Oktoberfestung München. Europa selbst asylreif.

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Wolfgang Blaschka
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Oktoberfestung München. Europa selbst asylreif.
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Oktoberfestung München


Europa selbst asylreif


München ist gerüstet zum 182. Oktoberfest. Längst sind die Zelte ausgebucht und überfüllt. Das weltweit größte Massenbesäufnis wird binnen zweier Wochen wieder über 6 Millionen Menschen auf die Wiesn spülen, die sich bis zur Bewusstlosigkeit dem Rummel ergeben, aus Achterbahnen oder Autoscootern übergeben und ihr sauer Erspartes leichten Achselzuckens an die zuständige Bedienung nebst Trinkgeld abgeben. Unter 10 Euro (zur Erinnerung: 20 Mark!) ist nirgendwo mehr eine knapp eingeschenkte Mass zu haben [sic!]; die Maßlosigkeit wird zum Maß aller Tisch-Reservierungen: Bis zu 5000 Euro wurden im Internet gefordert, um noch ein heiß begehrtes Plätzchen in einer der voll ausgebuchten Bierburgen zu ergattern. Möglicherweise war da ein halbes Hendl noch mit drin. Die frechsten dieser Luftbuchungen wurden inzwischen allerdings von den Wirten storniert. Das tut der insgesamten Milliarde Umsatz keinen Abbruch.

Die Flüchtlinge können da nicht mithalten, weder zahlenmäßig noch was die Zahlungskräftigkeit anbelangt. Sie hatten in der Regel um die 3500 Euro an Schlepper zu latzen, allerdings nicht nur für einen Abend, sondern zur Rettung ihres Lebens. An manchen Tagen kamen bis zu 12.000 in München an, jetzt gerade noch tausend, denn die bayerischen Grenzen sind nahezu dicht. Österreich ist halbdicht. Kroatien ist dicht, Slowenien volldicht. Ungarn sowieso

Hacke-zu lallt deren Ministerpräsident Viktor Mihály Orbán ernüchternde Sliwowitz-Weisheiten in die Welt: Man wolle den Zaun jetzt auch an der Grenze zum EU-Nachbarland Rumänien weiter bauen, womöglich auch gegen Kroatien. Dublin sticht Schengen. Europa vom freiesten: Feuer frei für Tränengas-Kartuschen, Wasser marsch für Strahl-Kanonen, Knüppel los und stellenweise sogar Schützenpanzer vor! Ungarns Regierungschef fühlt sich so frei, keine Muslime im Land haben zu wollen, weil die angeblich das Christentum gefährden würden. Dabei will so gut wie niemand in Ungarn einen Asylantrag stellen, weder irakische Jesiden noch kurdische Alewiten noch syrische Christen, schon gar keine Muslime. Nur schnell durch nach Österreich und Deutschland! Dann eben auf dem Umweg über Kroatien und Slowenien, solange das noch irgendwie ging.

Orban gefällt sich in der Pose als Grenzwächter Europas gemäß dem Dublin-Abkommen (zwischenzeitlich durch die Dublin-II-Verordnung und die Dublin-III-Verordnung ersetzt worden, dazu die neuen Beschlüsse der EU-Kommission der letzten Tage). Dass seine Regierung jetzt ausgerechnet aus Brüssel und Berlin für seine rigorose Abschottungspolitik kritisiert wird, scheint ihn zu kränken. Hatte die EU doch davon lange genug stillschweigend "profitiert". Nun steht er am Pranger, weil er das hässliche Gesicht der Festung Europa allzu offen gezeigt hat. Der Bundeswehr-Einsatz zur Zerstörung der Boote im Mittelmeer zielt auf nichts anderes: Schutzsuchende fernhalten, Schiffe versenken, Schleuser verhaften, Fluchtrouten kappen. Auf See genau dasselbe wie an Land: Dort kann messerscharfer NATO-Draht die Nahtstellen zum Südosten versperren, quer über die Autobahn. Die Zeiten des "Gulasch-Kommunismus" sind endgültig vorüber, nun gilt es den "Lager-Kapitalismus" zu kultivieren, um die Visegrád-Staaten Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen gegen Quotenpläne des Westens in Stellung zu bringen.

