Rückkehr der Ideologien?
Vom Nutzen und Nachteil geschlossener Welterklärungs-Modelle
Wenn ich zunächst nur mein Gefühl beachte, dann hat der Begriff Ideologie für mich einen negativen Beigeschmack, so wie beispielsweise Egoismus, obwohl beide Begriffe an sich nicht grundsätzlich negativ sondern eher wertneutral sind, denn erst der Inhalt, mit dem sie gefüllt werden, läßt schließlich eine Bewertung zu.
Wenn ich (sach-orientiert) frage, ob die Ideologien zurückkehren, dann messe ich diesen einen größeren Wert bei, als ihnen eigentlich zukommt. Außerdem können Ideologien sich nicht eigenständig bewegen. Deshalb frage ich (menschen-orientiert): Nimmt das Verlangen nach Ideologien wieder zu? Damit wende ich mich den Ursachen der Fragestellung zu, nämlich dem Menschen mit seinem Bedarf nach geistiger Orientierung zur Herstellung und Sicherung seiner Identität sowie zur Motivierung seines Handelns. Ich denke, daß hiermit schon etwas deutlich wird, warum Ideologien allgemein so problematisch gesehen werden: sie werden zu sehr als Verursacher, denn als Symptome gesehen, der Mensch hingegen zu sehr als deren Opfer, denn als ihr Verursacher oder Nutzer.
Spätestens seit 1945, mit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, ist der Begriff Ideologie bei vielen in Verruf geraten, für jüngere Menschen spätestens seit der sogenannten Wende, dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus. Hier ist eine negative Bewertung verständlich, weil mit beiden Systemen die Humanität unterdrückt wurde. Das kann aber nicht für alle Ideologien gelten.
In Fremdwörterbüchern ist zu lesen: Ideologie = Ideenlehre, oder Gesamtheit der Anschauungen, auf die sich ein politisch, religiös oder philosophisch bedingtes Weltbild gründet. Im philosophischen Wörterbuch gibt es ziemlich lange Abhandlungen darüber. Es sind sicher auch ganze Bücher darüber geschrieben worden. Aber was fängt ein Durchschnitts-Mensch damit an? Er will oder soll ja Ideologien nicht zum Zweck wissenschaftlicher Arbeiten und damit mehr oder weniger zum Selbstzweck machen, sondern sie möglichst sich nützlich machen und anwenden, denn ohne geistige Orientierung kann er kaum eigenständig und sinnvoll leben.
Wer dies will, der braucht eine verständliche, geistige Vorstellung von der Welt und dem Menschen. Er braucht Welt-Bild, Welt-Anschauung, Welt-Sicht oder wie man es auch immer nennen will, aus dem sich auch eine anstrebbare Vorstellung, ein optimales Bild, ein Ideal vom Menschen und seinem Verhalten ergibt, an dem er sich orientieren kann, das ihm zu einer Identität und zur Motivation seines Handelns verhilft.
► Offenbarung oder Menschenwerk?
Woher kommt das negative Gefühl gegenüber den Ideologien? Da gibt es verschiedene Ursachen. Von Menschen, die religiösen Heilslehren anhängen, werden beispielsweise Ideologien, im Gegensatz zu göttlichen Offenbarungen, als Menschenwerk gering geschätzt, nicht wahrhaben wollend, daß logischerweise alle Erkenntnisse und Sinndeutungen entweder nur göttliche Offenbarungen oder aber alle nur menschlichen Ursprungs sein können. Jene Menschen dagegen, die sich von religiösen Heilslehren eingeengt fühlten und davon befreiten, sind und bleiben oftmals allergisch gegenüber ideell begründeten Erklärungen und Verpflichtungen.
Auch unser wenig menschenorientiertes Schulsystem hat seinen Anteil daran, daß mit dem Wort Lehre stets etwas Belehrendes verbunden wird, dem man sich nicht mehr als nötig aussetzen möchte. Dabei kann Lehre durchaus auch als Maß gesehen werden, das die Arbeit und die Verständigung erleichtert. So, wie wir im materiellen Bereich nicht mehr nach Finger- oder Handbreite messen, sondern einen Maßstab oder eine Schiebe-Lehre verwenden, genau so werden wir als erwachsene Menschen nicht nur unserem Gefühl folgen, sondern uns im geistigen Bereich ideeller Lehren und Wert-Maßstäbe bedienen, um ethisch sicherer zu handeln.
