Rating-Agenturen: Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart (WERNER RÜGEMER)

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Rating-Agenturen: Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart (WERNER RÜGEMER)
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Rating-Agenturen:  Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart


Autor: Werner Rügemer

Verlag: Transcript Verlag, Bielefeld (2. unveränderte Aufl.  April 2012) – zur Verlagsseite

ISBN-13:  978-3-8376-1977-5

kartoniert, 200 Seiten, Preis € (D] 18,80


Wer steckt eigentlich hinter den Rating-Agenturen, von denen im Zuge der Finanzkrise so oft die Rede ist? Und nach welchen Kriterien arbeiten sie?

In diesem Buch wird zum ersten Mal die Eigentümerstruktur der drei großen Agenturen offengelegt: Es handelt sich dabei um die größten Hedge- und Investmentfonds, die aus der hohen und dauerhaften Verschuldung von Unternehmen, Staaten und Konsumenten Gewinn ziehen. Ein Blick auf die Praxis der Rating-Agenturen zeigt: Ihre Macht gewinnen sie durch ihre Eigentümer, aber auch durch die staatlich und überstaatlich erteilte Wächterfunktion. Sie sind mit Fonds, Banken, Staaten, Zentralbanken, Europäischer Union und Internationalem Währungsfonds Teil der gegenwärtigen Kapitalmacht und schrecken vor suggestiven Ratings ebenso wenig zurück wie vor der Inszenierung von Krisen.


Inhaltsverzeichnis:


I. Einleitung | 7

II. Entstehung und Veränderung der Agenturen | 13

III. Die Globalisierung des US-Rating-Systems | 27

IV. Wem gehören die Rating-Agenturen? | 43

V. Erste Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart | 61

VI. Rating: Die Kriterien | 73

VII. Rating: Die Arbeitsweise | 87

VIII. Kriminogene Bedingungen | 103

IX. Ratingfreie Zonen | 121

X. Debt Factory Working | 129

XI. Debtocracy | 149

XII. Verrechtlichtes Unrecht | 155

XIII. Reformversuche | 161

XIV. Alternative: Die große Entschuldung | 183

XV. Ausgewählte Literatur | 191


Verzeichnis der Institutionen-Porträts

Was tun Investmentbanken? | 18

Federal Reserve Bank (Fed, USA) | 26

Clearstream (Luxemburg) | 32

Bank for International Settlements (BIS, Basel) | 36

Was tun Hedgefonds? | 46

Hedgefonds Blackrock | 68

Wem gehört die New York Times? | 70

Der Fall des Pensionsfonds CalPERS | 116

US-Börsenaufsicht SEC | 164

Financial Stability Board (FSB) | 169



Leseprobe I. Einleitung:

Die Rating-Agenturen sind seit der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 ständiges Thema der medialen und politischen Aufmerksamkeit. Genauer gesagt: Die Aufmerksamkeit gilt drei Rating-Agenturen, den »Big Three« Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch. Sie sind seit einem Jahrhundert Akteure der Finanzindustrie, zunächst vor allem in den USA und im Finanzzentrum des Kapitalismus, in der New Yorker Wall Street. Und schon seit über drei Jahrzehnten sind sie integrierte Akteure der globalisierten Wirtschaft, in den sogenannten Entwicklungsländern ebenso wie in den sogenannten entwickelten Staaten. Heute erscheinen sie mächtig, können (scheinbar) über Staaten und ganze Staatengruppen entscheiden – wie kann es sein, dass sie die längste Zeit im Verborgenen wirkten?

Schauen wir uns zunächst folgenden Fall an: Es scheint so, als fordere in Deutschland gegenwärtig ein einziger Bürger konkret die Verantwortung einer Rating-Agentur ein. Der Rentner Jürgen Hillebrand klagt gegen die deutsche Niederlassung von Standard & Poor’s (S&P) auf Schadenersatz. Sein Vorwurf: Er sei durch die Falschbewertung von Wertpapieren der dann bankrottgegangenen Bank Lehman Brothers um 30.000 Euro geschädigt worden. Er habe 2008 Lehman-Zertifikate gekauft, da die Citibank Wilhelmshaven in ihrem Verkaufsprospekt dafür mit der guten Note A+ von S&P geworben habe. S&P habe im Auftrag von Lehman diese Bewertung erstellt und sei von Lehman dafür auch bezahlt worden. Die Agentur hafte also. Hillebrand klagt vor dem Landgericht Frankfurt a.M., weil hier die Agentur ihren deutschen Sitz hat.1