Da will die mit allem Fremden fremdelnde CSU nicht abseits stehen und macht sich Sorgen, natürlich um die Flüchtlinge, versteht sich: Denen sei die Begegnung mit stark alkoholisierten Massen nicht zuzumuten. Am Hauptbahnhof werden Gitter aufgebaut oder die Züge gleich weiter an der bayerischen Landeshauptstadt vorbei geleitet, oder gleich beides. Abschottungs-Phantasien beleben die Gehirnwindungen der Engherzigen, die sich vom Elend der Welt geradezu angeekelt fühlen, ohne das eigene zu erkennen. Dem bayerischen Innenminister Herrmann scheint die Würdigung des CSU-Sympathisanten Roberto Blanco als "wunderbarer Neger" der höchste Ausdruck seiner Sympathie-Bekundung für Nicht-Eingeborene zu sein. Solche "Fremdenfreunde" sollten schleunigst zurücktreten.

Das larmoyante CSU-Gemäkel schlägt nun auch der Kanzlerin auf die Raute: "Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Fast möchte man ihr die ungewöhnliche Gefühlsaufwallung abnehmen, säße da nicht in ihrem Kabinett der gnadenlose Finanzwart Schäuble mit seiner Kralle auf der Kasse, der statt der dringend benötigten 6 Milliarden Euro mit 500 Millionen Einsparungen quer durch alle Ressorts ohne Kreditaufnahme rechnet. So wird das wohl nichts werden mit "Wir schaffen das". Da wird die "Mutti aller Flüchtlinge" noch kräftig anschieben müssen, bis der böse, alte Mann die Schatulle aufklappt und noch bevor die Kommunen kapitulieren. Mit Zeltstädten ist es ja nicht getan. Der Winter steht vor der Tür. Perspektivisch müssen Wohnungen her: Jährlich 400.000 bundesweit bis 2020, davon mindestens 80.000 mit preisreduzierter Sozialbindung. Tatsächlich werden derzeit nur 270.000 fertig gestellt, davon lediglich 120.000 zur Vermietung.

Und Schulen, Kindergärten, Krippenplätze: Infrastruktur für geschätzt eine Million Menschen! Und nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für Einheimische und Zugezogene, die sich schon jetzt in den Ballungsräumen um den letzten bezahlbaren Wohnraum balgen. Ohne ein groß aufgelegtes Wohnungsbauprogramm des Bundes wird die Integration der vielen Neubürger nicht gelingen. Schäuble wird umdenken müssen. Provisorische Trostpflästerchen führen zu nichts außer der Perpetuierung der Not, zu Verteilungskämpfen unter finanziell schlechter Gestellten und zum Erstarken rechter "Abwehr"-Reflexe gegen Ghettoisierung in "Parallelgesellschaften". Die Erstaufnahme-Unterbringung in Sammelunterkünften kann nur ein schnellstens zu überwindendes Nothilfeprogramm darstellen.

Was derzeit europaweit für verschärftes Grenzregime verpulvert wird, fehlt auf Dauer zur Unterstützung der Arbeit des UNHCR in jordanischen und libanesischen Flüchtlingslagern. Dort können nicht einmal mehr die 13 Euro pro Kopf und Monat für die notwendige tägliche Essensversorgung aufgebracht werden. Kriegsflüchtlinge aus Syrien und Irak machen im Libanon ein Drittel der Bevölkerung aus, in Jordanien ein Viertel. In der Türkei warten fast zwei Millionen Menschen in Camps auf eine Chance, von dort wegzukommen. Anstatt Polizisten Autobahnen blockieren zu lassen, sollten diese besser legale Einreise-Möglichkeiten organisieren und betreuen.
 

