Philosemitismus – Erlösung vom Antisemitismus?

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Wolfgang Blaschka
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Philosemitismus – Erlösung vom Antisemitismus?
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Philosemitismus – Erlösung vom Antisemitismus?

von Wolfgang Blaschka


Antisemitismus ist bekanntlich eine besondere Ausprägung des Rassismus, die man nur deshalb nicht mit Letzterem gleichsetzt, weil die Behauptung einer ethnischen Homogenität der Judenheit vermieden werden soll, da der Versuch einer genealogischen Definition dessen, was ein Jude oder eine Jüdin sei, die Sache der Nazis und ihrer Rassentheoretiker gewesen ist, und besser auch ein für allemal gewesen sein sollte. Somit verbietet sich im Umkehrschluss die Heranziehung einer anderen als der Kategorie der Religion zur Umschreibung des Judentums quasi von selbst.

Vor diesem Hintergrund versteht sich der heutige Umgang mit dem Begriffspaar Nation und Juden, und damit der Frage des Verhältnisses zwischen Nationalität und Judentum. Meist läuft es darauf hinaus, die Juden in Deutschland als "Deutsche jüdischen Glaubens" quasi einzugemeinden, ob ihnen diese Integration schmeckt oder nicht, ob das der Sache objektiv gerecht wird oder nicht. Zwar haben viele Juden in der "Diaspora" mit fortschreitender Emanzipation die Chance ergriffen, "endlich dazu zu gehören", wo immer sie leben, aber manche lehnten dieses "großherzige Angebot" auch entschieden ab mit dem Hinweis darauf, dass sie "Kinder des auserwählten Volkes", also direkte Nachfahren aus "Abrahams Schoß", mithin Abkömmlinge eines der zwölf Stämme Israels seien – seit Generationen und Abergenerationen als eingeschworene Gemeinschaft nur untereinander versippt und verschwägert, weil nur so überlebensfähig, da weitgehend isoliert, stigmatisiert und ausgegrenzt von der umgebenden Bevölkerung, nicht nur in religiöser Hinsicht, sondern auch kulturell wie sprachlich, rechtlich ohnehin.

So kommt es, dass "assimilierte" und rundum integrierte Juden in Europa ihren Wehrdienst bei der IDF in Israel ableisten, obwohl der dort länger dauert und härter ist als in ihren Heimatländern. Auch und vielleicht gerade, wenn ihr Opa im Ersten Weltkrieg "für Deutschland" in den Krieg gezogen war und das Eiserne Kreuz umgehängt bekommen hatte. Was könnte noch deutlicher vor Augen führen, was es mit der Verbundenheit mit ihrer Nation und der Zerrissenenheit mit derjenigen Nation, unter der sie gelebt hatten, auf sich hat.

Kein Deutscher würde von sich behaupten, dass er von diesem oder jenem Alemannen oder Kelten oder Goten abstamme, weiß er doch, dass wir alle aus verschiedenen, zum Teil erst in den "düsteren" Zeiten der Völkerwanderung angesiedelten Volksstämmen entsprungen sind, von späteren Migrationswellen nicht zu reden. Das halbe Ruhrgebiet stammt aus Polen, das sprichwörtliche Berlin-Kreuzberg rekrutiert sich zu großen Teilen aus Schwaben und Türken, und selbst der alteingesessenste Traditions-Bayer wird zugeben müssen, dass seine namensgebenden Vorväter, die Bajuwaren, aus der ungarischen Tiefebene zugezogen sind, und sich mit ortsansässigen oder ebenfalls zugewanderten Sueben, Kelten und Römern vermischt haben im Laufe der Zeit. Es ist heute auch völlig unerheblich, zumal die Bayern sich sogar noch einen "vierten Stamm" adoptiert haben, die "Sudetendeutschen" und andere Flüchtlinge und Vertriebene aus Schlesien und Ostpreußen. Von den jedes Jahr zuziehenden "Nordlichtern", EU-Bürgern, Türken und Ossis ganz abgesehen.

Außer für Völkerkundler und Ahnenforscher wird das nach ein, zwei Generationen kaum noch von Bedeutung sein. Dann sind sie irgendwann Wahlmünchner, "Beutebayern", Bundesbürger oder Europäer. Vielleicht noch aus lokalpatriotisch bedingtem Sentiment Anhänger des Fußballvereins ihrer Herkunftsorte, die meisten nicht einmal das. Angesichts der Möglichkeit der Beibehaltung des Frauenfamiliennamens und der Bildung von Doppelnamen wird die Herkunftsspur onomatisch noch umwegiger zu verfolgen sein und sich um so rascher verlieren. Was bleibt, ist eine vage Ahnung davon, woher „Mensch“ jeweils ursprünglich abstammt. Was einen Deutschen oder Franzosen ausmacht ist beinahe diffuser und rätselhafter als was einen Juden sich als solcher fühlen lässt, auch wenn sie dieselbe Sprache sprechen. Manche nicht religiöse Juden haben sich erst durch die Umweltreaktionen als solche zu begreifen gelernt.