Anwalt Jens-Peter Gieschen, der mit Professor Kai-Oliver Knops zusammenarbeitet, will das Musterverfahren im Interesse tausender geschädigter Anleger notfalls durch alle Instanzen ziehen. Der Gesetzgeber sei bisher untätig. Eine Klage in Deutschland gegen eine Rating-Agentur sei deshalb juristisches Neuland, aber notwendig. Natürlich hätten die Agenturen Angst davor, denn »eine einmal festgestellte Schadenersatzpflicht wegen falscher Ratings bedeutet ein Milliardenrisiko für die Agenturen«.2

Rating-Agenturen sind für ihre zahl- und folgenreichen falschen Ratings auf der ganzen Welt noch nie zur Rechenschaft gezogen worden. Ein dreiviertel Jahr nach Hillebrands Klageeinreichung fand vor dem Landgericht Frankfurt die erste Verhandlung statt. Der Anwalt von S&P argumentierte, die Klage sei unzulässig: Die Agentur unterhalte zwar in Frankfurt ein Büro, doch der Sitz von Standard & Poor’s Financial Services LLC, dem für Ratings zuständigen Tochterunternehmen, sei in New York, es habe in dem Frankfurter Büro weder Sitz noch Personal. Geklagt werden könne folglich nur in den USA. Das Landgericht Frankfurt schloss sich dieser Argumentation an, erklärte sich als unzuständig und ließ die Klage nicht zu.

Dieser Argumentation widerspricht allerdings, dass auf der Website der Agentur das Büro in Frankfurt unter dem zusammenfassenden Namen Standard & Poor’s aufgeführt wird und dass Deutschlandchef Torsten Hinrichs in wiederkehrenden Interviews und Talkshows nicht als Vertreter irgendeiner Tochterfirma, sondern allgemein als Vertreter der Agentur auftritt und deren Ratings rechtfertigt. Die Niederlassung in Frankfurt firmiert zudem als Standard & Poor’s Credit Market Services Europe, zuständig für die Niederlassungen in ganz Europa. Wie es sich genau verhält, lässt S&P im Dunkeln, im Handelsregister fehlt die vorgeschriebene Liste der Gesellschafter ebenso wie der Gesellschaftervertrag.3

Hillebrands Anwalt Gieschen will notfalls eine Strafanzeige gegen die Agentur wegen Prozessbetrugs erstatten.4 Gieschen holte zudem eine kaum angewandte Vorschrift der Zivilprozessordnung hervor: Es gibt einen »besonderen Gerichtsstand des Vermögens«, wenn ein Beklagter keinen Wohn- oder Geschäftssitz im Inland hat, aber ein gewisses Vermögen vorhanden ist. Gieschen konnte belegen, dass die Agentur in Frankfurt Guthaben bei der Deutschen Bank und auch Forderungen gegen sie hat. Er legte  Widerspruch ein, das Oberlandesgericht bejahte die Zuständigkeit des Frankfurter Gerichts und ließ die Klage zu. Jetzt muss das Landgericht den Fall erneut prüfen.5

Wir erkennen hier einige Aspekte des Verhaltens von Rating-Agenturen: Erstens streiten sie jede Haftung für die eigenen Handlungen prinzipiell ab. Zweitens sind sie global tätig, entziehen sich aber mit juristischen Winkelzügen der rechtlichen Greifbarkeit. Sie verweisen auf die Möglichkeit, Klage in den USA zu erheben, dort aber stellen bisher alle Regierungen, Behörden und Gerichte die Agenturen haftungsfrei. Drittens arbeitet S&P mit einem verschachtelten Unternehmensaufbau und verstößt auch schon mal, wie in Deutschland, gegen nationale Vorschriften. Viertens stellt sich auch die deutsche Justiz zunächst auf die Seite der Agentur, erst ein findiger Rechtsanwalt muss das Gericht zu einer anderen Auffassung zwingen. Fünftens fordern weder die Finanzaufsicht noch die Regierung in Deutschland die Verantwortung der Agenturen ein. Ähnliche Erfahrungen machen zahlreiche Kläger in Griechenland, Spanien und Portugal.6

