handeln kann (Friedman 1962, S. 12).


Die Rolle des Staates im Neoliberalismus

"In economic terms, the state is part of the problem, not the solution." (Green 1995, S. 245). Jede Staatstätigkeit, die über ein absolutes Mindestmaß hinausgeht, ist in der Theorie des Neoliberalismus verfehlt und überzogen. Dieses Mindestmaß besteht in der Gewährleistung von Chancengleichheit, Schutz des Individuums, der Verhinderung von Diskriminierung und Sicherstellung der notwendigen Rahmenbedingungen eines freien Marktes.

Diskriminierung bedeutet für Friedman allerdings nur ein Eingriff in die Chancengleichheit. Ein Beispiel hierfür wäre ungleiche Besteuerung. Diese ist für den Neoliberalismus, genauso wie Zölle prinzipiell eine Diskriminierung derer, die davon betroffen sind. Deshalb ist es ein Ziel dieser Theorie Steuern und Zölle so weit wie möglich zu reduzieren. Der einzig legitime Eingriff des Staats in die Wirtschaft ist für Friedman die Verhinderung von Monopolen, die zu einer Verzerrung der Marktverhältnisse führen müsse.

Hier liegt augenscheinlich die größte Diskrepanz zwischen Friedmans Theorie und der praktischen Umsetzung seiner Schüler in Chile. Die "Chicago Boys" akzeptierten in Chile ein äußerst autoritäres und repressives Regime zur Durchsetzung ihres Modellversuchs. Dieses Paradoxon löst sich jedoch bei genauerer Betrachtung sehr einfach auf, da zur Realisierung so weitreichender Umgestaltungen im wirtschaftlichen und zwangsläufig auch im gesellschaftlichen Bereich ein starker Staat zumindest zu Beginn unerläßlich ist. Die Akzeptanz dieses nur wirtschaftlich liberalen Staates in Chile zeigt deutlich auf, daß die neoliberale Theorie in nur wenigen, eben den wirtschaftlichen Punkten wirklich als Liberalismus zu bezeichnen ist. Die Rolle des Staats im Neoliberalismus ist am ehesten mit dem Minimalstaat Nozicks zu vergleichen, allerdings mit dem Unterschied, daß in der praktischen Anwendung ein autoritärer oder totalitärer Staat akzeptiert wird.

Auch von den "Chicago Boys" selbst wurde die Regierung Pinochets positiv bewertet und sogar als Voraussetzung für ihre Umgestaltung angesehen. Beispielsweise erklärte De Castro, ein Mitglied dieser Gruppe in "El Mercurio" vom 15. Februar 1976, "..., daß die wirkliche Freiheit der Person nur mit einer autoritären Regierung garantiert wird, die die Macht mittels Normen ausübt, die für alle gleich sind" (zitiert nach Valdés 1995, S. 51). Dieses Zitat untermauert zum einen die oben aufgestellte These, daß der Neoliberalismus den Liberalismus fast vollständig auf seine ökonomische Komponente reduziert, und zum anderen ist es Beleg für ein weitgehendes Bündnis zwischen den Ökonomen auf der eine Seite und der Militärjunta auf der anderen Seite..

Da Staatsbetriebe einen unzulässigen Eingriff des Staates darstellen würden liegt das Hauptziel der Neoliberalisten in der vollständigen Privatisierung dieser Betriebe. In Chile beispielsweise wurden innerhalb weniger Jahre fast alle Betriebe veräußert, an denen der Staat in irgendeiner Weise beteiligt war. Darunter waren auch viele landwirtschaftliche Betriebe. Das Land wurde entweder an Großgrundbesitzer oder an Kleinbauern verteilt und verkauft. Gerade diese Kleinbauern aber waren ohne staatliche Subventionen nicht überlebensfähig. An ihrem Beispiel und der offiziellen Reaktion auf eine enorme Welle von Bankrotten zeigt sich die wirtschaftsdarwinistische Ausrichtung des Neoliberalismus in Chile. Deutlich wird dies an einem Kommentar Admiral Merinos, einem Mitglied der Militärjunta zu diesen Konkursen: "Let fall those who must fall. Such is the jungle of ... economic life. A jungle of savage beasts, where he who can kill the one next to him, kills him. That is reality." (zitiert nach Green 1995, S. 155).


