Schlafwandler hellwach: Wie Deutschland in die Ukraine hineingezogen wurde

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Wolfgang Blaschka
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Verbunden: 09.11.2010 - 02:16
Schlafwandler hellwach: Wie Deutschland in die Ukraine hineingezogen wurde
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Schlafwandler hellwach:


Wie Deutschland in die Ukraine hineingezogen wurde


Hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg haben die Historiker Hochkonjunktur. Schließlich muss ein für allemal aufgeklärt werden, wie es zum Weltkrieg überhaupt kommen konnte, weil man ja durch den Zweiten auch nicht viel schlauer geworden ist. Einen Dritten mag sowieso niemand mehr, weil den Ersten doch auch schon keiner gewollt hat und der Zweite so verheerend war. Eigentlich mochte Weltkriege noch nie jemand, schon gar nicht in den Nationen, die sie desaströs verloren haben.

Die Deutschen haben das tatsächlich zweimal geschafft, und daher die Schnauze zwei für allemal voll von Weltkriegen. Da tun sich Australier leichter. Sie stecken ihre Schnüffelnase tief in den Giftgastopf und fördern so manches zutage, was bisherige Historiker-Generationen für zu unbedeutend gehalten hatten, um es zur Ursachenforschung heranzuziehen. Doch tiefgründige politische und ökonomische Hintergrundforschung ist schwierig und aufwendig, sie könnte überdies unangenehme Tatsachen zutage fördern – und schmerzhaft ins Auge stechende Parallelen im Verhalten imperialer Eliten, was Feindbild-Pflege anbelangt.

Außerdem wissen wir längst, dass niemand Weltkriege so verabscheut wie die Deutschen. Also können sich heutige Forscher getrost eher dem phänomenologisch Nebensächlichen widmen. Sowas lesen die Leute auch viel lieber. Christopher Munro Clark ist solch ein Bestseller-Autor, der kein noch so banales Detail auslässt, um seine Schwarte auf über 600 Seiten aufzupolstern: "Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog". Als wären die imperialen Mächte leicht verträumt und eigentlich unabsichtlich ins erste industriell angerichtete "Stahlbad" der Menschheitsgeschichte gestolpert, ohne die tödlichen Folgen zu überreißen. So schreibt sich leicht verdauliche "History to go": Gerade das Periphere und Persönliche gibt Butter bei die Fische.

Wer könnte etwa dem britischen Außenminister Sir Edward Grey mangelndes Augenmaß ankreiden, dem es doch während der Juli-Krise 1914 wegen eines Augenleidens immer schwerer fiel, "beim Squash den Ball zu verfolgen", wo er nicht einmal mehr in der Lage war, mit bloßem Auge "nachts seinen Lieblingsstern" am Firmament zu identifizieren?! Wer wollte dem Außenminister der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie Leopold Graf Berchtold seine aus persönlichen Gründen kompensierende harte Haltung ankreiden, wenn man weiß, dass es sich bei ihm um einen "verweiblichten Grafen" handelte, der freilich mit einer Frau verheiratet war, die zu den Freundinnen der Gattin des Thronfolgers zählte?! Konnte der denn anders als Stärke vorzuschützen?

Solcherlei erhellende Bonmots finden sich haufenweise in Clarks Schmöker. Da verblassen die nüchternen Fragen nach den gesellschaftlichen Wurzeln für das aus imperialistischer Konkurrenz entfesselte Massenschlachten beinahe zwangsläufig.

  • Was sollen trockene Hinweise auf die ökonomischen und sozialen Strukturen..oder die immer stärker die Außenpolitik bestimmenden Wirtschaftsinteressen denn mehr erklären als die saftigen Entscheidungsprozesse der politisch verantwortlichen Männer mit ihren jeweiligen persönlichen Motiven und Lebenslügen?
  • Haben Majestät gut geruht?
  • Haben die Herren Diplomaten bekömmlich gespeist?
  • Haben die miteinander versippten und verschwägerten Monarchen Europas etwa nicht ihr Bäuerchen gemacht?
  • War es im Juli 1914 einfach zu heiß?

Also, das ging ungefähr so: Deutschland, im Schatten der Weltmächte, wollte auch einen Platz an der Sonne. Wer wollte das nicht?! Heutzutage werfen deutsche Urlauber einfach mit Handtüchern, um sich Liegestühle zu reservieren. So einfach ging das damals nicht. Wenn Boxer-Trainer das Handtuch werfen, bedeutet das Aufgabe, sprich Kapitulation. So etwas kam für ein deutsches Kaiserreich natürlich nicht in die Tüte. Also warf man den Fehde-Handschuh, als sich die Gelegenheit dazu bot.