Bei aller Kritik blenden nicht nur die Publikumsmedien, sondern gerade auch die »wirtschaftsnahen« Medien alle wichtigen Fragen aus, die diesen Zustand erklären könnten. Zur Beantwortung sind rein ökonomische oder ökonomistische Erklärungsmodelle ohnehin hinderlich, ob sie nun – etwas pauschal ausgedrückt – der heutigen Leitwissenschaft Ökonomie in rechter, linker oder mittlerer Ausprägung zugehören. Sie ergehen sich in allgemeinen pro- beziehungsweise antikapitalistischen Behauptungen. Die Ökonomie aber, so meine Überzeugung, ist zu wichtig, als dass wir sie den Ökonomen überlassen dürften. Ich nähere mich deshalb dem Problem mithilfe des Konzepts der »Kapitalmacht«.7 Danach ist der ökonomische Kapitalismus hierarchisch und konfliktär in sich zergliedert. Zudem verbindet er sich mit unterschiedlichen politischen und kirchlichen Systemen, tritt also etwa als westliche Kapitaldemokratie genauso auf wie als islamisch-feudalistischer und christlich-demokratischer Kapitalismus. Es hat sich sogar ein kommunistischer Staatskapitalismus herausgebildet. Und alle diese Formen sind keineswegs gleich, obwohl sie alle kapitalistisch sind.

Ich beschäftige mich hier nur mit dem »westlichen« Kapitalismus, weil die drei großen Rating-Agenturen zu ihm gehören. Er fördert nicht Wettbewerb und Markt und will auch nicht dem ökonomischen Kapitalismus, dem Markt oder dem Wettbewerb weltweit zur Geltung verhelfen, schon gar nicht der Demokratie als solcher, wie behauptet wird. Vielmehr strebt er nach westlichem Alleineigentum.

Deshalb gehe ich der bisher ausgeblendeten Frage nach: Wem gehören die drei großen Rating-Agenturen? Es wird sich herausstellen: Es sind dieselben Eigentümer, die auch Miteigentümer der großen Banken und multinationalen Konzerne sind. Damit eröffnet sich eine ganz andere Sicht auf die Kriterien und Praktiken der Rating-Agenturen: Sie handeln nicht selbstständig, wie die veröffentlichte Meinung unterstellt, sondern sie sind der verlängerte Arm ihrer Eigentümer.

Die Agenturen bewerten die Wahrscheinlichkeit von Kreditausfällen bei Unternehmen und Staaten, doch sie sind keineswegs daran interessiert, dass die Kreditnehmer ihre Kredite vollständig zurückzahlen. So werden gerade die größten Schuldenmacher am besten bewertet, allerdings unter der Bedingung, dass sie neue Kredite bekommen und die Zinsen zahlen können. Nicht Schuldenabbau, sondern systemische Überschuldung ist der Auftrag der Agenturen. Und dabei sind die Schulden, beziehungsweise die Kredite, nur die Basis für weitergehende Finanzoperationen, für Derivate, mithilfe derer die Eigentümer der Rating-Agenturen erst ihre großen Gewinne machen.

So wird auch der Verlauf von Unternehmens- und Staatskrisen verständlich, die aus der Sicht der Agenturen und ihrer Eigentümer zu den besonders lukrativen Situationen gehören. Und so wird auch verständlich, dass die Ratings keine »objektiven« Bewertungen sind, sondern einseitige, strategiebedingte Instrumente mächtiger Finanzakteure.

Ziel dieses Buches ist es, die Beschaffenheit dieser Instrumente und somit das Entstehen und Wirken von Ratings erstmalig detailliert und zusammenhängend darzustellen. Es wird ersichtlich werden: Das Wohl und Wehe von Unternehmen, Beschäftigten, Empfängern staatlicher Transfers, Volkswirtschaften und Staaten ist den Agenturen und ihren Eigentümern zwar nicht ganz gleichgültig, aber von sehr untergeordneter Bedeutung; mögliche Kollateralschäden, Verwüstungen und Untergänge gehören zum Geschäftsmodell.

Ihre Macht haben die Agenturen aber nicht nur durch ihre mächtigen Eigentümer, sondern auch aus einer zweiten Quelle: Die Regierungen und gesetzgebenden Parlamente des westlichen Kapitalismus gaben ihnen die hoheitliche Aufgabe, das Kreditwesen zu regulieren. Dieses in den USA entwickelte privat-staatliche System wurde dann seit Mitte der 70er Jahre globalisiert, also in nationale Regularien, in das internationale Zentralbankensystem, in den Internationalen Währungsfonds IWF, in die Europäische Zentralbank wie auch in die Alltagspraxis der Finanzindustrie aufgenommen. Die Propagandisten der »Deregulierung« haben also gar nicht, wie sie sagen, das Finanzsystem dereguliert, sondern sie haben auch mithilfe der Rating-Agenturen ein neues, nun eben privat dominiertes Regulierungssystem geschaffen, das staatlich gestützt wird.

