Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas (HANS M. ENZENSBERGER)

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Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas (HANS M. ENZENSBERGER)
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Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas


Autor:  Hans Magnus Enzensberger

Verlag: Edition Suhrkamp (März 2011) - zur Verlagsseite

ISBN:  978-3-518-06172-5

Broschur, 73 Seiten, [D] 7,00 € - [A] 7,20 € - [CH] 10,50 sFr


Europa ist derzeit in aller Munde. Mißtrauen herrscht gegen die fernen Institutionen in Brüssel. Was, fragen sich immer mehr Europäer, treiben unsere weithin unbekannten Vormünder hinter verspiegelten Fassaden, meist verschlossenen Türen und mit einer höchst fragwürdigen Legitimation?

In einem Essay hat sich Hans Magnus Enzensberger der Aufgabe gestellt, zur Aufklärung über die Gebräuche und Spielregeln beizutragen, mit denen das Europa von ‚Brüssel’ uns zu regieren beansprucht: lakonisch und treffsicher, wohlinformiert und bissig, dabei um Gerechtigkeit bemüht, denn das Monster, dem er ins Auge blickt, ist nicht immer nur furchterregend, sondern auch sanft. Dennoch muß der Leser Nebenwirkungen in Kauf nehmen.


Inhalt:


I - Lob & Preis . . . . . . . . . . . . . . .  7

II - Sprachregelungen . . . . . . . . . . . . . . .  11

III - Die Marotten der Kommission und die ihrer Kritiker . . . . . . . . . . . . . . .  16

IV - Einblicke in die Chefetagen . . . . . . . . . . . . . . .  24

V - Esprit de corps . . . . . . . . . . . . . . .  31

VI - Die halbvergessene Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . 36

VII - It’s the economy, stupid! . . . . . . . . . . . . . . . 43

VIII - Der Eintritt in ein postdemokratisches Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . .  50

IX - Eine Unterhaltung zwischen A, Monsieur de *** aus der Kommission, und B, dem Verfasser, in der Fattoria del Chianti an der Brüsseler Rue Archimède . . . . . .  62

Einige Quellen . . . . . . . . . . . . . . .  71


Leseprobe aus Kapitel II Sprachregelungen:

Bekanntlich gibt es keine Regierung, die ohne Propaganda auskäme, auch wenn dieser Begriff nicht gern gehört wird; man spricht heute lieber von »verbesserter Kommunikation«. Auch die Europäische Union läßt es daran nicht fehlen. Schon vor Jahren hat sie kräftig in Werbefilme und Internetportale investiert. Mit fünf Millionen Euro jährlich subventioniert sie den Sender Euronews und mit sechs das weithin unbekannte Radionetzwerk Euranet. Auch das Europaparlament gönnt sich einen eigenen Fernsehkanal namens Europarltv, den es sich zehn Millionen kosten läßt, obwohl er nur wenige Zuschauer hat. Vieles, was es dort zu sehen und zu hören gibt, erinnert an Hofberichterstattung. Die Selbstkritik ist nicht die starke Seite unserer Wächter.

Die Kommission versteckt gewohnheitsmäßig die nationalen Beiträge zum EU-Haushalt in ihrem Budgetbericht, »weil Antieuropäer die Zahlen mißbrauchen könnten«. Wer zuviel darüber wissen will, gilt als Feind. Der Fédération de la Fonction Publique Européenne, einer Interessenvertretung der Beamtenschaft, die sich nach Brüsseler Brauch mit dem Akronym FFPE schmückt, geht die Geheimniskrämerei noch nicht weit genug. Sie hat unlängst in einem offenen Brief gefordert, daß die Kommission eine »mit den notwendigen Mitteln ausgestattete Spezialzelle« einrichten möge, »um auf all die schändlichen Attacken zu reagieren, die das Personal der EU zum Prügelknaben machen«. Schuld an solchen verleumderischen Angriffen seien »von antieuropäischen Lobbys gelenkte Medien«.