Bei den Juden, auf die vieles ebenfalls zutreffen mag, gibt es zudem die kulturelle, nicht nur aufs Religiöse beschränkte Identität als Angehörige einer weltweiten Herkunftsgemeinschaft, die sich andernorts als Nation konstituiert hat, in einem Staat, der die Vertretung der Interessen dieser alten Nation für sich beansprucht und zwar in einer Ausschließlichkeit, die den einen Teil der ursprünglichen Bevölkerung auf seinem Territorium gerade so als Bürger zweiter Klasse duldet und die Bewohner der von ihm beanspruchten und besetzten "Gebiete" entrechtet, enteignet und vertreibt, ghettoisiert und drangsaliert, um deren Landstriche zu zerstückeln und sich kolonialisierend anzueignen und peu à peu einzuverleiben.

Israel, das sich gern die "einzige Demokratie im Nahen Osten" nennt, behauptet sich im selben Atemzug als "Judenstaat" in strenger Apartheid gegenüber nichtjüdischen Bevölkerungskreisen (Palästinensern, Christen, Drusen). Staatssprache ist hebräisch, das Wappen ist der Davidstern, die tragende und alles beherrschende Ideologie ist der Zionismus, und als herrschende Elite haben sich die Aschkenasim, die aus Europa eingewanderten Juden etabliert. Alle konstituierenden Momente einer Nation sind gegeben, sämtliche Elemente und Insignien eines souveränen Staatswesens vorhanden (inklusive Atomwaffen). Die Besonderheit gegenüber anderen Nationalstaaten ist, dass Israel sich darüber hinaus als "Zufluchtshort" und geistiges Zentrum für die weltweit anderswo lebenden Juden versteht, die es als potenzielle und jederzeit einwanderberechtigte "Angehörige" in der Diaspora vertritt. Auch wenn seine jüdischen Staatsbürger aus unterschiedlichsten Ländern und Regionen zugewandert sind, bilden sie doch die bestimmende Nation in Israel, ähnlich wie die europäischen (legalen) Einwanderer in den USA weitgehend das Sagen haben. Auffallend ist immerhin die Affinität beider Nationen zur Siedlermentalität, zur rücksichtslosen Landnahme und zur militärischen Behauptung ihrer Interessen und Privilegien, die sie sich zubilligen und anmaßen – auch gegenüber der internationalen Völkergemeinschaft.

Seit die (jüdischen) Israelis ihren eigenen Staat haben, hat ihre Nationalstaats-Ideologie, der Zionismus, sein  Hauptziel erreicht, auch wenn das manchen Zionisten noch längst nicht ausreicht. Sie träumen von Erez Israel, einem Groß-Israel, das mehr als ganz Palästina umfasst. Das wäre aber nur mit Krieg zu machen, oder eben dadurch, dass man in kleinen Schritten Fakten schafft, hinter die es kein "Zurück" mehr gibt. Jede Kritik an diesem Staatsgebaren wird mit dem Dampfhammer des Vorwurfs von "Antisemitismus" platt gewalzt, wo es dezidiert um antiisraelischen, antizionistischen Protest geht. Die Gleichsetzung von Israel (mitsamt seiner Kriegspolitik) und Judentum (in seiner Gesamtheit) geschieht absichtsvoll mit Kalkül, um alle Einwände, Vorwürfe, Befürchtungen und Warnungen von außen wie von innen im Keim zu ersticken und von vornherein auszuschalten. Hilfsweise wird innerisraelischen Kritikern "jüdischer Selbsthass" unterstellt.

Schon deshalb ist es elementar wichtig, den Unterschied zwischen dem Staatswesen und seiner dieses tragenden und begründenden Nation zu sehen, anstatt die jüdische Nationalität als solche zu verleugnen. Ansonsten käme man sehr schnell dahin, die Existenzberechtigung Israels grundsätzlich in Frage zu stellen.