Die für Unternehmen, Beschäftigte, Konsumenten, Volkswirtschaften und Staaten schädlichen Ratings haben immer wieder Kritik hervorgerufen. Doch die vielen Reformversuche in den USA und in Europa haben nichts an den Verhältnissen geändert. Einzig der Ansatz in China ist bemerkenswert, weil er mit einer anderen Art von Kapitalismus verbunden ist. Die Reformversuche im westlichen Kapitalismus müssen solange scheitern, solange die Agenturen als selbstständige Akteure betrachtet werden, während die Praktiken ihrer Eigentümer unangetastet bleiben.

Die vorliegende Erkundungsreise soll nicht nur in das »Herz der Finsternis « führen, sondern dazu beitragen, die besten Auswege zu eröffnen. So müssen wir am Ende überlegen, wie die Kreditvergabe im Besonderen und das Wirtschaften im Allgemeinen beschaffen sein müssen, damit sie den Menschenrechten und dem ebenso sicheren wie würdigen menschlichen Überleben dienen.

Im Buch spreche ich von »Finanzkrise«, weil »alle Welt« davon spricht. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch nicht um eine Finanz- oder Staatsschuldenkrise, sondern um die im westlichen Kapitalismus vorherrschende, gegenwärtig lediglich zugespitzte und staatlich geförderte private Geldschöpfung bestimmter Finanzakteure untereinander und um die Folgen für den »Rest« der Gesellschaften. Am Verhalten und Wirken der Rating-Agenturen kann das sehr anschaulich verdeutlicht werden.

Auch wenn ich hilfsweise von »Globalisierung« spreche, meine ich nicht den behaupteten ungehinderten Austausch von Informationen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital, sondern den Realvorgang der bisher erreichten und weiter versuchten Welteroberung durch die westliche Kapitalmacht. Auch dafür bieten die Rating-Agenturen ein aufschlußreiches Anschauungsmaterial.

Ebenso verwende ich den Begriff des »Neoliberalismus«, weil er eingeführt ist. In Wirklichkeit sind jedoch die mit ihm bezeichneten Praktiken keineswegs ganz neu, und der Begriff »liberal« verharmlost deren Brutalität und den Verstoß gegen die Menschenrechte. Ein zutreffenderer Ausdruck dafür ist aber offensichtlich noch nicht gefunden; dies zeugt davon, dass die Analyse auch im übertragenen Sinn noch nicht »auf den Begriff gekommen« ist.

Für kritische Hinweise danke ich Renate Börger, Brigitte Evers und Elmar Wigand sowie Tabea Koepp, Johanna Tönsing und Michael Volkmer vom transcript-Verlag.
 



Fußnoten 1-7:


1 | Erster Anleger klagt in Deutschland gegen Ratingagentur, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 8.6.2010.

2 | Kanzlei KWAG: Ratingagentur Standard & Poor’s im Zusammenhang mit Lehman-Rating verklagt, in: Pressemitteilung 7.6.2010.

3 | www.unternehmensregister.de, Eintragung Standard & Poor’s Credit Market Services Europe Limited, gelesen 25.11.2011.

4 | Kanzlei KWAG: Prozessbetrug? Strafanzeige gegen Standard & Poor’s, in: Pressemitteilung 23.2.2011.

5 | Kanzlei KWAG: Klage gegen Standard & Poor’s zulässig, in: Pressemitteilung 28.11.2011.

6 | Rating-Agenturen haben mein Land zerstört, in: Spiegel Online 28.2.2011; Ärger für Moody’s & Co, in: junge welt 3.3.2011 (spanische Kläger); Riesige Gewinne in drei Minuten, in: Süddeutsche Zeitung 8.4.2011; www.stopspeculators.gr (griechische Kläger), gelesen 10.8.2011.

7 | Vgl. Jonathan Nitzan/Shimshon Bichler: New Imperialism or New Capitalism? Review XXIX, 1/2006, S. 1-86; Die kanadisch-israelische Forschergruppe hat ihren Ansatz zuerst durch detaillierte empirische Analyse der israelischen Wirtschaft und der besetzten palästinensischen Gebiete entwickelt, siehe dies.: The Global Political Economy of Israel. London 2002.

 

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