 

So naheliegend der Gedanke an eine Weiternutzung von Bierzelten auch erscheinen mag, sind diese doch nicht beheizbar und für Schneelasten konstruktiv nicht ausgelegt. Zudem könnten sie nicht einmal kurzfristig als Notunterkünfte dienen, ohne zumindest die Bodenplatten komplett auszutauschen, so versifft, fetttriefend und vollgekotzt sie nach zwei Wochen Wiesn aussehen werden mit verschmierten Sauerkraut- und in die Fugen getretenen Hendl-Resten, unzumutbar selbst nach Hochdruckstrahl-Säuberung und mehrmaligem Durchwischen. Dennoch behält sich die bayerische Staatsregierung selbst diese unappetitliche Variante vor. Auf Bundesebene nölt der geschasste Hans-Peter Friedrich (CSU), und sein Nachfolger Thomas de Maizière (CDU) faselt bei jeder sich bietenden Gelegenheit von "kriminellen Clan-Strukturen", mit denen er offensichtlich das gewerbsmäßige Bandenwesen der Deutschen Banker nicht meint, und auch nicht den raffiniert ausgetüftelten Diesel-Abgasbetrug aus der VW-Hauptentwicklungsabteilung unter Herrn Winterkorn.

Sein jüngster Coup: Der Versuch einer Asylrechts-Auslagerung in die Sphären der Europäischen Union samt Kontingentierung. Ein grundgesetzwidriger Akt, denn das Recht auf Asyl ist ein individuelles in Deutschland; unverhandelbar und einklagbar, ohne jegliche zahlenmäßige Begrenzung. Zu dieser juristischen Trickserei passt auch eine pikante Personalie: Frank-Jürgen Weise geht fortan seiner Bundesagentur für Arbeit (BA) und ihren geknechteten 1-Euro-Jobbern mit aufopfernd persönlichem Beispiel voran, indem er einen (eigentlich verbotenen) Zusatzjob im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) annimmt, und das sogar für deutlich weniger als einen kargen Euro pro Stunde, nämlich ganz umsonst, damit seine kostenlose Nebentätigkeit nicht schon rein formal illegal erscheint. Der Lohn für Doppelbelastung mit Ehrenamt: Beste Vernetzung zwischen Polizeibehörden, Zoll, Jobagentur und BAMF. Als "geldwerte Leistung" wird dieser immaterielle Zugewinn an Transfer-Transparenz seinem bisherigen Salär allerdings nicht angerechnet, hofft er.

Nach der Bankenrettung muss es nun endlich um Menschenrettung gehen, soll Jean-Claude Juncker nicht für immer recht behalten mit seinem Offenbarungseid: "Es fehlt an Europa, und es fehlt an Union", also eigentlich an allem, was die EU so ausmacht. Das blamable Selbstzeugnis des Kommissions-Vorsitzenden weist immerhin auf einen selbstkritischen Ansatz. Ob der allerdings dazu führen wird, das Bashar al-Assad-Bashing endlich aufzugeben, ist mehr als fraglich. Schon bringen sich Experten in Stellung, die "endlich ein Eingreifen Europas" in Syrien fordern. Als ob nicht gerade die Aussicht auf militärische und finanzielle Unterstützung die "Rebellen" zum Bürgerkrieg ermuntert hätte! Russland zu schwächen scheint ihnen allemal wichtiger als dem IS die Lebensadern abzuschneiden oder das Paktieren mit Poroschenko und seinen faschistischen Hilfstruppen aufzugeben. Sie wollen auf Biegen und Brechen den Sturz Assads und am liebsten Putins gleich mit. Und damit den Sturz von noch mehr Menschen ins bodenlose Elend.

