Pfade durch Utopia ..Ein Buch/Film (ISABELLE FREMEAUX, JOHN JORDAN)

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Pfade durch Utopia ..Ein Buch/Film (ISABELLE FREMEAUX, JOHN JORDAN)
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Pfade durch Utopia   .. Ein Buch/Film

Autoren: Isabelle Fremeaux / John Jordan

aus dem Französischen übersetzt von Sophia Deeg

Verlag: Edition Nautilus Verlag, Hamburg (dt. Erstausgabe 8 / 2012) – zur Bestellung auf der Verlagsseite.

ISBN  978-3-89401-763-7

Zweifarbig illustriert mit Fotos und Zeichnungen, Klappenbroschur im Querformat, mit DVD (109 Minuten Film, Format 16:9, französische, englische und deutsche Untertitel), 320 Seiten, € (D) 25,– / € (A) 25,70

Dieses Buch plus Film ist sowohl spannender Reisebericht als auch Dokumentation utopischer Praxis, eine Entdeckungsreise auf der Suche nach postkapitalistischen Lebensformen. Vom illegalen Klima-Camp beim Londoner Flughafen Heathrow bis zum von Punks besetzten Weiler in den Cevennen, von der von ihren Schülern selbst verwalteten anarchistischen Schule bis zur englischen Agrarkommune, von besetzten Fabriken in Serbien über die Freie-Liebe-Kommune in einer alten ostdeutschen Stasi-Basis bis zum Bauernhof, auf dem Privateigentum gänzlich abgeschafft ist – die Autoren haben in den in den Breschen und Lücken der Gegenwart sehr lebendige Utopien gefunden.

Aus dieser reichen Erfahrung ist Pfade durch Utopia entstanden, ein verführerischer Bericht, der vom Leben dieser Gemeinschaften erzählt, von ihrem Alltag und ihrer Geschichte. Der dem Buch beiliegende Film, der während der Reise gedreht wurde, ist ein poetisches Roadmovie aus der Zukunft.

Pressestimmen:

»Die Autoren beschreiben Mikromodelle einer radikal demokratischen und ökologischen Geselschaft. Vor dieser Schablone der Andersartigkeit zeigt sich erst, wie gestört mancher Auswuchs des Kapitalismus ist. Freudlose Arbeit als Mittelpunkt des Lebens, Schuften für die Rendite der oberen Zehntausend, Banken, die von Steuergeldern gerettet werden, Liste beliebig fortführbar.«
Martin Schwarzbeck, zitty Magazin

»Zum Buch gibt es einen 110-minütigen Film, der die magische Atmosphäre der Orte zeigt, an denen der Traum von Utopia bereits wahr geworden ist. Das Buch macht daneben eines klar: Kreativität ist nötig, um sich Räume anzueignen und dort Utopien zu verwirklichen. Doch genauso wichtig ist es, Netzwerke zu schaffen und aktiv Widerstand zu leisten, um das kapitalistische System zu verändern.«
Ana Maria Michel, Missy Magazine

»›Pfade durch Utopia‹ ist ein besinnlicher Film, der das Potential menschlichen Widerstands in seiner Gebrochenheit und Widersprüchlichkeit erschließt und gerade deshalb nicht in die resignative Kapitulation vor den herrschenden Verhältnissen mündet. Die Reichweite der dort vorgestellten Projekte und Initiativen zu erschließen, bedarf allerdings der Lektüre des Buches gleichen Namens, in die sich einzustimmen die in Bild und Ton konsisten ineinandergreifende Produktion zu empfehlen ist.«
Schattenblick

»Wie auch in ›Wir sind überall‹ macht sich ›Pfade durch Utopia‹ dadurch verdient, dass es über die Bestandsaufnahme alternativer Lebenspraxen hinaus die Sehnsucht nach dem Ausbrechen weckt und gleichzeitig verführerisch gute Anregungen gibt, es richtig anzustellen. Die Bilder aus den Gemeinschaften, von Mensch, Tier und Natur, von Widerstand und Aktion machen diese Sehnsucht erst recht fühlbar. Utopia zerfällt, wenn mensch es erreicht? Dieses Buch behauptet das Gegenteil. Utopia ist nämlich nicht morgen, sondern jetzt.«
Aviva Berlin

»Ein leidenschaftliches anarchistisches Roadmovie.«
Le Monde

Zu den Autoren:

Isabelle Fremeaux ist Dozentin für Media & Cultural Studies am Birkbeck College der Universität London. Schwerpunkt sind kreative Formen des Widerstands, sie ist aktiv in der Bewegung für Klimagerechtigkeit. Mit ihrem Ehemann John Jordan hat sie das Kunstkollektiv »Laboratory of Insurrectionary Imagination« gegründet. Derzeit bauen sie auf einem Hof in der Bretagne die postkapitalistische Kommune La r.O.n.c.e. auf. (Resist. Organise. Nourish. Create. Exist oder, frei übersetzt: »Widerstand. Organisieren. Nähren. Erschaffen. Existieren«).    