Dieses ganze PR-Theater verdankt sich nicht nur der gekränkten Eitelkeit der Beamtenschaft. Es dient auch dazu, einen endemischen Mangel des Integrationsprojektes zu kompensieren. Denn es ist eine schmerzliche, aber unbestreitbare Tatsache, daß bis auf den heutigen Tag eine europäische Öffentlichkeit, die diesen Namen verdienen würde, nicht existiert. In der Sphäre der Medien ist immer noch jedem Land das Hemd näher als der Rock. Auch deshalb sind die Auskünfte, die uns aus Brüssel erreichen, nur mit Vorsicht zu genießen: je dünner die Legitimität, desto dicker der Glibber der PR.

In dieser ungemütlichen Lage wächst für die Behörde die Versuchung, die Meinungsbildung selbst in die Hand zu nehmen. Hierzu leisten, im Gegensatz zu Wahlen oder gar Abstimmungen, die allen, die an der Macht sind, eher lästig fallen, Umfragen gute Dienste, wenigstens solange ihre Ergebnisse so ausfallen, wie es dem Auftraggeber gefällt.

»Die Lösung ist mehr Europa«, tönt es aus dem Büro der Vizepräsidentin, der die Kommunikation besonders am Herzen liegt. Sie beruft sich auf die Ergebnisse einer Umfrage, die sich Euro-Barometer nennt und in ihrem Auftrag zweimal jährlich erhoben wird. Sie sind für die Kommission sehr günstig ausgefallen. »92 Prozent stimmen der These zu, daß die Arbeitsmärkte modernisiert werden müssen und daß die Unterstützung Armer und sozial Ausgegrenzter Vorrang hat. 90 Prozent wollen eine Wirtschaft, die weniger Rohstoffe verbraucht und weniger Treibhausgase verursacht.« Ein traumhaftes Ergebnis, das sich sicher noch steigern ließe, hätte man die Leute gefragt, ob sie für Krieg oder Frieden, für Siechtum oder gute Gesundheit und für Lohndumping oder für kräftige Tarifabschlüsse eintreten möchten.

Weniger triumphal sieht es aus, wenn man anderen demoskopischen Auskünften glaubt. Danach sehen nur noch 49 % der Europäer die Mitgliedschaft ihres Landes positiv, und nur noch 42 % der Bürger schenken den EU-Institutionen ihr Vertrauen.

Das liegt nicht zuletzt an dem Sprachgebrauch, der dort herrscht. Selbst der Vertrag von Lissabon, ein Verfassungs-Ersatz, der als Rechtsgrundlage der Union dient, zeichnet sich dadurch aus, daß seine Lektüre auch den gutwilligsten europäischen Bürger vor unüberwindliche Schwierigkeiten stellt. Er gleicht einem unpassierbaren Drahtverhau. Abschnitte wie der folgende können nur der Abschreckung dienen:

»Im gesamten Vertrag werden die Worte ›Gemeinschaft‹ oder ›Europäische Gemeinschaft‹ ersetzt durch ›Union‹, die Worte ›Europäische Gemeinschaften‹ oder ›EG‹ oder gegebenenfalls ›Europäische Wirtschaftsgemeinschaft‹ durch ›Europäische Union‹, der Wortbestandteil ›Gemeinschafts‹- durch ›Unions‹- und das Adjektiv ›gemeinschaftlich‹ durch ›der Union‹, außer in Artikel 299 Absatz 6 Buchstabe c, wo der Artikel 311a Absatz 5 Buchstabe c wird. In Artikel 136 Absatz 1 betrifft die vorstehende Änderung nicht das Wort ›Gemeinschaftscharta‹

Daß es selbst Verfassungsjuristen schwerfällt, diese Prosa zu verstehen, kann kein Zufall sein. Leider ist anzunehmen, daß dies ganz im Sinne ihrer Urheber ist. Als in Irland 2008 über den Vertrag abgestimmt werden sollte, meinte der Ire Charlie McCreevy, der das Land in der Kommission vertrat, von den 4,2 Millionen Einwohnern hätten kaum 250 das Werk gelesen, und nicht einmal 25 von ihnen hätten es verstanden. Der Ausgang des Referendums ist bekannt.