Daß die meisten Ideologien als "Ismen" erscheinen, ist für viele schon ein Grund zu ihrer Ablehnung. Hier wird verallgemeinernd die Form über den Inhalt gestellt und übersehen, daß "...ismen" oft nur auf eine ordnende Struktur hinweisen, wie beispielsweise beim Kubismus oder Rheumatismus. Selbst ein Dogmatismus (Dogma = verbindlicher Lehrsatz) oder ein Fundamentalismus (Grundlagentreue) verliert seinen negativen Charakter, wenn ihr Inhalt humanistisch ist.
Welt erklärende, Sinn gebende oder ethisch orientierende Ideologien lassen ihren Wert nicht schon durch die Form ihres Begriffs erkennen. Erst die auf den Menschen bezogene Prüfung, die Prüfung auf Nutzen oder Nachteil für die Menschlichkeit, ermöglicht eine vernünftige Beurteilung. Ideologien ethischer Kategorie werden um so nützlicher, je mehr sie den Menschen veranlassen, sich selbst als Teil der Natur zu erleben, den Sinn seines Lebens in seiner eigenen Vervollkommnung und der seiner menschlichen Gemeinschaft im Einklang mit dieser Natur zu sehen und die Realität menschlicher Begrenztheit zu akzeptieren. Ideologien werden dann umso nachteiliger, je mehr sie den Menschen von der Realität weg in Abhängigkeit zu sich oder deren Interpreten bringen.
Bisher wurden mit religiösen Heilslehren und auch mit materialistischen Welterklärungs-Ideologien ganz offensichtlich nicht die gewünschten Erfolge erzielt. Deshalb wäre es nun wohl dringend eines Versuches wert, eine ideologische Denkform anzuwenden, die ein Wachstum an Menschlichkeit ermöglicht, das den Menschen zu Mündigkeit und Unabhängigkeit, zu innerer Stabilität und Identität führt. So könnten alles Trennende und Ausgrenzende sowie irreale Heilserwartungen aufgegeben werden zugunsten einer Eigen- und Mit-Verantwortlichkeit und einer individuellen, direkten Verbundenheit zur Mitwelt. Eine solche Ideologie sehe ich in einem ganzheitlich verstandenen Humanismus, dem Ideal vom verantwortlichen Menschentum.
Humanismus ist ein Denken und Handeln, das sich an der Würde des Menschen orientiert und dem Ziel menschenwürdiger Lebensverhältnisse dient. |
Humanismus als übergeordnete Orientierung enthält und vereinigt in sich alle weiteren Werte. Humanismus ist streng liberal, Liberalismus dagegen nicht unbedingt human; Humanismus ist zwingend sozial, Sozialismus ist erfahrungsgemäß nicht immer human. Humanismus enthält alle christlich-ethischen Werte, wie auch die aller anderen religiösen Konfessionen. Christentum dagegen ist, wie viele andere religiöse Konfessionen, auch heute noch - wenngleich heute vielleicht weniger auffällig - viel zu oft inhuman (z.B. frühkindliche Erziehung zur Abhängigkeit von religiösen Heilmitteln). Humanismus fordert unbedingt ein ökologisches und auch gerechtes Verhalten. Ökologisch und menschenrechtlich orientierte aktive Idealisten hingegen verhalten sich nicht selten inhuman, weil das von ihnen praktizierte Teilgebiet nicht bündig in das übergeordnete Gebiet des Humanismus integriert ist. Materialistische und idealistische Ideologien werden erst dann sinnvoll, wenn sie sich unter einer humanistischen Ideologie vereinen.
Liberalismus ist die Freiheit, keine Gesinnung zu haben und zu behaupten, gerade das sei Gesinnung. Karl Kraus, Schriftsteller (1874 -1936) |
Das Bekenntnis zur humanistischen Orientierung ist sehr wichtig auch, um die Handlungen in den vielen verschiedenen speziellen Bereichen des Lebens nicht zum Selbstzweck werden zu lassen, sondern sie auf diese höhere Orientierung auszurichten. Teilbereiche der Kultur, wie beispielsweise Kunst und Literatur, werden nur zu leicht zum Selbstzweck, wenn ein übergeordneter ethischer Bezug fehlt. Sie werden zum Kunst- und Literatur-Betrieb, zum Geschäft. Sie wirken unterhaltend, ablenkend, beruhigend, aber nicht die Gesellschaft wirklich stabilisierend und weiterentwickelnd in Bezug auf mehr Humanität.