 

Copyright: © Jack Jordan

Der Künstler und Aktivist John Jordan wurde in Paris geboren, lebte lange in London und wohnt seit Januar in der Bretagne. Der 47-Jährige ist Mitgründer der "Reclaim the Streets"-Bewegung, die sich durch spielerische Aktionen den öffentlichen Raum aneignet - etwa mit organisierten Massen-Radtouren. Er war einer der Kameramänner bei Naomi Kleins Film The Take und einer der Redakteure von Wir sind überall (Notes from Nowhere (Hg.)), erschienen im Nautilus Verlag.

Leseprobe:  Vorbemerkung für Leser und Zuschauer

Die Zukunft ist auch nicht mehr, was sie mal war. Unsere utopische Vorstellungskraft ist in der erstickenden Atmosphäre apokalyptischer Vorhersagen verkümmert: Klimakatastrophe, Energieverknappung, Aussterben ganzer Arten, wirtschaftlicher Niedergang, Kriege um Ressourcen. Sich eine untergehende Welt vorzustellen, scheint viel einfacher, als sich eine bessere Welt auszumalen. Aber gerade dann, wenn die Utopie unvorstellbar wird, ist sie am unerlässlichsten. Die Utopie, die weder ein Terrain im Nirgendwo ist, wohin man entflieht, noch ein universelles System und auch nicht die perfekte Zukunft, sondern vielmehr eine Angelegenheit, die uns unter die Haut geht, uns daran erinnert, dass wir uns mit den Brosamen der Gegenwart nicht zufrieden zu geben brauchen. Es gibt immer die Möglichkeit, woanders hinzugehen. Immer. In Wahrheit gibt es so viele Richtungen, wie es Visionen gibt.

Viele von uns fürchten, dass es nicht möglich ist, auf eine radikal andere Art zu leben. Aber liegt das nicht daran, dass die Utopien unsichtbar geworden sind, verdeckt von den Schatten, die der Kapitalismus auf alles wirft, was nicht nach seinem Bilde geschaffen ist? Wir haben diese Furcht in den Wind geschlagen und uns sieben Monate lang auf gewundenen Entdeckerpfaden bewegt. Es sind Wege, die Menschen allenthalben eingeschlagen haben, die aus ihren Träumen von einer anderen Welt ein Feld für konkrete Experimente in der Gegenwart machen. Wir wollten mit eigenen Augen die Vielfalt sehen, mit der man heute in Europa trotz des Kapitalismus auf ganz unterschiedliche Weise Mensch sein kann. Wir haben elf Projekte und Gemeinschaften besucht, und wir haben ihre jeweils andere Art zu lieben und zu essen, zu produzieren und zu teilen, auf der Welt zu sein und gemeinsame Entscheidungen zu treffen, zu unterrichten und zu rebellieren, eben zu leben kennengelernt.

Was ihr in Händen habt, ist nicht ein Buch plus DVD oder eine DVD mit Begleitbuch. Es ist ein Dialog zweier miteinander verschränkter Medien, eine Verbindung des Realen mit dem Imaginären, des Greifbaren mit dem Potenziellen. Während das Buch von einer Reise erzählt, gewissermaßen die Gegenwart dokumentiert, steht der Film in der Tradition der utopischen Literatur und führt die phantastische Vision einer anderen Welt vor Augen. Natürlich ist es an euch, mit dem einen oder dem anderen zu beginnen. Schließlich besteht die Utopie vielleicht gerade in dem Recht, seine eigenen Utopien zu wählen.

Leseprobe: Klima-Camp

Die Karte ist unter einer Zeitung versteckt. Wir sind zu viert, liegen auf dem Rasen in einem Londoner Park. Die Wochenendspaziergänger flanieren zwischen den Bäumen und genießen die letzten Sonnenstrahlen des Spätsommers. Wir sprechen leise und lassen die Umgebung nicht aus den Augen. Vorne auf dem Guardian ist ein Foto unserer Freundin Christina. Sie wirkt ganz gelassen und einfach hinreißend mit ihrem T-Shirt, auf das Flower Child gestickt ist. Dieser Anblick steht in augenfälligem Kontrast zur beunruhigenden Überschrift in fetten Lettern: »Polizei bereitet Anti-Terror-Maßnahmen gegen die am Klima-Camp Beteiligten vor.«