Ein Vergleich mit dem Text der amerikanischen Verfassung zeigt, daß hier nicht nur mit der Sprache Schindluder getrieben wird. Schon der schiere Umfang des Dokuments spricht für sich. Es ist über 200 Seiten stark und wurde nur übertroffen von dem gescheiterten Verfassungsvertrag von 2004, einem Wälzer von 419 Seiten. »Dagegen unser Europa!« heißt es bei Gottfried Benn. »Viel Nonsens, Salbader: ›Die Wahrheit‹, Lebenswerk, 500 Seiten – so lang kann die Wahrheit doch gar nicht sein!«

Andere Sprachregelungen überraschen durch ihre historische Taubheit. Die Exekutive der Union, die darüber hinaus in fast allen Bereichen das alleinige Initiativrecht für die Rechtsetzung besitzt und als »Hüterin der Verträge« die Einhaltung des Europarechts durch die Mitgliedstaaten überwacht, besteht nicht aus Ministern, sondern aus Kommissaren. Man darf bezweifeln, ob den Erfindern dieses Begriffs aufgefallen ist, welche Assoziationen sich in Europa mit ihm verbinden. Abgesehen davon, daß man darunter in manchen Ländern einen ermittelnden Polizisten versteht, handelt es sich um eine politisch schwer belastete Amtsbezeichnung. Volkskommissare gab es zwischen 1917 und 1946 in der Sowjetunion; politische Kommissare sorgten in der Roten Armee für die Einhaltung der Parteilinie; Reichskommissaren wurden in Deutschland von 1871 bis 1945 große Machtbefugnisse übertragen, und nach dem Überfall auf die Sowjetunion hielten von 1941 bis 1944 die Reichskommissariate Ostland und Ukraine das Heft in der Hand. Daß die Gründer der Union sich auf diese ebenso naheliegenden wie ominösen Erinnerungen nicht besonnen haben, spricht natürlich nicht gegen ihre wohlmeinenden Absichten; es zeugt nur von ihrer Geschichtsvergessenheit.

Merkwürdige Töne schlagen auch Verlautbarungen der Behörde an, die sich, wie der folgende Text, durch ihren autoritären Duktus auszeichnen: »Die Durchsetzungsmaßnahmen direkt nach der Inkraftsetzung der Rechtsvorschriften sind entscheidend für deren Erfolg und für den Erfolg der zukünftigen Überwachung und Durchsetzung … Sobald die aktive Durchsetzung beginnt, wird … empfohlen, eine aufsehenerregende Strafverfolgung zu betreiben, um die abschreckende Wirkung zu verstärken.« Diese Drohungen stammen nicht, wie man vermuten könnte, aus der Kriegssonderstrafrechtsverordnung des Deutschen Reiches aus dem Jahr 1938 oder aus dem Arsenal der hingeschiedenen DDR, sondern aus einer ganz harmlosen Empfehlung des Rates der Europäischen Union, die sich im interinstitutionellen Dossier Nr. 2009/0088 findet und sich auf insgesamt 24 Seiten schlicht und einfach um rauchfreie Umgebungen bemüht zeigt. Die Kommission erklärt, daß sie sich gezwungen sieht, zu drakonischen Mitteln zu greifen, da sich »freiwillige Regelungen auf nationaler Ebene als unwirksam erwiesen haben«.

Ihre Anstrengungen sind nämlich auf »die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, die Verhütung von Humankrankheiten und die Beseitigung von Ursachen für die Gefährdung der menschlichen Gesundheit gerichtet«. Dagegen kann nur etwas einzuwenden haben, wer vom Todestrieb besessen ist. Es gibt in Brüssel einen eigenen Kommissar, der sich allerdings nicht nur um solche Fragen kümmert. Daß er Dalli heißt, mag ihn beflügeln, tut aber nichts zur Sache. Auch daß er Zigaretten, wie einst pornographische Bücher oder Kondome, nur noch in diskreter Verpackung und unter dem Ladentisch verkauft sehen möchte, um die sittlich gefährdeten Europäer vor sich selbst zu schützen, erinnert zwar an die Zeiten des Absolutismus, an die sexuellen Zwangsneurosen der katholischen Kirche und an die »Bückware « der hingeschiedenen DDR, verwundert aber kaum. Verblüffender ist jedoch, daß er von 650 000 Europäern spricht, die, wie er meint, Jahr für Jahr durch das Rauchen getötet werden. Das mutet wie ein statistisches Mirakel an; denn vor ein paar Jahren soll die Zahl genauso hoch gewesen sein, obgleich der Konsum des fraglichen Krautes seither drastisch gesunken ist. (Ein ähnliches Wunder hat die Kommission mit ihrer Kampagne gegen den Feinstaub vollbracht, als sie behauptete, diesem tückischen Feind fielen alljährlich 310 000 Bürger zum Opfer.) An ein generelles Verbot von Handfeuerwaffen und von Motorrädern, die bekanntlich ebenfalls die Mortalität steigern, hat die Kommission nicht gedacht. Lieber folgt sie in diesem Punkt dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika, wo man an jeder Straßenecke eine Maschinenpistole erwerben, aber keine Zigarette rauchen darf.