Wen sollte dieser Staat denn dann noch legitim vertreten, wenn nicht letztlich nur die Interessen des "Westens" als dessen Speerspitze im "arabischen Fleisch"? Damit würde man die jüdische Bevölkerung in Israel vom völkerrechtlich handelnden Subjekt zum bloßen Erfüllungsgehilfen und willigen Werkzeug als Außenposten der NATO oder der USA degradieren. Wie die Wirklichkeit zeigt, ist dem aber gar nicht so. Israels Juden und die von ihnen gewählten Regierungen agieren ziemlich eigenwillig, ihr Staat mit seinem Gewaltapparat höchst eigenmächtig, teilweise und zeitweise auch diametral konträr zu seinen Verbündeten und Förderern. Je offensichtlicher er dabei Normen des Völkerrechts und der allgemeinen Menschenrechte verletzt, desto durchschaubarer wird die Funktionalität dieser haltlosen Generalvorwürfe, die diese Verstöße rechtfertigen und vor Kritik bewahren sollen. Präventives Umsichschlagen, vorsätzlicher Amoklauf werden von immer weniger Menschen als sakrosankt goutiert und mit dem Verweis auf die grausame Geschichte hingenommen. Der David ist längst zum Goliath mutiert. Und der Antisemit zum "Judenfreund" avanciert.

Philosemitismus wird oft als das Gegenteil von Antisemitismus gesehen. Während der Antisemitismus nach der Maxime wüte, "alle Juden (seien) schlecht", setze der Philosemitismus dagegen das Axion: "Alle Juden sind gut". Als ob es so einfach wäre! Der Philosemitismus ist nicht bloße Umkehr oder gar Abwendung vom Antisemitismus, er geht oft Hand in Hand. Beide beschreiben "den Juden" nicht als Menschen wie du und ich, sondern statten ihn wie ein Alien mal dämonisierend, mal überhöhend, zu etwas anderem als einem normalen Menschen aus mit allerlei (meist pauschalisierenden) Attributen, und tun ihm damit nichts Gutes. Auch wenn es vorübergehend Vorteile bringen mag, als über den Gesetzen stehend bevorzugt, nachsichtig und schonend zuvorkommend behandelt zu werden, oder gerade dann, gerät man in Gefahr umso tiefer zu fallen, umso grausamer fallen gelassen zu werden – beim ersten "Fehltritt" gegen die Interessenslage des kritiklosen falschen Freundes vielleicht schon, oder am Ende erst, wenn "das Maß dann aber wirklich voll ist". Auf ewig wird kein zinsloser Kredit gewährt, er muss sich schon rentieren. Die Währung ist Pardon. Die Umrechnungstabelle ist: Tu du mir nichts, dann tu ich dir nichts. Lass mich, dann lass ich dich. Es ist ein labiler Schwebezustand, ein brüchiger Waffenstillstand, ein fauler Friede. Keine Gleichstellung jedenfalls.

Philosemitismus kann ebenso rasch in "Enttäuschung", Abkehr und vehemente Distanzierung umschlagen, wenn die beiderseitigen Erwartungen nicht erfüllt werden. Die Erwartung ist: Lossprechung von Schuld, Generalvergebung aller Schandtaten, nicht mehr an die (alten) Geschichte(n) erinnern, und bitte auch nicht an die neuen. Nur lässt sich das nicht immer ganz vermeiden, wenn es eben hierzulande keine ernsthafte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und ihren Wurmfortsätzen bis heute gibt. Dann heißt es ganz schnell: "Welch grober Undank! Die Polizei beschützt ‚ihre‘ Synagogen, und sie stänkern gegen den deutschen Staat, er täte zuwenig."

Der Gelegenheiten für Fettnäpfchen gibt es viele, und sie werden eifrig betreten. Sei es die absurde Behauptung in der Beschneidungsdebatte, ohne rechtsstaatliche Garantie der rituellen Körperverletzung bei Neugeborenen am 8. Lebenstag "könne man in Deutschland als Jude nicht mehr leben", oder die grundgesetzwidrige Lieferung von atomwaffentauglichen U-Booten in Spannungs- und Kriegsgebiete, aus deutschen Steuersubventionen mitfinanziert.

Die von Merkel zur Staatsraison erhobene deutsche "Garantie für die Sicherheit Israels", die einem mündlichen, doch sehr vollmundigen Beistandspakt mit einem Vabanque-Spieler gleichkommt, sowie der aufdringlich zur Schau gestellte Philosemitismus, der sich jeder kritischen Bemerkung "unter Freunden" enthält, stößt auf Unverständnis und zunehmende Ablehnung in der Bevölkerung, so sehr sich die offiziöse "Öffentlichkeit" der Eliten auch überschlägt mit Versuchen, die völkerrechtswidrigen Kriegsdrohungen gegen den Iran als legitim und "im Interesse der gesamten westlichen Welt" hinzustellen.