Heute Abend entsteht in der Nähe des internationalen Flughafens Heathrow, der das dritthöchste Flugaufkommen weltweit aufzuweisen hat, aus dem Nichts und ohne dass irgendwer um Erlaubnis fragt, ein temporäres ökologisches Camp. Es wird rund zehn Tage lang ohne hierarchische Strukturen als vollkommen selbstverwaltetes Ökodorf funktionieren, mehrere Tausend Menschen empfangen und sowohl ein Ort des Lernens als auch der Ausgangspunkt für Aktionen des zivilen Widerstands sein. Jedenfalls wenn in den kommenden Stunden alles so läuft wie geplant. In der vergangenen Woche ist Christina verhaftet worden, als sie mit dem Rad um den Flughafen herumfuhr. Anschließend wurde sie dreißig Stunden lang in Isolationshaft festgehalten, weil sie »Material bei sich hatte, das zum Begehen terroristischer Straftaten dienen könnte«. Es bleibt allerdings ein Rätsel, wie eine Fahrradkarte und eine handgeschriebene Rezeptsammlung für Eiscremes bei einem Angriff auf einen Flughafen zum Einsatz kommen könnten. Was hingegen sonnenklar ist: Der Flughafeneigner – die British Airport Authority (BAA) – hat sich an die Behörden gewandt, und die überschlagen sich bereits: Jeder, der irgendwie mit der Organisation des Camps verbunden ist, kommt auf die Fahndungsliste. Der Rahmen dieser Fahndung ist so breit ausgelegt, dass jeder, der die U-Bahn zum Flughafen Heathrow nimmt, möglicherweise einbezogen ist.1 Trotz unserer minutiösen Planung könnte unser Versuch, das Gelände heute Abend zu besetzen, im Keim erstickt werden.

»Nur drei Personen wissen, wo das Camp aufgeschlagen werden soll«, erklärt der Guardian seinen Lesern. Wir feixen. Auf der Karte, die wir anschauen, sobald sich die Spaziergänger mit ihren Hunden entfernt haben, prangt ein großes X. Obwohl das Angriffsziel, das heißt das Projekt einer weiteren Landebahn für Heathrow, bereits im Juni öffentlich angekündigt wurde, und obwohl sich unsere gesamte Organisation auf öffentlichen Versammlungen entwickelt hat, kennt nur eine geheime Gruppe das Feld, das wir tatsächlich besetzen werden: die »Platz-Gruppe«. Auf den Versammlungen des Klima-Camps, die auf nationaler Ebene stattfanden, bekam diese Gruppe den Auftrag, einen passenden Ort zu suchen. Zwei, die dazugehören, sitzen hier gerade mit Isa und mir zusammen. Beide haben sie zu große Sonnenbrillen und Baseballcaps auf, die ihnen nicht gut stehen. Sie weisen uns ein, damit wir eine größere Gruppe darauf vorbereiten können, mit uns zusammen das Gelände zu besetzen. Im Verlauf der kommenden zwölf Stunden wird das Geheimnis nach und nach weiter gelüftet werden, sodass sich schließlich hundertfünfzig Aktivisten von rund zehn unterschiedlichen Ausgangspunkten aus perfekt koordiniert dem Gelände nähern und dort ankommen werden, um Zelte und Küchen aufzubauen und einzurichten, ehe die Polizei kapiert, was los ist. Der Plan ist reichlich gewagt, aber selten sind es die Ängstlichen, die Geschichte machen.

Isa und ich haben die nächsten fünfzig informiert. Jede Bezugsgruppe2 ist jetzt mit einem neuen (insofern von der Polizei nicht zugeordneten) Mobiltelefon und mit einer Karte ausgestattet. Der Adrenalinspiegel steigt. Ich habe das Gefühl, dass mein Körper auseinanderfliegt. Ich bestehe nur noch aus hypersensiblem nackten Fleisch, mein Magen ist ein einziger Knoten. Unsere Augen schweifen in alle Richtungen, überall auf Gefahren gefasst. Wir sind in der U-Bahn. In den Tunneln, die sich durch den Siedlungsgürtel um die Stadt fressen, ist der Lärm ohrenbetäubend, ein scharfes metallisches Kreischen. Unsere Gruppe hat sich für den ersten Abschnitt des Weges paarweise aufgeteilt. Wir tun unser Möglichstes, um sicherzugehen, dass uns die politische Polizei nicht gefolgt ist – wir steigen erst im letzten Moment in den Zug ein, genau dann, wenn sich die Türen wieder schließen; wir bewegen uns zum falschen Bahnsteig und kehren dann um. Aber immer noch kommt es uns so vor, als würden uns alle im Waggon beobachten. Mehrmals schaue ich an meiner Hose runter – ist der Hosenschlitz etwa offen? Prangt auf meinem Hemd ein riesiger Fleck? Sind wir wirklich so sichtbar, oder spielen meine Gefühle verrückt? Der Typ im weißen T-Shirt, der uns mustert, da bin ich mir ganz sicher, liest den Guardian. »Bitte lesen Sie nicht die erste Seite«, flehe ich ihn im Stillen an.

Ich werfe einen Blick auf das Handy – 20 Uhr: perfekt, alles läuft genau wie geplant. Wir sitzen in einer Pizzeria, ein banaler Ort, ganz nach Wunsch, am nördlichen Ende des Flughafens gelegen. Dies ist der Ausgangspunkt unserer Aktion. Hinter uns heben die Flieger in den nächtlichen Himmel ab, und vor uns liegt mit Sicherheit ein Abenteuer. Nie hätte ich gedacht, dass unsere siebenmonatige Reise in Sachen Utopie in einer solchen undefinierbaren Landschaft zwischen der Hölle eines Flughafens und dem Schatten der Vorstädte beginnen würde.