Heute hieße das "rote Linie", im Nachhinein definiert. Man lässt sich doch nicht so einfach die Thronfolger, auch wenn es nicht die eigenen sind, aus dem offenen Wagen abschießen von serbischen Nationalisten! Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galten Angriffskriege offiziell noch nicht einmal als per se völkerrechtswidrig, am Ende schon – dank der Erfahrungen, welche die Welt mit Deutschland gemacht hatte. Das meinte damals eben den Verbündeten drängen zu müssen, "endlich" mal etwas zu tun. Irgendwas musste doch getan werden – wie auch 1999 wieder. Ist doch wohl logisch. Inzwischen drängt es sich selbst vor, da auch Österreich durch die Weltkriege empfindlich kleiner geworden ist. Die Drängelei hat nie aufgehört.

Deutschland, mitten auf dem europäischen Kontinent gelegen, platzte aus allen Nähten vor Wirtschaftskraft und wollte endlich auch ein bisschen Seegeltung für den Überseehandel erlangen. Sonnenklar. Also flott eine Flotte aufgebaut! Konnte es denn Sünde sein, wenn die deutsche Schwerindustrie im Bunde mit Militärs und Banken einen "Deutschen Flotten-Verein" als "modernen Interessensverband" in engster Kooperation mit dem Reichsmarineamt installierte, um mit allen verfügbaren und gebotenen Instrumentarien der Öffentlichkeitsarbeit den Deutschen einzutrichtern, dass es ohne Schlachtschiffe einfach nicht gelänge, einen "Platz an der Sonne" zu erobern? Wie sonst sollte man denn dorthin gelangen, lagen doch die letzten noch unbesetzten Sonnenplätze rund um den Globus weitab verstreut!

Kolonien wollte das zu spät und daher zu kurz gekommene Deutschland auch, aber die besten waren schon fast alle vergeben. Da gab es mit den etablierten Kolonialmächten Zank und Hirschereien, klar doch. Und zu allem Überfluss gab es dann auch noch diese fiesen Bündnissysteme, die jeden klitzekleinen Konflikt beinahe automatisch eskalierten. Das war schon gemein: Die beiden verbliebenen "Mittelmächte" (Italien sah sich getäuscht und verließ den Dreibund gerade noch rechtzeitig vor Kriegsbeginn) standen allein gegen den Rest Europas. Irgendwie ungerecht! Wo doch alle nur das Eine wollten: Sich die Welt unter den Nagel reißen, damit Friede über den Kolonialreichen herrsche und Ruhe zwischen deren Untertanen.

Nicht dass man den Krieg deutscherseits nicht schon seit langem gesucht und herbeigeredet hätte! Schon 1905 wollte der deutsche Generalstabschef Alfred Graf von Schlieffen mit seinem genialen "Sichelschnitt"-Schlachtplan durch das neutrale Belgien hindurch Paris für einen europäischen Frieden auf höchstem Niveau einnehmen: "Die einzige Lösung sehe ich in einem sofortigen Krieg mit Frankreich". Doch noch fehlte es an einem passenden Vorwand und genügend Munition, nicht zuletzt auf dem Gebiet der Meinungsbildung. Sein Nachfolger Helmuth von Moltke gab 1912 mahnend zu bedenken: "Die Popularität eines Krieges gegen Russland sollte in der Presse besser vorbereitet werden." Da galt es die Rüstungslücke des Zarenreichs zu nutzen und ihrer Schließung schleunigst zuvorzukommen. Die dazu notwendige Kriegsbegeisterung unter der Bevölkerung entfachte dann die Sozialdemokratie, um nicht ein weiteresmal kalt beiseite gestellt und als "vaterlandslose Gesellen" verachtet zu werden. Die deutschen Arbeiter sollten ihren russischen Klassenbrüdern gegen den zaristischen Despotismus zu Hilfe eilen, hieß es.

Schon im Oktober 1913 gedachte der deutsche Kaiser Wilhelm II. gegen den bis heute dämonisierten "Schurkenstaat" Serbien loszuschlagen: "Die anderen sind nicht bereit, sie werden nichts dagegen unternehmen. In ein paar Tagen müsst ihr in Belgrad stehen", ermunterte er den österreichischen Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf. Aber das war wohl nur so dahin gesagt im somnambulen Höhenrausch. Noch war der k.u.k. Thronfolger Ferdinand nicht tot. "Serbien muss sterbien" war nur so populistisches Gestammel, versteht sich. Schwamm drüber!

