Regierung will Armut weg-definieren

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Regierung will Armut weg-definieren
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Regierung will Armut weg-definieren

von Fred Schmid c/o Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.

Jedes Jahr legt der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband seinen Armutsbericht samt Armutsatlas vor (⇒ s. PDF am Ende); diesmal mit Unterstützung weiterer Verbände wie das Deutsche Kinderhilfswerk, den Deutschen Kinderschutzbund und Pro Asyl. Die Unterstützung scheint notwendig, denn inzwischen positioniert sich das neoliberale Establishment aus Politik, Wissenschaft und Medien gegen die jährliche Bestandsaufnahme.

Angezweifelt wird nicht etwa die Qualität und Richtigkeit der Fakten, in Frage gestellt wird die Definition der Armut. Diese orientiert sich allerdings strikt an der EU-Konvention, wonach als relativ arm („armutsgefährdet“) gilt, wer ein Einkommen hat, das weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) beträgt.

Die Armuts-Schwelle beträgt danach in Deutschland derzeit für Alleinstehende 917 Euro im Monat; bei Alleinerziehenden mit einem Kind unter sechs Jahren 1192 Euro, bei einem Paar mit zwei älteren Kindern 2.109 Euro. Für den Redakteur des Handelsblatts ist „nicht zwingend arm“, wer mit weniger als diesen Einkommen auskommen muss. Professor Walter Krämer von der Uni Dortmund stufte die Darstellung der Verbände gar als „groben Unfug“ ein: die 60-Prozent-Schwelle messe nicht Armut, sondern Ungleichheit.

Diese Schwellen wollen die Kritiker des Wohlfahrtsverbands-Berichts nicht mehr als Armut wahrhaben. Denn die Beträge würden ja zum Leben reichen – zum rein physischen Überleben. Es ist der Versuch, den Armutsbegriff immer mehr in Richtung absoluter Armut zu verschieben, ihn letztlich darauf zu reduzieren. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, widerspricht dem energisch: „Man ist in diesem reichen Deutschland nicht erst dann arm, wenn man unter Brücken schlafen oder Pfandflaschen sammeln muss. Armut beginnt nicht erst dann, wenn Menschen verelenden“. Arm ist, wer aufgrund seines niedrigen Einkommens von der Gesellschaft abgehängt ist, nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann, ausgegrenzt ist.


Steigendes Armutsrisiko trotz Aufschwung

Hintergrund dieser Debatte ist die Tatsache, dass die Armut in Deutschland trotz guter Konjunktur, „Jobwunder“ und steigendem Reichtum auf hohem Niveau verharrt, in bestimmten regionalen und sozialen Bereichen sogar steigt. 12,5 Millionen Menschen, 15,4% (0,1% weniger als im Jahr 2013) der Bevölkerung, also jeder sechste bis siebte Bewohner Deutschlands war im Jahr 2014 arm; im Ruhrgebiet, dem größten Ballungsraum, ist es gar jeder fünfte.

 

        

Am höchsten ist die Armutsrate nach wie vor unter den Arbeitslosen: 57,6% – unter den Beschäftigten sind es nur 7,5%. Nach den Arbeitslosen sind Alleinerziehende am stärksten betroffen, mit 42%. Und stark zunehmend auch Rentner: 3,4 Millionen, gleich 15,6% – bei ihnen lag 2014 die Armutsquote erstmals über dem Durchschnitt.

Durch die Zuwanderung meist mittelloser Flüchtlinge, ihre ungenügende Integration und ihre Abdrängung in den Niedriglohnsektor, wird die Armut in Deutschland weiter wachsen. Nachvollziehbar, dass die Herrschenden sie am liebsten wegdefinieren und auf das absolute Existenzminimum reduzieren wollen. Der Armutsforscher Professor Christoph Butterwegge schreibt dazu: „Je krasser die Verteilungsschieflage bei Einkommen und Vermögen wird, umso mehr wächst das Bedürfnis, Armut in einem reichen Land auf Not und (Flüchtlings-)Elend zu reduzieren“ (Butterwegge S. 14,16). Sozialministerin Andrea Nahles hat bereits angekündigt, dass dem nächsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ein restriktiveres Begriffsverständnis zugrunde liegen wird. Butterwegge: „Im Unterschied zur absoluten Armut, der man auf karitativem Wege, das heißt mit Lebensmitteltafeln und Kleiderkammern, begegnen kann, erfordert die Bekämpfung der relativen Armut nämlich, den immensen Reichtum tatsächlich anzutasten“. Davon aber will die Regierung nichts wissen.
 

Die Herausgeber des Armutsberichts – Paritätischer Gesamtverband, Volkssolidarität (VS), Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W), Deutscher Kinderschutzbund (DKSB), Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV), Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte (bvkm), Deutsches Kinderhilfswerk, Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP), Pro Asyl – fordern einen sozial- und steuerpolitischen Kurswechsel, um die Armut zu bekämpfen. Ulrich Schneider: „Wer Armut bekämpfen will, kommt um Steuererhöungen bei denen, denen es sehr gut geht nicht herum“.

Für den 7. und 8. Juli 2016 kündigen die Herausgeber des Armutsberichts einen großen armutspolitischen Hauptstadtkongress an, zu dem bereits weitere Mitveranstalter wie u.a. der DGB gewonnen werden konnten.

Fred Schmid


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Quelle: Erstveröffentlicht am 26.02.2016 bei isw-München > Artikel.