Hotelketten sind wie Plastikboxen neben einer Scheune aufgereiht, die aus dem Mittelalter stammt3, in unmittelbarer Nachbarschaft von wunderschönen Nussbäumen, die sich vor einem Himmel abzeichnen, durch den sich Hunderte Kondensstreifen ziehen. Das Dorf erlebt langsam eine Entwicklung zum Nicht-Ort, zu einem neuen Nirgendwo. Das Trugbild unbegrenzten Wachstums hat das Dorf verarmen lassen, das einst eine reiche Vielfalt aufwies, hat es zu einem tristen und monotonen Ort gemacht. Seit dreißig Jahren breitet sich der Flughafen wie ein bösartiger Tumor aus. Falls 2020 dem Antrag der britischen Flughafenverwaltung stattgegeben wird, bedeutet dies für das alte Dorf Sipson: Es verschwindet von der Landkarte, und somit werden auch ringsum etwa tausend Wohnhäuser, einige Kneipen, Schulen und Kirchen verschwinden, um einer neuen Landebahn Platz zu machen.

Über den Ruinen des Dorfes werden sich die gewaltigen Rümpfe von Flugzeugen emporschwingen, die die Menschen in die Arme jener flüchtigen modernen Utopie des modernen Tourismus werfen. Sie werden den wenigen Privilegierten unter ihnen, die sich den Luxus leisten können, kostspielige Eskapaden ermöglichen, um den eingefriedeten Zonen von Arbeit und Überwachung zu entfliehen, vorübergehend die Nicht-Orte zu verlassen, wo heute alles, was einst wild war, kolonialisiert ist. Die Auswirkungen dieser Eskapaden kommen aber zu uns zurück wie ein Bumerang: Der ekelhafte Kerosin-Gestank schwebt über dem süßen Duft der Sommergräser.

Wäre er ein Land, würde dieser Flughafen den 71. Rang unter den Kohlendioxidemittenten einnehmen, somit auf der gleichen Stufe wie Aserbaidschan stehen und gleich hinter Neuseeland. Allein für die dritte Piste gilt, dass bei ihrem Bau  – es handelt sich lediglich um eine einfache Bitumen-Bahn – so viel CO2 freigesetzt wird, wie Kenia in einem ganzen Jahr emittiert. Rund 655 000 Flugzeuge werden den Himmel füllen, und 28 Millionen Autos werden die Straßen überfluten – ein weiteres widersinniges Projekt im Namen des wirtschaftlichen Fortschritts, das seinerseits zur weiteren Aufheizung des Klimas beitragen und uns dem Moment näher bringen wird, in dem das Ganze in Richtung Klimachaos kippt.

Hält man sich die Bedrohung durch einen runaway climate change4 vor Augen und macht sich klar, in welchem Ausmaß unsere Ökosysteme bereits durch die Konsumgesellschaft zerrüttet sind, kann man die Welt nicht mehr so betrachten wie bisher. »Unter diesen Umständen verliert die Geschichte fast jede Bedeutung und so auch die meisten Pläne, die unsere Eltern für uns gemacht haben«, schreibt Albert Bates. »Wir werden den Planeten Mars nicht kolonialisieren. In den kommenden Jahrhunderten können wir von Erfolg sprechen, falls sich dann noch menschliche Kolonien auf der Erde gehalten haben.«5

Ich betrachte meinen Teller lauwarmer Spaghetti, aber mein Magen will nicht recht: Sind das da etwa meine eigenen Innereien in der Tomatensauce? Ich sterbe vor Hunger, schaffe es aber nicht, irgendwas zu mir zu nehmen. Die Angst raubt mir den Appetit. Ein Tisch ist auf den Namen Abbie Hoffman6 reserviert worden, und unsere Gruppe von etwa zehn Personen tut so, als würde sie einen Geburtstag feiern. Wir sitzen gleich beim Eingang, vor einem großen Fenster. Auf der Straße patrouillieren Kleinbusse der Polizei. … Mist … Schnell, wir müssen einen Vorwand finden, warum wir lieber Tische weiter hinten hätten … Nein, das würde nur noch verdächtiger wir ken. Wir müssen uns einfach setzen, uns entspannen, und diejenigen unter uns, die bei der Polizei bereits fotografisch erfasst sind, setzen sich mit dem Rücken zum Fenster. Und nicht vergessen – wir feiern Geburtstag!

Mit unseren Jacketts und eleganten Kleidern sind wir heute Abend besonders überzeugend. Vollkommen wird die Illusion durch einen großen Lilienstrauß in der Mitte des langen Tisches, ein Geschenk an die, deren »Geburtstag« wir heute »feiern«. Manche hier haben ein ganzes Jahr lang auf das hingearbeitet, was jetzt kommt.

Niemand von denen, die hier im Restaurant sitzen, niemand unter den Hunderten Aktivisten, die sich im Gebüsch und zwischen Lieferwagen, in Pubs und Bahnhöfen der Umgebung verbergen, weiß, wie alles ablaufen wird, aber alle haben wir ein gemeinsames Ziel: zu mehreren Hundert auf dem Gelände anzukommen und gewisse Dinge aufzubauen, bevor ein massives Polizeiaufgebot eintreffen wird.