Fehlte nur noch der Satz: "Wir sind alle Israel" oder "Wir sind alle Juden". Die Springerpresse könnte (sich) das noch leisten. Davon, dass der Iran als Signatarstaat des Atomwaffensperrvertrages alles Recht hätte auf technologische Unterstützung seines zivilen Nuklearprogramms durch die Atommächte, während Israel mit hunderten nach wie vor geheim gehaltenen Atomraketen diesen Vertrag nie unterzeichnet hat und außerhalb jeder Kontrolle steht, wollen sie nichts wissen. Es wird einfach totgeschwiegen. Der Philosemitismus will überhaupt möglichst wenig wissen oder von irgend etwas gewusst haben, während der Antisemitismus geradezu "alles" zu wissen vorgab, die tiefsten Geheimnisse und um die verborgensten Abgründe (nicht in sich selbst, sondern) der Juden.

Aber so einfach ist es mit dem Philosemitismus nicht, dass man ihn einfach nur als reziproken Gegenentwurf zum Antisemitismus darstellen könnte. Er ist nicht die Sache der Juden (so, als ob sie sich selbst lieben oder hassen würden), ebensowenig wie der Antisemitismus, sondern eine Haltung der Nichtjuden gegenüber den Juden, und meistens von Leuten, die sie vorher oder sogar zeitgleich kollektiv hassen oder zumindest Ressentiments gegen sie hegen, quasi als Abbitte für "Auswüchse" oder als Selbstentschuld(ig)ung vom virulenten Antisemitismus. Ein Wohlmeinen jedenfalls, das, oft individualisiert, auch während des Hitlerfaschismus zuhauf vorkam: "Ach, der Herr Rosenbaum im 3. Stock, der war ein sehr höflicher, netter älterer Herr, mit dem wir nie Schwierigkeiten hatten. – Wie, die Frau Morgenstern von gegenüber, die sie letzte Woche abgeholt haben, soll Jüdin gewesen sein? Das hätten wir nie gedacht! Sie war immer zuvorkommend, wir haben uns sogar öfter mit ihr unterhalten. Naja, der Name hat uns immer etwas befremdet, aber sonst ..." Jeder halbwegs clevere Antisemit "hielt" sich seinen "Privatjuden", als Ausnahme zur Bestätigung der Regel, und vielleicht mancher besonders clevere zusätzlich als Kronzeugen-Absicherung für die Zukunft.

Man stellte das Mobiliar unter, nahm Wertsachen in Verwahrung oder kaufte "hilfreich" etwas unter Wert ab, damit der Zwangsemigrant seine Ausreise-Abgabe zahlen konnte – in der heimlichen Hoffnung, er käme nie wieder. So wechselten Häuser die Besitzer, Läden und Firmen. Man profitierte vom Antisemitismus, indem man Juden half. Später konnten sich Ausgebombte günstig wieder einrichten – mit von den Deportierten beschlagnahmten Möbeln aus den Magazinen. So landete manch siebenarmiger Leuchter in nichtjüdischen Haushalten. Wem er gehört hatte, was mit "denen" passiert war, wollte man lieber nicht so genau wissen. Ab da nie wieder ein schlechtes Wort über Juden, schon gar nicht gegen einen, den man persönlich kannte.

Der Philosemitismus ist die Beruhigungspille des Antisemiten, eine Art Ablass und Lebensversicherung. Das hieß beileibe nicht, dass "alle Juden gut" seien, nur eben den einen, den habe es "ungerecht" hart getroffen. Der heute wirkende Philosemitismus wird auch von Nicht-Antisemiten praktiziert, die sich in der Schuld ihrer Vorfahren fühlen. Indem sie aber betont als "Judenfreunde" auftreten, haben sie den Antisemitismus immer noch nicht überwunden. Sie halten "die Juden" für etwas Besonderes, recht eigen sehr Spezielles, denen man Sonderkonditionen und Freifahrtsscheine ausstellt, weil "man" ja auch "über die Stränge geschlagen hat", aus schlechtem Gewissen und zur Reinwaschung von der Schuld der Vorväter. Es ist der Tribut an die eigene Befangenheit. Es ähnelt etwas dem Verhalten des heutigen Rassisten, der im arabischen Internetshop sitzt, bei Türkens frisches Gemüse kauft oder zum Italiener essen geht, aber über "die Ausländer" herzieht. Auf den Ali von nebenan ließe er nie etwas kommen, und Guiseppe würde er sogar als Kumpel bezeichnen. Individualisierte "Ausländerfreundlichkeit" ist die Kehrseite der harten Xenophobie-Medaille.