Da können soviele Flüchtlinge kommen wie wollen: Ins weißblau gerautete Himmelsgewölbe der Oktoberfestung werden sie nicht gelangen. Schon weil sie nach strapaziöser Flucht ganz andere Sorgen haben. Müde, erschöpft und pleite wähnen sie sich erstmal dennoch im Paradies. Es wird nicht mehr geschossen, nur noch vereinzelt an den Schießbuden. Normalerweise platzen auch keine Bomben, sondern nur Luftballons. Geschlagen wird beim "Haut-den-Lukas", und geköpft wird nur alle halben Stunden beim Schichtl: Herrreinspaziert, Herr Herrmann! Hier kriegt ein Jeder sein Asyl! Keine Angst, die Hinrichtung vor Publikum ist ja bloß reine Schau.

Wolfgang Blaschka, München
 

 



Erstveröffentlicht am 24.09.2015 bei RATIONALGALERIE > Artikel.

Bild- und Grafikquellen:


1. Der Preis für 1 Maß Bier kostet beim 182. Oktoberfest 2015 nicht unter 10 Euro, also 20 Mark für ein mäßig gefülltes Glas. [sic!] 2014 waren es 6,3 Millionen Besucher und auch 2015 rechnet man wieder mit Millionen trink-, fress - und feierlauniger Besucher. Foto: Thomas Sauzedde. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0)

2. Trinkwasser - ein kostbares Gut, daß in manchen Flüchtlingscamps nicht ausreichend zur Verfügung steht. Foto: Photo ID 307845. 02/02/2002. Herat, Afghanistan. UN Photo / Eskinder Debebe. www.unmultimedia.org/photo/. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

3. Wolfgang Schäuble (* 18. September 1942 in Freiburg im Breisgau) ist ein deutscher Politiker der CDU, seit 1972 Mitglied des Bundestages und derzeit Bundesminister der Finanzen im Kabinett Merkel III. Er war von 1984 bis 1989 Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, sowie von 1989 bis 1991 und von 2005 bis 2009 Bundesminister des Innern. Von 1991 bis 2000 war Schäuble Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und von 1998 bis 2000 Bundesvorsitzender der CDU. 1990 wurde er Opfer eines Attentates und ist seither auf den Rollstuhl angewiesen. Mit über 43 Jahren Parlamentszugehörigkeit ist Wolfgang Schäuble der dienstälteste Abgeordnete in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Foto: © Etienne Ansotte  / International Monetary Fund (IMF). Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

4. A close-up view of the Za'atri camp in Jordan for Syrian refugees as seen on July 18, 2013, from a helicopter carrying U.S. Secretary of State John Kerry and Jordanian Foreign Minister Nasser Judeh. Foto: U.S. Department of State. Quelle: Wikimedia Commons, außerdem bei Flickr. Dieses Werk ist in den Vereinigten Staaten gemeinfrei, da es von Mitarbeitern der US-amerikanischen Bundesregierung oder einem seiner Organe in Ausübung seiner dienstlichen Pflichten erstellt wurde und deshalb nach Titel 17, Kapitel 1, Sektion 105 des US Code ein Werk der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika ist.

5. Frank-Jürgen Weise, 2010. (* 8. Oktober 1951 in Radebeul) ist seit Februar 2004 Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit, seit April 2014 Vorstandschef der Hertie-Stiftung und seit September 2015 Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Urheber: Bundeswehr / Andrea Bienert. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 2.0 generisch“ (US-amerikanisch) lizenziert.

6. Kleinkinder haben es besonders schwer, die strapaziösen kräftezehrenden Monate der Flucht irgendwie hinter sich zu bringen. Sie gehen solange die Beine sie tragen, nicht alle werden es schaffen. Foto: Bőr Benedek photo. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0).

7. NO WESTERN INTERVENTION - HANDS OFF SYRIA. Der Urheber dieser Grafik ist nicht eindeutig ermittelbar, sie findet sich auf vielen Seiten.

8. Texttafel: GEBT ASYL. STOPPT WAFFEN-EXPORTE! Grafik: Wolfgang Blaschka (WOB), München.