► Das Wachstum an Menschlichkeit beginnt im Einzelnen selbst
Für alle verantwortungsbewußten Menschen guten Willens, die für ein Wachstum an Menschlichkeit als Voraussetzung für Frieden und Freiheit sind, ist ein deutliches Bekenntnis zum Humanismus, dem Ideal vom universellen, verantwortlichen Menschentum not-wendig, um die eigene Identität nicht selbsttäuschend durch irreale und trennende Bekenntnisse, sondern durch ein reales, vereinendes Bekenntnis authentisch zu stabilisieren. Wachstum an Menschlichkeit beginnt wie der Friede im Einzelnen selbst. Jeder, dem heute noch ein separierendes Bekenntnis nötig erscheint, muß sich ehrlich fragen, warum er noch immer Abgrenzung braucht, anstatt seine Identität durch Verbundenheit auf höherer Ebene herzustellen und zu festigen.
Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, als Mensch? Gotthold Ephraim Lessing |
Deutschtum ermöglichte beispielsweise während der nationalsozialistischen Diktatur Unmenschlichkeit gegenüber dem Judentum, dieses ermöglicht heute Unmenschlichkeit gegenüber den Palästinensern, Christentum ermöglicht noch immer z.B. in Irland Unmenschlichkeit gegenüber Christen, und es schafft in einträchtiger Verbindung mit der Ideologie vom Wirtschaftswachstum in unserer Gesellschaft auch nicht gerade menschlichere Verhältnisse. Bleibt als letzte Stufe der Entwicklung - und wahrscheinlich auch als letzte Chance - noch der individuell beginnende und global orientierte Versuch mit dem Ideal vom positiven Menschentum.
"Die Begriffe, die man sich von was macht, sind sehr wichtig. Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann", sagte der Dichter Bertolt Brecht (1898-1956) Dem wäre hinzuzufügen: Begriffe sind Werkzeuge des Denkens, man muß sie nachschärfen, um gute Werke zu erzeugen.
Der Humanismus als Ideologie oder Welterklärungs-Modell hat den großen Nutzen, daß er den Menschen veranlaßt, sich zu einem sozial und ökologisch handelnden Gemeinschaftswesen zu entwickeln als Grundvoraussetzung stabiler Verhältnisse in Gesellschaft und Umwelt. Der Humanismus hat für manche allerdings auch einen Nachteil: Er fordert den Menschen zur Arbeit an sich selbst heraus. Aber gerade das könnte als reizvolle und sinnerfüllende Aufgabe des modernen Menschen gesehen werden.
Rudolf Kuhr
► Quelle: Humanistische AKTION für verantwortliche Menschlichkeit > Webseite > Artikel
► Buchtitel: "Wachstum an Menschlichkeit. Humanismus als Grundlage" > zur Vorstellung meines Buches
► Bildquelle:
1. Andreas Cellarius (* um 1596 in Neuhausen; † 1665 in Hoorn) war ein deutscher Astronom, Mathematiker und Kosmograph. Im Jahre 1660 veröffentlichte er seinen reich bebilderten Himmelsatlas, die Harmonia Macrocosmica, später oft auch als „Cellarius-Atlas“ bezeichnet. Das Bild zeigt Sternbilder des Südhimmels aus Cellarius' „Harmonia Macrocosmica“ von 1660/61.
Quelle: National Library of Australia / Wikimedia Commons. Dies ist eine originalgetreue fotografische Reproduktion eines zweidimensionalen Kunstwerks. Dieses Werk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.
"Menschlichkeit" ist mit Vorsicht zu genießen
Der Volksmund verbindet Menschlichkeit mit allen Aspekten, die in jeweils subjektiven Sinne als gut betitelt wird. Da die Worte "gut" und "böse" eindeutig relativ zu betrachten sind, macht eine subjektive Sichtweise auch Sinn.