Was den staatlich gepflegten Philosemitismus angeht, den die Adenauer-Regierung  betrieb, um sich vom Stigma des Antisemitismus zu befreien, war dieser umfassender angelegt, genau nicht auf Individuen gerichtet, sondern auf den neu gegründeten "Judenstaat": Transferleistungen (nicht an die Opfer, deren Angehörige oder Nachfahren als Entschädigung, sondern) als "Wiedergutmachung" an den Staat Israel – zum Zwecke der Aufrüstung – nach dem Motto: "Das sind wir ihnen schuldig". Ich kann mich noch gut an die Sprüche meiner Kindheitstage erinnern: "Wie lange sollen wir denn noch zahlen?" Eine individuelle Entschädigung hätte zumindest eine Auseinandersetzung mit dem Leid der Verfolgten und Deportierten evoziert, was in der Bevölkerung, die zumindest zur Hälfte aus Mitläufern bestand, kaum durchsetzbar gewesen wäre. Doch um die (zwangs)exilierten Juden bei ihrem "Ringen gegen die arabische Übermacht" zu tapferen Soldaten zu machen (und damit sich selbst ähnlicher), das ging gerade noch so durch, also alimentierte man deren Staat. In der DDR stellte sich das Problem in dieser Dimension gar nicht, weil sie mit dem zionistischen Staat keinerlei Beziehungen unterhielt. Die Bundesrepublik Deutschland erhob ihrerseits den Alleinvertretungs-Anspruch deutscher Interessen gegenüber dem Ausland, als selbst erklärter Nachfolgestaat des Deutschen Reiches, da fiel "die Zone" nicht weiter ins Gewicht. Man übernahm die Schulden.

Der Philosemitismus ist also eine Projektion von außen auf die Gesamtheit der Juden oder einzelne Juden, nicht eine Kategorie jüdischer Selbstdefinition, also auch nicht gleichbedeutend mit Nationalstolz oder entsprechend dem Begriff eines ethnisch reklamierten Judentums, wie es im Zionismus, nicht zuletzt unter dem Einfluss der allgemeinen Nationalstaatsbestrebungen im Europa des 19. Jahrhunderts, auftaucht. Dort wird auf die gemeinsame Abstammung jüdischer Gemeinden und Individuen von den 12 Stämmen Israels rekurriert, wird also der ethnisch konstituierten Religionsgemeinschaft des "auserwählten Volkes" die Erfüllung der "Verheißung des Gelobten Landes" im Rahmen eines homogenen Nationalstaates in Aussicht gestellt. Dass viele Juden, die nach der 3. Zerstörung des Tempels im Jahr 70 unserer Zeitrechnung in der Diaspora von Mittelasien bis Europa verstreut lebend, aber immer eng zusammenhaltend und immer auf (meist erzwungene) Abgrenzung zu ihren misstrauischen bis feindseligen Nachbarn in den verschiedenen Ländern bedacht waren und bedacht sein mussten, der Idee, "einem Volk" anzugehören, nicht ablehnend gegenüberstanden, ist naheliegend und nicht als rassistisch zu deuten. Denn die Vermählung und Vermischung mit der einheimischen Bevölkerung konnte überhaupt erst mit der "Emanzipation der Juden" und dem Ende der Ausgrenzung ins "Städtl" beginnen, und war bei Orthodoxen selbst dann noch nicht gern gesehen, angesichts der überlieferten und selbst gemachten Alltagserfahrungen, also aus einem tradierten Selbstschutz-Bedürfnis heraus, kultiviert bis hin zum trotzigen sozialen "Kosherkeits"-Dünkel.  

Wenn die katholische Kirche inzwischen forsch behauptet, "wir alle" (sprich die Anhänger der beiden älteren monotheistischen Religionen) seien doch "Kinder Abrahams", dann ist das ein perfider philosemitischer Reinwaschungsversuch vom katholischen Antisemitismus ("Die Juden haben unseren Herrn Jesus Christus ans Kreuz geschlagen"), der nicht zuletzt auch historisch verlogen falsch lag: Es waren die Römer, und Jesus, so es ihn denn gegeben hat, war selbst Jude. Wenn heute ein Jude (egal ob in Israel oder anderswo) sich als Abkömmling des israelitischen Stammvaters fühlt, kann man's ihm nicht als reinen Quatsch und schon gar nicht als Rassismus oder Rassenwahn auslegen, wenn es in seiner Familie halt so zu sein scheint, und wenn alle politische Oppression und Benachteiligung ihm das von außen zwingend nahelegt.