Wir bestellen und versuchen, von allem und nichts zu reden, jedenfalls nicht vom Klima Camp, auch nicht über Politik, Widerstand, die Umweltkrise oder was auch immer die anderen Gäste aufmerken lassen könnte. Viele haben ein Namensschild umhängen, um anzudeuten, dass sie auf dem Flug hafen arbeiten. Mary, die mir gegenübersitzt, sagt, ein Auto sei vor dem Restaurant stehen geblieben: »Da sitzen zwei bullige Typen drin, die so aussehen, als würden sie auf irgendwas warten; sie trinken Kaffee aus einer Thermoskanne«, sagt sie leise zu mir. »Ich bin mir sicher, das sind Zivilbullen. Einer der beiden hat eben sein Fenster runtergelassen, um mit einem in der Bullenwanne zu reden, die an ihnen vorbeigefahren ist.«

Wir sitzen hier fest, bis wir den Anruf kriegen, der uns für die Operation mit dem Code-Namen »Brüllender Affe« grünes Licht gibt. Dann werden wir das Restaurant verlassen und dreißig Meter weit die Straße hochlaufen, über einen Zaun steigen und in nördlicher Richtung ein Feld überqueren, bis wir auf dem Gelände ankommen, das weniger als 500 Meter vom Flughafen und vom Sitz der BAA entfernt ist. So jedenfalls ist es geplant.

Wie wir es schaffen, an den Zivilbullen vorbeizukommen und über den Zaun zu springen, ohne dass es ihnen auffällt, ist eine andere Frage.

Die, deren Magen noch nicht rebelliert, essen ihre Mahlzeit. Wir bestellen Kaffee. Danach ist Warten angesagt. Und nun vergeht die Zeit sehr schleppend. Immer noch kein Anruf. Allmählich leert sich das Lokal. Mindestens vier Mal gehe ich aufs Klo, um mögliche SMS auf meinem Handy zu lesen und um mich von meinem Stress zu erleichtern. Kein Anruf. Die Tische werden abgeräumt, und der Raum füllt sich mit dem Geruch von Putzmitteln, während die Angestellten die Küche abschließend reinigen.

Draußen sind immer noch die Polizisten, und wir sind die letzten Gäste. Meine feuchte Hand umklammert das Telefon. Ich wünsche mir so sehr, dass es klingelt. Wenn wir hier rausgehen, haben wir kein Pub, kein Café, überhaupt keinen Ort, wo wir uns verstecken und weiter warten könnten. Die Kellnerin bittet uns zu zahlen. Wir nehmen uns so viel Zeit wie möglich dabei, die Rechnung unter uns aufzuteilen. Die Lampen werden allmählich ausgeschaltet. Warum bloß klingelt dieses verdammte Telefon nicht? Sind etwa alle schon verhaftet worden? Die Polizeibusse fahren weiterhin auf der Straße vorbei, ohne Sirene, einfach so. Wenigstens das muss ja wohl bedeuten, dass sie nichts von den Hunderten wissen, die sich jetzt bereits auf das Gelände zubewegen.

Das Telefon läutet. Endlich! Eine Stimme murmelt: »Los geht’s!« Ein Wunder – die Zivilpolizisten haben ihren Wagen wegbewegt. Wir stehen auf und versuchen, das Lokal ohne besondere Eile zu verlassen. Nach rechts. Nicht stehen bleiben. Nicht umdrehen. Gehen, nicht rennen. Das Ende der Straße, das ist nicht weit. Keine Polizeifahrzeuge. Puh! Immer nach vorne schauen. Da ist der Zaun. Drüberspringen. Im Gänsemarsch übers Feld. Da wachsen Lupinen, die uns bis zu den Schultern reichen und uns das Gesicht streicheln. Das ist, als würden wir durch einen Zwergenwald gehen. Wir versuchen, so wenig Lärm wie möglich zu machen, aber das knackende Geräusch der trockenen Zweige unter unseren Füßen breitet sich in der Dunkelheit aus. Weiter, nach Norden. Wir sehen nicht, was vor uns ist. Wir bleiben stehen und versichern uns erneut mit Hilfe der Karte, wo der Platz ist. Wir dürften fast angekommen sein. Ich rechne jeden Augenblick damit, Blaulicht am Horizont aufblitzen zu sehen oder einen Spot, der von einem Hubschrauber der Polizei aus den Boden absucht. Nichts. Allseits herrscht totale Stille, beunruhigend. Ich fange an, es ein bisschen zu einfach zu finden.

Das Feld scheint kein Ende zu nehmen. Wir übersteigen einen weiteren Zaun. Befinden uns auf einem Pfad. Ich versuche, in der Dunkelheit die Karte zu lesen und gleichzeitig zu filmen. Dem Plan zufolge müssten wir ganz nah dran sein. Wir sehen uns um. Plötzlich zeichnen sich in der Dunkelheit Umrisse ab. Graue Silhouetten tauchen vor uns auf, es sind vielleicht zehn, wie Phantome. Ein paar helle Kleinbusse oder Lieferwagen nähern sich. Das müssen die Bullen sein. Sie haben allerdings kein Blaulicht. Sind wir angekommen?