Wie in Trance stolperten also die europäischen Mächte, in Beistandspflichten verstrickt, beinahe irrtümlich verblendet in die blutigen Grabenkämpfe, folgte man mindestens ebenso transusig den Historikern vom Schlage Clark, dem freilich viele seiner Kollegen deutlich widersprechen. Dennoch wird er trotzig von der Mainstream-Presse gehyped, wo doch seine Thesen so nahtlos in die Zeit – und den aktuellen politischen Akteuren ins Konzept - passen. War doch die Ukraine als Staatsgebilde von Anfang an ein Konstrukt des deutschen Generalstabs, dazu ausersehen, Russland zu schwächen. Das gelingt heute wieder problemlos.

Es war schon mal schwieriger – damals, als es auch das Begehr der Wehrmachtsführung im zweiten Welteroberungsversuch war, aus dem "Reichskommissariat" den Weizen zur Truppenverpflegung zu rauben. Das ging bekanntlich in die Hosen. Die uralte deutsche Tradition des Drangs nach Osten jedoch überdauerte die Zeiten und fand nach der Osterweiterung der EU neue Nahrung in der "orangen Revolution" und Chancen mit der nationalistischen Aufwallung am Maidan. Man entsandte sogar eigenes Personal zur Befeuerung der Straßenschlachten, einen von der Konrad-Adenauer-Stiftung finanzierten abgehalfterten Star-Boxer, der zuletzt allerdings doch das Hand warf und sich mit dem Bürgermeister-Posten von Kiew zu bescheiden wusste – zugunsten der Präsidentschaft von Schokoschenko, dem süßesten Oligarchen, seit es die Ukraine gibt. Zwei “Diplomatenberichte” von der Plattform WikiLeaks Public Library on US Diplomacy zeigen, dass der neu gewählte Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, ein Agent des US-Außenministeriums war. Eine vertrauliche Nachricht der US-Botschaft in Kiew vom 29. Apil 2006 erwähnt den neu gewählten ukrainischen Präsidenten zweimal. (⇒ Quelle: Konjunktion.info)
 

Die Personalisierung der Politik als Methode der Vertuschung von handfesten Interessen erlebt ihre Renaissance nicht nur im Europa-Wahlkampf, wo Wähler mit Scheingefechten zwischen Schulz und Juncker geködert werden sollten, sondern auch in der Dämonisierung Putins als neuem Zaren. Herrschsüchtig, großmäulig, kraftstrotzend homophob und annexionsgeil wird der Kreml-Chef präsentiert, was er durch Selbstinszenierungen durchaus zu befördern trachtet. Sollen die im Westen ruhig zittern, scheint er zu kalkulieren. Und seine Rechnung geht auf. Allerdings mit dem dortigen publizistischen Hintergedanken, dass gegen so einen Macho die eigenen derben Schweinereien und ebenso kühl kalkulierten Kraftmeiereien umso gnädiger verblassen. Keiner will einen Krieg – iwo! Außer dem "Iwan" vielleicht, wer weiß. Die alten Ressentiments vom "asiatischen Schlitzauge" funktionieren nach wie vor prächtig, man muss sie gar nicht dezidiert aussprechen. Sie sprechen subkutan an.

Was wäre denn, wenn Putin den Spieß umdrehte und seinerseits anfinge, Sanktionen anzudrohen? Selbstverständlich in wohldosierten Stufen und ohne Automatismen: Gaslieferungen nur noch bei Barzahlung in Vorkasse! Dann ein generelles Einfuhrverbot für ukrainische Pralinen! Schon die Forderung nach Abzug der NATO-Truppen aus Polen wäre für den Westen eine blanke Zumutung. Gleich gar, wenn er 5 Milliarden Dollar investierte, um in Deutschland einen bewaffneten Aufstand gegen NSA und BND zu provozieren. Wenn er Mexiko ein exklusives Assoziierungsabkommen mit der geplanten eurasischen Freihandelszone anböte? Oder Spezialsöldner nach Kuba schickte, um Guantanamo zu besetzen und die Gefangenenkäfige niederzureißen? Das wäre er dann vermutlich, der Dritte Weltkrieg, den keiner wollte. Steinmeier wäre der Erste, der nach einer neuerlichen Landung von US-Truppen krähen würde, diesmal bitte an einer Obama-Bay gleich hinter Heringsdorf an den Gestaden der Ostsee. Natürlich nur, falls Poroschenko um Hilfe rufen sollte. Aber im Drängeln hat man ja Erfahrung.

Wolfgang Blaschka, München
 



Quelle:  Erstveröffentlicht bei isw München e.V. (Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.)X

Bild- und Grafikquellen:

 

1. "Wo bitte geht`s denn hier zur Ukraine?" Schlafwandler-Grafik: Bearbeitung WOB

2. Protest anläßlich einer Buchlesung in München. Foto: Franz Gans

3. Wladimir Putin and Russian bear vs. USA, NATO and EU. Grafik: David Deese, commercial artist, Oregon/USA. > Webseite > Infos zu David Dees