Was die nach Palästina emigrierten Juden anbetraf, so sahen sie sich nicht in erster Linie als genetische Homogenität, sondern zu allererst als "Schicksalsgemeinschaft", vor allem die aus sozialistischen Strömungen des Zionismus kommenden Pioniere der ersten Kibuzzim. Überheblichkeit gepaart mit Geringschätzung haben sie dann nicht nur gegenüber den Palästinensern oder, wie sie in Israel zu sagen pflegen, den "Arabern" gegenüber entwickelt, sondern auch untereinander. Die sorgsam gepflegte Hierarchie der (aus Europa eingewanderten) Aschkenasim gegenüber den aus Kleinasien oder Persien zugezogenen Sephardim und noch stärker den aus den ehemaligen Sowjetrepubliken eingebürgerten "Spätankömmlingen" gegenüber ist sprichwörtlich, und wird manchmal stärker gepflegt als die Vorbehalte gegenüber in Israel lebenden Palästinensern, vor allem, wenn letztere gebildet und einigermaßen gut situiert sind.

Letztlich läuft es wie überall auf soziale Unterschiede hinaus: Die Abgrenzung gegenüber denen, die auf der sozialen (und Bildungs-)Stufenleiter weiter unten zu stehen scheinen. Auch bei uns in Deutschland käme (außer Nazis) kaum jemand auf die Idee, angesichts "gesitteter" Japaner, "vermögender" US-Bürger oder "zahlungskräftiger" Araber, die auf "Sommerfrische" nach Europa reisen, um der Hitze zu entgehen, die Nase zu rümpfen (sie "wollen ja nichts von uns", sie "bringen was"). Wohl eher gegenüber "Bettler-Rumänen", angeblich "kriminellen" Balkan-Migranten, pakistanischen Rosenverkäufern oder türkischen Müllmännern. Wenn jemand solch Stützkorsett für sein schwaches Ego braucht und nötig hat, dann immer gegen Schwächere.

Der Rassismus gegen die "in den Gebieten" lebenden Palästinenser ist am ehesten vergleichbar mit der Haltung der Siedler im wilden Westen Nordamerikas gegenüber den indigenen Urbewohnern: Die müssen einfach weg, weil sie der Landnahme im Weg stehen, die vertreibt und dezimiert man, pfercht sie in Reservate oder Ghettos. Aus den Augen, aus dem Sinn, dann ist das Problem gelöst. Höhere Mauern, dann ist die Gefahr gebannt. Dieser kolonialistische Rassismus und der gegen ihn gerichtete Widerstand haben aber nun weder mit Philosemitismus noch mit dem klassischen Antisemitismus zu tun. Letzterer ist übrigens gar nicht das Ding der Palästinenser, die selbst "Semiten" sind, sondern ihr Hass ist der auf Israel und seine Besatzungspolitik, gegen die Checkpoints, die Straßensperrungen, den Wasserklau, den Landraub und Siedlungs- und Mauerbau. Wohl aber der wohlmeinende Blick aus Europa und die zur Staatsraison aufgeplusterte deutsche "Nibelungentreue" zu Israel und seiner Kriegspolitik ist Philozionismus. Immer noch. Und dabei in Konsequenz die augenzwinkernde Aufforderung zur Selbstgefährdung nicht nur "der Juden", sondern auch "ihres" Staates – durch Ermunterung zu immer neuen und riskanteren militärischen Abenteuern, ob "böse" oder nicht, ob legal oder illegal. Ein paternalistischer Bärendienst letztlich. Jedwede "Berechtigtheit" von rechtswidrigem Maßnahmen und Verhalten ergibt sich aus der geostrategischen Lage.