»Schau mal, Dreibeine«, sagt Duncan, und ein strahlendes Lächeln breitet sich über sein Gesicht aus, »das sind wir!« Eindeutig, zwei Konstruktionen erheben sich in den Himmel, auf deren Spitzen akrobatische Gestalten herumturnen. Die Dreibeine, die ursprünglich erfunden wurden, um es Aktivisten zu ermöglichen, sich vor der Polizei in Sicherheit zu bringen, während ein Gelände oder eine Straße besetzt wird, sind zum Markenzeichen der Gruppen in Großbritannien geworden, die direkte Aktionen durchführen. Isa dreht sich zu mir um, strahlt mich mit großen Augen an. Ich frage sie: »Und, wie fühlst du dich?«

»Wow … schwer zu beschreiben«, antwortet sie.

Wir sprinten los und finden Anschluss an den Rest der Gruppe, wo wir uns sicher fühlen, wo wir all die vertrauten Gesichter vorfinden, die Blicke voll überschwänglicher Freude. Wir besetzten das Gelände – und weit und breit kein Bulle! Ich sehe zum Himmel, da ist eine Sternschnuppe. WIR HABEN ES GESCHAFFT!

Ein paar Sekunden später erscheint ein riesiger LKW, von dessen Ladefläche Veranstaltungszelte abgeladen werden. Alle packen an, Autoscheinwerfer und Lampen werfen ihr Licht über das Gelände. Wir schleppen Bretter und Pfosten. Aus der Dunkelheit tauchen von allen Ecken und Enden des Camps immer mehr Leute auf. Jeder scheint zu wissen, was zu tun ist, es geht keine Zeit verloren. Die Gruppe wird immer größer. Wir erwarten ständig die Ankunft der Polizei, aber es zeigt sich kein einziger Polizist. Ein provisorischer Zaun wird errichtet, an dem kleine Schilder mit der Aufschrift »Paragraf 6« angebracht sind. Sie besagen, dass es sich um ein besetztes Gelände gemäß Paragraf 6 des Strafrechts von 1977 handelt (in Großbritannien legal.7) Oliver, Archäologe von Beruf, legt die Platzaufteilung in Form eines Hufeisens mit Markierungsband fest, sodass morgen, wenn nochmals Hunderte von Menschen eintreffen, jeder weiß, wo er sein Zelt aufstellen, die Trocken-Toiletten installieren, die Werkstätten und Tagungsräume oder die Küchen einrichten kann. Die Mediengruppe sitzt im Kreis und fängt in der Dunkelheit an, eine Presseerklärung zu schreiben und zu telefonieren, um unseren Erfolg bekannt zu geben. Wie von Zauberhand sind drei Zirkuszelte ähnlich Segeln von Geisterschiffen in den Nachthimmel gewachsen, wo der Wind mit ihnen spielt.

Eine halbe Stunde später kommen etwa zehn Polizeifahrzeuge auf der Straße, die am Feld entlangführt, bei uns an. Ein höherrangiger Vertreter der Polizei taucht auf, umgeben von Mitgliedern des Forward Intelligence Teams8, die die Blitzlichter ihrer Fotoapparate gewittern lassen, mit Videokameras filmen und uns mit ihren Taschenlampen blenden. Der leitende Polizeibeamte nähert sich auf dem Pfad, der zum Camp führt. Bei seiner Ansprache ist er sichtlich bemüht, Autorität auszustrahlen: »Ich bitte Sie im Namen des Eigentümers höflich, das Gelände zu verlassen.« Die meisten hier sind zu sehr mit dem Aufbau beschäftigt, als dass sie seine Gegenwart überhaupt mitbekommen würden, aber die, die auf ihn zugegangen sind, um ihn zu begrüßen, lachen einfach. »Daraus schließe ich, dass Sie sich weigern«, stellt er daraufhin fest und geht zurück zu den Fahrzeugen. Glaubt er etwa wirklich, dass wir nach monatelangen Vorbereitungen sagen werden: »Natürlich, Sie haben recht … tut uns leid. Wir werden sofort verschwinden «?

Es ist eine direkte Aktion. Wir haben nicht um Erlaubnis gebeten, sondern die Dinge selbst in die Hand genommen. Eine direkte Aktion – das heißt, man weigert sich, bei den Behörden für Aktivitäten die Erlaubnis einzuholen; es ist das Gegenteil eines Vorgehens, bei dem man Druck ausübt, indem man seinem Abgeordneten einen Brief schreibt oder sagt: »Ich meine, Sie sollten das und das tun.« Die direkte Aktion bedeutet zu handeln, nachdem man ein Problem ausgemacht hat, um es zu lösen, und das mit so wenig Vermittlung wie möglich. Wenn man hungernde Menschen auf der Straße sieht, tätigt man keine Überweisung an eine NGO, die sich um Obdachlose kümmert, sondern man organisiert eine Volxküche. Wenn ein Krieg erklärt wird, geht man nicht auf die Straße und fordert von der Regierung, dass sie mit dem Kriegführen aufhört, sondern man macht Kampfjets kampfunfähig9 oder man blockiert die Nachschubwege. Auf diese Weise verhalten wir uns jetzt schon so, als wären wir frei, als gäbe es den Staat nicht mehr.10