Pressestimmen:


»Hans-Magnus Enzensberger legt in seinem politischen Essay Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas den Finger auf die vielen Wunden - die EU-Eliten würden von Errungenschaften sprechen - die der Demokratie bereits großen Schaden zugefügt haben. Bürgerferne, Selbstherrlichkeit und Ignoranz gegenüber gewachsenen historischen Tatsachen sind nur einige der Vorwürfe gegen Brüssel. Regelungswut und ein mehr als fragwürdiges Verhältnis zu demokratischen Spielregeln sind darüber hinaus das Kennzeichen der von der Wirklichkeit anscheinend nicht berührten EU-Bürokraten.

Wer Europa will, der muss es gegen die diese Europäische Union schützen, so die knappe aber eindringliche Botschaft an den Leser. Nun ist Enzensberger ein Mann der leisen Töne und seine Darstellungen bieten für den politisch Interessierten nichts wesentlich Neues und doch ist sein Essay die zusammenfassende Zustandsbeschreibung einer selbst ernannten Elite, die sich längst von den Interessen der Bürger abgehoben hat, und die gerade aus diesem fatalen und falschen Bewusstsein heraus meint, unangreifbar und, viel schlimmer noch, unfehlbar zu sein. «

- Buchkritik bei inkultura-online.deweiter 

DER SPEGEL 9 / 2011 - Sanftes Monster Brüssel – weiter  

FAZ - Enzensbergers Brüssel-Polemik Die Bürokratie frisst ihre Bürger – weiter

»Dieser Essay unterschlägt nicht die Positiva, die durch das Näherrücken gewonnen wurden – die niemals belastete Ära friedlicher Nachbarschaft, die Erleichterungen für Verkehr und Wissenstransfer, die Kulanzen im Handelsgeschäft. Doch er warnt eindringlich und hier auf den Spuren von Hannah Arendt vor dem Moloch der Bürokratie, der die Komplexität reduzieren will und dabei immer weitere Komplexitäten schafft.«
- Martin Meyer, Neue Zürcher Zeitung

»Wer sich angesichts des Titels eine hitzige Streitschrift gegen „die in Brüssel“ erwartet, wird enttäuscht werden. Enzensberger nähert sich seinem Gegenstand mit wohl tuender Ausgewogenheit, Redseligkeit und Nüchternheit, trotzdem ist der Text äußerst witzig geschrieben. … So kompakt Enzensbergers Text geraten ist, so dicht ist er mit höchst informativen Häppchen angereichert, die das Lesevergnügen erheblich steigern. … Enzensberger ist ganz offenkundig kein dumpfer EU-Gegner, sondern eher ein enttäuschter Liebhaber einer großen Idee, die von der real existierenden Union nur allzu oft veruntreut wird. Er dürfte damit nicht ganz allein sein.«
- Christian Ortner, Wiener Zeitung


Informationen über den Autor Enzensberger bei Wikipedia - weiter

 

Bild des Benutzers Marie-Luise Volk
Marie-Luise Volk
Offline
Verbunden: 28.10.2010 - 13:29
Hans Magnus Enzensberger


Wenn jemand wissen möchte, wer welche Fäden gezogen hat, mit denen sie uns die Luft zuschnüren, der möge sich mit diesem Büchlein in eine Ecke verkriechen und die geschichtlichen Hintergründe der Brüsseler Ungeheuerlichkeiten nachlesen. Hans Magnus Enzensberger hat einen tollen Beitrag geleistet. Mit seiner ironisch-feinsinnigen Art kriegt die aufgestaute Wut ihr Sahnehäubchen.

Ich kann das Büchlein wärmstens empfehlen. Besonders für abgehobene Europaabgeordnete, die immer noch glauben, sie können Subsidiarität ins Gegenteil verkehren.

 

 

 

 

 

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