Weshalb der Erklärungsversuch, Netanjahu und seine Vordenker als "Rassetheoretiker" zu klassifizieren, um damit seinen menschenverachtenden Rassismus gegenüber Palästinensern zu beschreiben, ziemlich wenig Sinn machte. Es ist nicht der "Bluterbe"-Unsinn, der die israelischen Juden heute bewegt und umtreibt, sondern das Kalkül, mit Verweis auf die deutschen Verbrechen den "Westen" für das zionistische Projekt "Erez Israel" einzuspannen – gegen Völkerrecht, Menschenrecht und Weltöffentlichkeit – also das national-religiöse Ziel zu verwirklichen. Es geht ihnen dabei nicht um die physische Vernichtung der Palästinenser, sondern um deren Entrechtung, Enteignung, Vertreibung. Sie sollen einfach weg. Der Anspruch auf das Land wird nicht genetisch-völkisch, sondern religiös-historisch begründet, und letztlich emotional ungerührt und pragmatisch militärtechnisch durchgesetzt. Absurd erscheint dabei die Tatsache, dass die Ultrareligiösen allein die Existenz des Staates Israel schon als Blasphemie verdammen, sich als Siedler aber von israelischen Soldaten beschützen und vom Staat alimentieren lassen. Sie arbeiten nicht, sie gehen zur Synagoge, und zeugen möglichst viele Kinder im demographischen Wettrennen gegen die Palästinenser. Sie dienen der Karikatur ihrerselbst, als kleine radikale Minderheit, die aber den politischen Diskurs insgesamt und das religiöse Klima im Land nicht unerheblich beeinflusst und in Haftung nimmt.

Dass das letztlich nicht nur antiisraelischen Protest befördert, sondern auch gewissen Kreisen antisemitischer Provenienz Nahrung gibt, wollen weder die israelischen Eliten noch ihre falschen Freunde beiderseits des Atlantik wahrhaben. Sie ignorieren es einfach, so wie der Philosemitismus den Antisemitismus ignoriert oder ungeschehen machen will. Nicht, weil "die Juden alle gut" sind, sondern weil es in ihr politisches Kalkül passt: Sich selbst reinzuwaschen und die Israelis sich schmutzig machen lassen, um sich selbst nichts mehr vorhalten lassen zu müssen, und um den Nahen Osten auf möglichst immer in Selbstzerfleischung zu halten. Nach diversen dieser "Feuertaufen" dürfen die Israelis auch beim European Song-Contest mitmachen und bei NATO-Manövern dabei sein – als "ebenbürtige Kameraden" an vorderster Front. Der David hat sich zum Goliath hochgedient. Willkommen im Club der Imperialisten! Selbst manche Neonazis haben vor so was Respekt, und wenden ihren Hass praktisch gegen Türken, Araber und Moslems. Und solche Kids aus Migrantenkreisen überfallen dann in Berlin einen Rabbi. Die Geschichte ist um eine grausige Umdrehung weitergetickt. Das unbewältigte Trauma der Shoah ist weitergereicht als Nakba, zur Folge-Katastrophe im langen Schatten des Holocaust.

Ebenso unaufgearbeitet schwelt der latente Antisemitismus immer noch knapp über dem Boden wie eine erkaltete Rauchschicht, und manchmal wird er unversehens hochgewirbelt, und nicht nur bei den 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung, die sich bis heute nicht scheuen, antisemitische Stereotypen als unterschwellige Bestandteiles ihres Weltbildes gelten zu lassen.

Eklatantes Beispiel war etwa die Ausstrahlung der US-amerikanischen Fernseh-Serie "Holocaust" Anfang der 80-er Jahre, die den Begriff des "Alles-verbrannt" in Deutschland erstmals popularisierte. Es gab ein unwürdiges Geeier in der ARD, selbstverständlich nicht ausgetragen mit offen antisemitischen Topoi, sondern mit ästhetischen Vorwänden gegen die Machart des Melodrams, um pädagogischen Sinn, Zweck und Berechtigung der Individualisierung von Schicksalen in der Geschichtsaufarbeitung und ähnlichen Vorbehalten, die vor allem vom Bayerischen Rundfunk herangezogen wurden, um sich der breitenwirksamen Auseinandersetzung mit dem Thema nicht stellen zu müssen.

Die Scheu vor der Shoah ging soweit, dass der Vierteiler nur in den dritten Programmen ausgestrahlt wurde, und in Bayern gar nicht. Seitdem hat sich einiges getan in Richtung Verkleisterung dieser Abgründe mit dem Philosemitismus. Es gibt sogar ein Gesetz, das die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellt (wehe, wenn die Nazis auf die Idee kämen, den industriell betriebenen Massenmord ihrer historischen Vorbilder gar nicht mehr in Abrede zu stellen, sondern als "zeitbedingte Maßnahme" oder "geschichtlichen Fakt" hinstellen, für den sich kein "national gesinnter Deutscher" heute zu schämen bräuchte! Dann würde dieses Gesetz zur stumpfen Waffe), es gibt Gedenkstätten für die verfolgten Juden und inzwischen auch für Sinti und Roma. Als wolle sich das offizielle Deutschland selbst versichern, dass es sich historisch geläutert "im Griff" habe.  