Wir haben den Eigentümer des Landes, Imperial College, nicht um Erlaubnis gebeten, sein Land zu besetzen. Wir haben allerdings viele Monate damit verbracht, mit den Anwohnern der Gegend, deren Häuser durch den geplanten Ausbau des Flughafens bedroht sind, zusammenzuarbeiten. Viele von ihnen haben jahrelang gegen den stetig zunehmenden Flugverkehr gekämpft, der dafür verantwortlich ist, dass die Luft hier so verunreinigt ist wie nur an wenigen anderen Orten Europas. Nach vielen Versammlungen ist inzwischen selbst der hiesige Parlamentsabgeordnete bereit, die direkte Aktion zu unterstützen, und hat das Klima-Camp offiziell in seinen Wahlkreis eingeladen. Ich habe noch nie erlebt, dass eine anarchistisch inspirierte Gruppe irgendwo so willkommen war wie in diesem Fall.

Obwohl wir nicht alle das Wort »anarchistisch« verwenden, wenn wir unsere Politik bezeichnen, ist doch nicht zu übersehen, dass die Klima-Camp-Bewegung stark beeinflusst ist vom DIY(Do It Yourself)-Konzept: Das Camp ist eine Vorwegnahme einer Welt, die wir selber schaffen, und in der wir nicht mehr Experten oder Autoritäten oder Behörden auffordern, die Dinge »für« uns zu tun. Da wir die praktische Umsetzung abstrakten politischen Ideologien vorziehen, legen wir einfach los und »machen es selber«. Wir stellen gelegentlich Forderungen auf und setzen beispielsweise die British Airport Authority und die britische Regierung mit der Forderung unter Druck, ihre Pläne für eine dritte Landebahn fallen zu lassen. Doch hält die Bewegung diese Zwecke nicht für wichtiger als die Mittel. Die Schaffung einer Kultur der  Eigenständigkeit ohne Hierarchien, sich eine Welt ohne Flughäfen und Regie rungen vorzustellen und im Hier und Jetzt so zu leben, als wäre diese Welt schon der Fall – das ist ganz genauso wichtig.

Es ist eine Art pragmatischer Utopismus im Gewand eines »radikalen Lobbyismus«, und irgendwie scheint diese ungewöhnliche Mischung zu funktionieren; in weniger als vier Jahren hat sich die Beteiligung an der Bewegung verdreifacht.

Wir sind erschöpft, Mitternacht war vor einer Ewigkeit. Die Polizei hat rund um das Camp Kontrollpunkte eingerichtet. Sie lässt keines unserer Fahrzeuge in die Einfahrt, was bedeutet, dass unsere Rucksäcke und Zelte irgendwo draußen feststecken. Aber das macht erst mal nichts, jedenfalls nicht heute Nacht. In einem der Festzelte ist mit Hilfe einer der langen Stoffbahnen, die als Zeltwand dienen, ein riesengroßes kollektives Bett improvisiert worden. Darin haben zwanzig müde Aktivistinnen und Aktivisten Platz, die ein Abenteuer in ihren Schlaf mitnehmen und vielleicht schon vom nächsten träumen.

Da sind wir also, genau an der Stelle, wo die Landebahn angelegt werden soll. Das Camp läuft auf Hochtouren. Hunderte Zelte in allen möglichen Farbschattierungen flattern in der Brise, darunter nagelneue Domzelte direkt aus dem Camping-Fachgeschäft neben verschlissenen alten Armeezelten, die an ausgefransten Schnüren festgezurrt sind. Plastik-Festzelte in makellosem Weiß, unter deren Dach man sich eher eine Hochzeitsfeier in einem Vorort vorstellen würde, stehen gleich neben gemütlichen mongolischen Jurten, während sich die hinfälligen Skelette von Pavillons aus dem Gartencenter im Wind schütteln und biegen. Im Mittelpunkt des Camps steht ein majestätisches Zirkuszelt, dessen Bahnen sich mit jedem Windstoß, der über das vollkommen flache Feld fegt, wie die Haut eines kolossalen weißen Wals sanft atmend heben und senken. Über sein Dach ist ein riesiges Transparent gespannt, das groß genug ist, um von den Flugzeugen aus gelesen zu werden; darauf steht: Dieser Planet hat keine Notausgänge.

Reihenweise Solarpaneele saugen das wenige Licht ein, das durch die graue Wolkendecke bricht. Überall sitzen Leute im Kreis zusammen im Gras und diskutieren. Viele nehmen an Workshops teil, deren Zahl in die Hunderte geht. Das Angebot reicht von »Bauanleitung für supereffiziente Holz verbrennende Öfen« über »Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über runaway climate change« und »Verbindungen zwischen Klimachaos und Klassenfrage« bis zu »Wie man am besten mit den Chemiewaffen der Polizei fertig wird«. Andere Aktivistinnen und Aktivisten sind bei Treffen, organisieren das Camp oder planen direkte Aktionen, die von dort ausgehen sollen.