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Bild- u. Grafikquellen:

1. Fast die Hälfte der berufstätigen Frauen hat jedoch keine Vollzeitstelle, sondern eine oder mehrere Teilzeitstellen, auch der immer noch wachsende Minijobsektor wird hauptsächlich von Frauen besetzt. Insgesamt geht also der Trend zu mehr Frauenbeschäftigung einher mit dem Trend zu schlechter bezahlter, deregulierter Arbeit: Vollzeitangestellte zu niedrigerem Lohn, weniger oder keine Sozialversicherungsleistungen. Problematisch ist diese Entwicklung v.a. für die wachsende Zahl allein erziehender Frauen. So wird Altersarmut auch künftig v.a. weiblich sein.  Foto: Wilhelmine Wulff - All Silhouettes / Quelle: Pixelio.de .

2. Plattenbau mit Balkon und "Spielplatz" am Stauffenbergplatz in Waren an der Müritz, Mecklenburg-Vorpommern. Foto: Thomas Kohler. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz. Attribution-ShareAlike 2.0 Generic (CC BY-SA 2.0).

3. Aus dem Mikrozensus 2014, der Bundesagentur für Arbeit und Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) zufolge ist die Kinderarmut in Bremen mit einer Quote von mehr als 33 Prozent noch immer am höchsten. Sachsen-Anhalt folgt auf dem zweiten Negativplatz (28,7 Prozent). Im Regierungsbezirk Düsseldorf leben 25,1 Prozent der Kinder und Jugendlichen in armen beziehungsweise einkommensschwachen Haushalten.

"Spielplatz" neben Kunibertskloster in Köln, Altstadt-Nord.. Foto: Marco Verch. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz. Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0).

4. SCHULE - ARBEITs(los) - TOD. Kapitalismus tötet. Immer mehr junge Menschen bleiben durch den Wegfall von Arbeitsplätzen und existenzsichernder Entlohnung auf der Strecke. Foto: Dr. Motte. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

5. "HOLEN SIE MENSCHEN VON DER STRASSE, BEVOR SIE EIN TEIL DAVON WERDEN." Foto: Christian Mayrhofer, Wien/A. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

6. Buchcover: Das Geld-Syndrom 2012 – Wege zu einer krisenfreien Wirtschaftsordnung; aktualisierte Neuausgabe, 2014 nochmals updated! (v. Helmut Creutz) ISBN 10: 3-8107-0140-8, ISBN 13: 978-3-8107-0140-4, Druck & Verlagshaus Mainz, Wissenschaftsverlag, Aachen, Euro 16,80.

"Warum werden die weltweit vagabundierenden Geldströme immer größer, weshalb reagieren die Kurse an den Aktien- und Vermögensmärkten immer hektischer und warum bekommen die Notenbanken Geldmenge und Kaufkraft nicht in den Griff? Vielleicht haben Sie sich das auch schon gefragt, vor allem angesichts der Ereignisse in den letzten zehn Jahren, wahrscheinlich aber auch, warum wir jedes Jahr unsere Wirtschaftsleistung steigern müssen und trotzdem die Staatsverschuldungen ständig zunehmen und ebenso die Scherenöffnung zwischen Arm und Reich? -

Helmut Creutz veranschaulicht auf verblüffende Weise, wie alle diese Fehlentwicklungen mit den Strukturen unseres Geldsystems zusammenhängen und bietet sinnvolle und kompetente Lösungsvorschläge. Helmut Creutz, geboren 1923, ein erfahrener Wirtschaftspraktiker und -analytiker, hat in zahlreichen Veröffentlichungen, Vorträgen und Seminaren seine wirtschaftsanalytischen Untersuchungen dargelegt. 1990 erhielt er einen Lehrauftrag an der Universität Kassel und wurde mehrfach für den Alternativen Nobelpreis vorgeschlagen. Eigentlich kann ich Helmut Creutz als den wichtigsten Lehrer meines Lebens bezeichnen. Ich denke, dass er einen Platz in der Geschichte unserer Evolution bekommen sollte."
(Prof. Dr. Margrit Kennedy, Steyerberg/A.).

AnhangGröße
PDF Icon Armutsbereicht - Die zerklüftete Republik - Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2014 - DEUTSCHER PARITÄTISCHER WOHLFAHRTSVERBAND GESAMTVERBAND eV - 52 Seiten.pdf9.62 MB
PDF Icon Armutsbereicht - Zwischen Wohlstand und Verarmung - Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2013 - DEUTSCHER PARITÄTISCHER WOHLFAHRTSVERBAND GESAMTVERBAND eV - 29 Seit.pdf1.76 MB
PDF Icon Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung - Ausgabe 4 - 2013 - Berichtszeitraum von 2007 bis 2011 im Einzelfall bis 2012 - 549 Seiten.pdf4.05 MB
PDF Icon Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung - Ausgabe 4 - 2013 - Kurzfassung 55 Seiten.pdf784.01 KB
PDF Icon Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung - Endbericht Februar 2013 - Aktualisierung der Berichterstattung über die Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland - 424 Seiten.pdf8.28 MB
PDF Icon Oxfam Hintergrundpapier 2016 - Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen - Wie ein unfaires Steuersystem und Steueroasen die soziale Ungleichheit verschärfen - 6 Seiten.pdf245.02 KB
PDF Icon Oxfam-Bericht 2016 - AN ECONOMY FOR THE 1 PERCENT - How privilege and power in the economy drive extreme inequality and how this can be stopped - 44 pages.pdf989.34 KB
PDF Icon Global Wealth Report 2015 - Winning the Growth Game - Bericht der Boston Consulting Group BCG - 38 Seiten.pdf739.71 KB
PDF Icon Thomas Piketty und die Verteilungsfrage - Analysen, Bewertungen und wirtschaftspolitische Implikationen für Deutschland - SE Publishing März 2015 - Verteilungsfrage_org.pdf2.86 MB
PDF Icon Vermögensungleichheit - Anhaltend hohe Vermögensungleichheit - Bericht 2014 - Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung.pdf615.87 KB