Doch eine offensive Auseinandersetzung mit dem Gedankengut der Rechtsradikalen wird nicht geführt, vielmehr der "staatlich verordnete Antifaschismus in der DDR" desavouiert. Es reichte bislang noch nicht einmal zu einem NPD-Verbot, und die Mordtaten des "Nationalsozialistischen Untergrunds" wollte man zehn Jahre lang nicht sehen und log sie perfide um zu "Dönermorden". Es waren deutsche Morde, von deutschen Nazis verübt, von deutschen "Staatsschützern" beobachtet. Und von deutschen "V-Leuten" unterstützt.

Unter der Oberfläche des offiziellen Philosemitismus und gelegentlichen Werbesprüchen für "Zivilcourage" und einen "Aufstand der Anständigen" wabert ein brauner Sumpf, bis in die Behörden hinein. Was wir nicht erfahren sollen, wird kurzerhand geschreddert. Dennoch, in der offiziellen Politik tut man so, als ließe sich mit Ausländerfeindlichkeit oder Antisemitismus nicht mehr punkten. Dennoch passiert es immer wieder mal, das sind so die "Ausrutscher". Das mit dem "Juden-Gen" von Sarrazin war angeblich nicht abwertend gemeint, im Gegenteil, die positiven Eigenschaften der Juden hervorhebend, ihre Intelligenz lobend. Nun wissen wir aber: Gut gemeint ist meist das Gegenteil von gut. So werden Vorurteile zementiert, Klischees tradiert, Ressentiments geschürt. Es gibt auch "positive" Diskriminierung. Das ist, als wolle man jemanden "wegloben".

Wenn der Antisemitismus heute weltweit real Einfluss ausübt, dann als Philosemitismus. Die Evangelikalen in den USA warten nur auf den Tag, da die ("Rück"-)Eroberung des Gelobten Landes durch die Juden vollendet sein wird, erst dann kann die Entscheidungsschlacht Gut gegen Böse geschlagen werden, das Armageddon, dem die Juden nicht entrinnen werden, so ihre krude Vorstellung. Bis dahin spenden sie fleißig für noch mehr Siedlungen in der Westbank und im Gazastreifen und setzen jede US-Regierung offensiv unter Druck, nur ja weiterhin Israel die Stange zu halten, auf dass der apokalyptische Tag für ihr (christliches) Gottesreich endlich näher rücke. Sie halten "die Juden" gewiss nicht für pauschal "gut oder böse", sondern schlicht für verdammungswürdige "nützliche Idioten" im Gedankengebäude ihres religiösen Fundamentalismus. Ihr Einfluss auf die Politik der USA dürfte ähnlich stark sein wie der der jüdisch-orthodoxen Gemeinden und deren Israel-Lobby. Das hat so gar nichts romantisches, sondern extrem archaisches: Hilf deinem Feind aufs Pferd, auf dass er stürze. Geschickter und hinterhältiger lässt sich Antisemitismus nicht tarnen. Philosemitismus ist allemal Lüge und Heuchelei, fungiert als Fortsetzung des Antisemitismus mit anderen Mitteln. Der Begriff ist leichter zu verstehen im Bild des "Parteifreunds", der sich als dein schärfster Feind entpuppt, – als das Eine im Anderen, nicht als dessen Gegenteil – zugegeben eine dialektische Feinheit. Der Widerspruch "in sich" selbst.

Der Philosemitismus ist nicht das rettende Ausgangstürchen aus dem Antisemitismus, sondern ebenso schlecht sein unerkanntes und unbewachtes Einfallstor. Es sollten endlich Warnschilder aufgestellt werden: Reden wir offen miteinander, als Gleiche unter Gleichen, als Menschen. Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden. Und ohne Wahrhaftigkeit keinen Ausgleich. Schweigen und Lügen töten nicht nur andere, sondern auch uns selbst. Die Lehren aus der Geschichte müssen von allen gezogen und beherzigt werden. Das Trauma weiterzureichen befreit nichts und niemanden, ebensowenig wie die Weitergabe der Brandfackel. Die Schuld muss erkannt und anerkannt, nicht kompensiert werden durch neue. Nur das ermöglicht verantwortliches Denken und verantwortbares Handeln. Ungebremste Aggression endet in der Selbstzerstörung. Das ist so beim einzelnen Menschen wie bei Nationen. Nur die Dimensionen unterscheiden sich gewaltig.

Wolfgang Blaschka, München