Bizarre Gebilde aus aufeinandergestapelten Badewannen, die mit Heu gefüllt sind, filtern das benutzte Wasser, ehe es dem Boden zurückgegeben wird. Ein senfgelber Caravan aus den Siebzigern ist zur Erste-Hilfe-Station umfunktioniert worden. Es gibt auch eine Reihe von Solar-Duschen, die aus Teilen einer alten Zentralheizung und Sacktuch zusammengebastelt wurden; einen Pizza-Ofen aus Torf; eine Internet-Zentrale mit ultraschneller Breitbandverbindung via Satellit und ganzen Reihen gebrauchter Laptops auf Heuballen. Ein unentwegt behüpftes Trampolin erfreut sich im Kinderbereich großer Beliebtheit, und eine Kinderschar jagt einem Clown nach, der so tut, als würde er über das Gewirr der Abspannseile stolpern. Ein benachbarter Sikh-Tempel hat die blauen Rohre gespendet, die sich durch das Gras schlängeln und die zahlreichen Küchen und Waschplätze mit Wasser versorgen. [..].


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Peter Weber
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Verbunden: 23.09.2010 - 20:09
Utopien
Utopien
 
Der Mensch ohne Utopie hat sich auf eine Fassade reduziert

Die Utopie, die weder ein Terrain im Nirgendwo ist, wohin man entflieht, noch ein universelles System und auch nicht die perfekte Zukunft, sondern vielmehr eine Angelegenheit, die uns unter die Haut geht, uns daran erinnert, dass wir uns mit den Brosamen der Gegenwart nicht zufrieden zu geben brauchen. Es gibt immer die Möglichkeit, woanders hinzugehen. Immer. In Wahrheit gibt es so viele Richtungen, wie es Visionen gibt. (I. Fremeaux und J. Jordan)

Dieser Buchfilm erinnert mich zum einen an ein schon vor langer Zeit gelesenes Buch: „Traumpfade“ von Bruce Chatwin. Es beschäftigt sich mit den Traumpfaden (Songlines oder Dreaming Tracks) der australischen Ureinwohner, den Aborigines. Der Gegensatz der beiden Kulturen, der archaischen der Aborigines und unserer westlichen, könnte krasser nicht sein. Der Zusammenhang zur aktuellen Buchvorstellung liegt darin, daß die Träume des mechanisierten modernen Menschen wieder an die alte Sehnsucht der Verbundenheit mit der Natur anknüpfen. Sie beinhalten ein Zurück zur Natur, ein einfacheres Leben und eine Reduzierung auf das Wesentliche, das mehr Zufriedenheit und Glück als der streßige Alltag der Leistungs- und Konsumgesellschaft gewährleisten kann.
 
Zum anderen ist der Begriff Utopie zwangsläufig mit dem „Utopia“ von Thomas Morus gekoppelt. Utopia ist der Titel eines 1516 von Thomas Morus in lateinischer Sprache verfaßten philosophischen Dialogs. Diese Schilderung einer fernen „idealen“ Gesellschaft gab überhaupt erst den Anstoß zum Genre der Sozialutopie, der Voraussetzung für jeden Sozialismus und alle Versionen der Vorstellung einer besseren und gerechten Gesellschaft.
 
Utopie ist nicht gleichbedeutend mit Nichtmachbarkeit und Illusion. Die vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse sind von Menschenhand geschaffen, also durch menschliche Entscheidungen willentlich herbeigeführt. Ergo können sie auch durch abermalige menschliche Entscheidungen rückgängig oder geändert werden. Wer nun behauptet, umwälzende Ideen seien nicht unrealistisch und nicht umzusetzen, der muß schon sehr vernagelt sein und hat sich sein Denken auf Schmalspur einrichten lassen.
 
Sich zu weigern, sich wenigstens geistig auf andersartige Gesellschaftsmodelle oder Einzellösungen einzulassen, ist demzufolge eigentlich identisch damit, bereits den mentalen Tod erlitten zu haben  und nur noch als ferngesteuerte Marionette weiterzuleben. Wie heißt es doch so schön entsprechend einem Werbespruch: Lebst du noch (und gehst deinen eigenen Weg), oder hast du das Denken anderen überlassen (und läßt dich wie ein dummes Schaft gängeln)? Einem  physisch und psychisch intakten Menschen ist das Bedürfnis zu träumen schon in die Wiege gelegt worden. Wenn man feige ist und Angst hat, seine Erkenntnisse und Träume  in Taten umzusetzen, dann habe ich noch ein gewisses Maß an Verständnis. Aber dann nicht mehr, wenn nicht der Versuch unternommen wird, die diffusen Ängste zu überwinden und ein wenig Rückgrat zu zeigen.  
 
Wer sich als Mensch nicht mit Utopien und ihrer Möglichkeit der Verwirklichung auseinandersetzt, dem ist jedes kritische Denken fremd und jegliche Imaginationsfähigkeit abhanden gekommen. Er ist dementsprechend nur noch ein Torso eines Menschen.
 
Peter A. Weber, Klotten
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