Sozialpolitik im Neoliberalismus

Soziale Maßnahmen haben für den Neoliberalismus weitgehend keine Bedeutung, sie werden vielmehr als Diskriminierung derer verstanden, die nicht davon profitieren. Die einzig akzeptierte "soziale Maßnahme" besteht in der Schaffung und Erhaltung von absoluter Chancengleichheit im Sinne von absoluter juristischer Gleichbehandlung aller Mitglieder der Gesellschaft. Nach der Theorie des Neoliberalismus führt eine solche Gleichbehandlung bei freien Märkten automatisch zu sozialer Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit bedeutet aber für den Neoliberalismus wie schon erwähnt nur absolute Chancengleichheit. Deshalb stellt sich für den Neoliberalismus die Frage nach den sozialen Folgen der Umgestaltungsmaßnahmen nur in sehr geringem Umfang. An dieser Stelle entfernt sich der Neoliberalismus auch endgültig von gemäßigteren Liberalismustheoretikern wie Rawls, der die soziale Komponente in seinen Gerechtigkeitsgrundsätzen noch sehr deutlich postuliert. "..., daß soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, etwa verschiedener Reichtum oder verschiedene Macht, nur dann gerecht sind, wenn sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben, insbesondere für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft." (Rawls 1994, S. 32). Diese Position wäre wohl für orthodoxe Neoliberalisten kaum akzeptabel. Friedman geht sogar so weit, die Verantwortung für die Verwirklichung ethischer Grundsätze ausschließlich beim Individuum anzusiedeln: "Indeed, a major aim of the liberal is to leave the ethical problem for the individual to wrestle with." (Friedman 1962, S12). Damit entbindet er den Staat von jeglicher ethischen und sozialen Verantwortung.


Zusammenfassung

Der Neoliberalismus stellt eine ökonomische Theorie oder ein Modell dar, die die Reduzierung des Staates im ökonomischen Bereich zu ihrer höchsten politischen Maxime erhoben hat. Daneben jedoch ist die politische Herrschaft von relativ geringer Bedeutung, solange diese die Vorgaben erfüllen kann, die die Ökonomen aufstellen. Vielmehr wird oft ein autoritärer Staat bevorzugt, um die nötigen Maßnahmen durchzuführen. Das oberste Ziel ist eine möglichst weitgehende Selbststeuerung der Märkte, die nach der Theorie automatisch zu optimalen Verhältnissen führen müsse. Daher rechtfertigen sich für Neoliberalisten auch enorme soziale Kosten, die bei entsprechenden Umgestaltungen zwangsläufig anfallen.

(Michael Rösch)

 


 
Literatur:

 

• Friedman, Milton: Capitalism And Freedom, 1962 - Chicago University Press, Chicago

• Green, Duncan: Silent Revolution: The Rise Of Markets And Economics In Latin America 1995 - Biddles Ltd., Guilford, King´s Lynn

• Messner, Dirk: Staat und Entwicklung in: Blätter für deutsche und internationale Politik Heft 7 1995, Blätter Verlagsgesellschaft mbH, Bonn

• Müller-Plantanberg, Urs: Die Cepal und der Neoliberalismus in: Dirmoser, Dietmar etc. (Hrsg.): Markt in den Köpfen, 1993, Horlemann Verlag, Bad Honnef

• Müller-Plantanberg, Urs: Theorie und Praxis des Neoliberalismus in: Dombois, Rainer/Imbusch, Peter/Lauth, Hans Joachim/Thiery, Peter (Hrsg.)
Neoliberalismus und Arbeitsbeziehungen in Lateinamerika, 1997 - Vervuert Verlag, Frankfurt/M.

• Nozick, Robert: Anarchie Staat Utopia, o. J. - Moderne Verlags Gesellschaft, München

• Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1994 - Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M.

• Valdés, Juan Gabriel: Die Chicago-Schule: Operation Chile in: Dirmoser, Dietmar etc. (Hrsg.): Markt in den Köpfen, 1993, Horlemann Verlag, Bad Honnef