Die eigentliche Definition von Menschlichkeit bezieht sich jedoch auf alles, was die Gesamtheit der menschlichen Verhaltensweisen ausmacht. Hervorgehoben werden dabei sehr häufig jene Eigenschaften, die den Menschen laut Definition einiger Wissenschaftler von den Tieren unterscheiden.
Bereits dabei stoßen wir auf immense Definitionsprobleme. In der Tierwelt sind sehr viele Eigenschaften zu beobachten, die auch bei sehr vielen Menschen erkennbar sind. Erst in den letzten Jahren wurden die sogenannten tatsächlichen Grenzen zwischen Menschen und Tieren immer verschwommener. Selbst Liebe lässt sich auf biochemische Prozesse reduzieren und bislang kann nicht mit Gewissheit gesagt werden, ob es bei einigen Tieren nicht vergleichbare Prozesse gibt. Auch der Gottesglaube muss keineswegs ein menschliches Merkmal sein. Wer will schon mit Gewissheit sagen, warum beispielsweise Wölfe den Mond anheulen. Einige behaupten, dass das Festhalten und generationsübergreifende Weitergeben von Wissen einzig menschlich ist. Dies würde bedeuten, dass die Menschen erst seit der Schrift Menschen sind. Auch die Kunst wird oft als einzigartige menschliche Eigenheit betitelt. Das Problem ist dabei, dass sich selbst die Gelehrten nicht einig sind, was Kunst genau ist, wo sie beginnt und wo sie endet.
Ein generelles Problem bei den Begriffen: Menschlichkeit und Humanismus – ist, dass es DIE MENSCHEN gar nicht gibt. Dies zeigt sich sehr deutlich an den gesellschaftlichen Unterschieden. Praktiken, die in einer Gesellschaftsform oder Gruppe als völlig normal und akzeptabel betitelt werden, können in einer anderen Gesellschaftsform oder Gruppe als absolutes Tabu betrachtet werden. Diese Differenzen sind global zu betrachten.
Es ist somit unmöglich, Menschlichkeit und Humanismus als allgemeingültige Begriffe zu betiteln. Wie bereits erwähnt, sind auch die Worte "gut" und "böse" absolut relativ zu betrachten.
⇒ Was bleibt uns dann übrig, wenn wir derartige Themen diskutieren wollen?
Wir müssen unsere Definitionen sehr eng und ganz genau auf die jeweiligen Gruppen beziehen, auf diese bestimmte Merkmale, Ansichten und Überzeugungen usw. zutreffen und von anderen differenzieren. Wenn wir dies vernachlässigen, dann ist der Aussageinhalt nicht korrekt definiert. Wenn wir bestimmen wollen, was als human angesehen werden kann, dann kann dies nur innerhalb einer Gruppe durch eine Abstimmung erfolgen. Dabei bleibt dann jedoch im Falle der Uneinigkeit eine Minderheit zurück, die eine oder mehrere verschiedene Sichtweisen hat.
Als ich am Ende des letzten Jahres damit begann, meine Systemthese bezüglich des Retribuoismus zu formulieren, konnte ich auch sehr schnell erkennen, dass es kein System gibt, das allen gleichfair erscheinen kann. Das Optimum ist ein System, das der weit überwiegenden Mehrheit gerecht wird.
Leider gibt es bei sehr vielen Begriffen und Aussagen die erwähnten Definitionsprobleme. Allein die Aussage: „Die Würde des Menschen ist unantastbar ...“ wirft die Frage auf, was denn diese Würde überhaupt ist. Das, was ein Individuum für sich als würdig betrachtet, kann ein anderes als unwürdig ansehen.
Viele mir bekannte Menschen betonen gern, wie korrekt die deutsche Sprache ist. Tatsache ist, dass sie es in vielen Fällen nicht ist und dass wir bei vielen Definitionsversuchen sehr schnell in Formulierungsnot kommen, weil sehr viele Begriffe nicht verallgemeinerbar sind und dadurch Probleme bei der Korrektheit der angestrebten Aussage verursachen.
Die Physik lehrt uns: Je länger der Hebel, desto geringer der Kraftaufwand.
Jene, die Hebel mit verschiedener Länge herantragen, werden dies anders beurteilen.