Sozialistischer Humanismus

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Peter Weber
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Sozialistischer Humanismus
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Sozialistischer Humanismus
 
Den Begriff des sozialistischen Humanismus hat Erich Fromm mitgeprägt und er ist es auch, den er sich als oberstes Prinzip auf seine Fahnen geschrieben hat. Viele wissen nicht, daß Fromm auch politischer Aktivist war und entsprechende Manifeste verfaßt hat. 
 
„Den Vorrang hat der Mensch! (Let Man Prevail) und „Humanistischer Sozialismus (Socialist Humanism) erschienen erstmals unter dem Titel „Den Vorrang hat der Mensch!k Ein sozialistisches Manifest und Programm (Let Man Prevail. A Socialist Manifesto and Program; 1960). Dieses Manifest ist ein einzigartiges Zeugnis für Fromms politische Aktivitäten. Bald nach der Veröffentlichung von „The Sane Society“ 1955 (auf deutsch: Wege aus einer kranken Gesellschaft), das nicht nur eine ausführliche Erörterung des Sozialismus enthält, sondern auch konkrete Vorschläge für die Veränderung der Gesellschaft, begann Fromm, sich in der konkreten Alltagspolitik der Vereinigten Staaten zu engagieren. 1957 gründete er mit anderen zusammen SANE, die größte Friedensbewegung der USA, außerdem trat er der Sozialistischen Partei (SP-SDF)bei. Mit großem Einsatz versuchte Fromm, diese Partei mit seinen Vorstellungen eines humanistischen Sozialismus zu konfrontieren. Da er jedoch in seinen Ausführungen sich kritisch sowohl gegen den damaligen kommunistischen Sozialismus des Ostblocks als auch gegen die westliche – speziell die amerikanische – kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit ihren menschenfeindlichen Auswirkungen wandte, war er auch in sozialistischen Kreisen eines nationalistisch ausgerichteten Landes wie der USA umstritten. So kam es, daß Fromm wieder aus der Partei austrat, als sich ein unüberwindlicher Widerstand gegen seine Vorstellungen von seiten der Partei-Bürokratie zeigte.
 
So hat Fromm in seinem Buch „Über den Gehorsam“ ausführlich 
  • 17 Prinzipien eines humanistischen Sozialismus
  • 16 Teilziele für den Weg der Verwirklichung
  • 8 Nahziele in Form eines Sofortprogramms sowie
  • die psychologischen Aspekte eines garantierten Einkommens für alle
dargestellt. Es würde allerdings zu weit führen, wenn ich die Inhalte an dieser Stelle im Detail vorstellen würde. Interessierte können sich an den gesetzten Links orientieren und sich dort informieren. 
 
Allerdings möchte ich trotzdem ein Zitat aus „Über den Gehorsam“ vorstellen, das zeigt, wie sich Fromm den humanistischen Sozialismus vorstellte. Gleichzeitig werfen diese Erläuterungen auch einen Blick auf den Begriff „Selbstentfaltung“ im Sinne der maßgeblichen Philosophen der Aufklärung und des Humanismus:
 
„Meiner Ansicht nach laufen die speziellen Lösungen und Werte dieses Typs von Humanismus etwa auf folgendes hinaus: Es gibt einen höchsten Wert in Gestalt der produktiven, selbsttätigen Persönlichkeit im Sinne von Spinoza, Goethe oder Marx. Sie ist das Gegenteil des homo consumens, des ewigen Säuglings, der die durchschnittliche Charakterstruktur in unserer heutigen Industriegesellschaft verkörpert. Außerdem sollte jeder seine Liebe und Vernunft zu entwickeln versuchen.
 
Als einen weiteren höchsten Wert betrachte ich die Fähigkeit des Menschen zur Transzendenz, ein Wort, dessen man sich gewöhnlich in theologischen Diskussionen bedient. Es heißt, daß der Mensch über sich hinausgehen muß, um ganz Mensch zu werden, und dieses „Übersichhinaus“ wird dann gewöhnlich als Gott definiert. Wenn man jedoch von menschlichen Erfahrungen spricht, kommt man sehr gut ohne den Gottesbegriff aus, und die Frage lautet stattdessen: 
  • Kann der Mensch sein Ich loslassen? 
  • Kann er aus dem Gefängnis seiner Absonderung hinaustreten? 
  • Kann er ganz leer werden? Kann er – wie die Mystiker sich ausdrücken – leer sein, um voll zu werden? (Anm. d. Verf. zum Verständnis der Leere: Die Leere ist nichts anderes als der Raum, der vorhanden sein muß, damit dort Platz für etwas Neues entstehen kann.)
  • Kann er sich der Welt öffnen?
  • Kann er arm sein, um reich zu werden?
Oder um von Marx immer wieder gebrauchte Begriffe zu verwenden: Worauf es ankommt, ist, daß der Mensch viel ist, nicht daß er viel hat und sich angeignet. Diesen Gedanken radikalisiert, kommen wir zu einer Art atheistischen Mystik, wie wir sie im Zen-Buddhismus finden, aber auch bei einigen westlichen Philosophen, die mit dem Zen-Buddhismus nichts zu tun haben. Man könnte diese Einstellung als ein Gefühl des Einsseins mit der Welt beschreiben, das sich begrifflich nicht auf den Glauben an Gott gründet, sich aber trotzdem nicht allzusehr von der Auffassung gewisser christlicher, jüdischer oder islamischer Mystiker unterscheidet, welche der gleichen Erfahrung mit anderen Begriffen und Worten Ausdruck verliehen haben. 
 
Schließlich ist noch zu sagen, daß jeder derartige Humanismus eine strenge Hierarchie der Werte aufweisen muß; ohne diese ist alles andere sinnlos. Es handelt sich dabei nicht um eine ideologische, sondern um eine reale Hierarchie. Wenn jemand Pianist werden will und dies versucht, indem er jede Woche eine halbe Stunde übt, so ist er ein Narr – und wenn sich jemand die Werte des Humanismus zu eigen machen will, ohne sie über alles andere zu stellen, dann macht er sich selbst etwas vor. Im weltlichen Sinne ist deswegen noch kein Narr. Um theologisch zu sprechen: Wenn der Mensch sich nicht zwischen Gott und dem Kaiser entscheidet, wird er sich höchstwahrscheinlich dem Kaiser verkaufen; und ganz sicher wird er sich dann nicht für Gott und jene Werte entscheiden, die diesem in einem weiterentwickelten humanistischen System entsprechen.“
 
An anderer Stelle im o. a. Buch äußert sich Fromm nochmals grundsätzlicher zum Verständnis des Humanismus:
 
„Welches sind die Hauptprinzipien dieses Humanismus? Man kann die humanistische Weltanschauung  folgendermaßen charakterisieren: 
  • Sie ist erstens gekennzeichnet durch den Glauben an die Einheit der Menschheit, durch den Glauben, daß es nichts Menschlicheres gibt, das nicht in jedem von uns zu finden wäre; 
  • zweitens durch die Betonung der Würde des Menschen;
  • drittens durch die Betonung der Fähigkeit des Menschen, sich weiterzuentwickeln und zu vervollkommnen; 
  • schließlich viertens durch die Betonung der Vernunft, Objektivität und Frieden.
Der zeitgenössische polnische Philosoph Adam Schaff definiert in seinem Buch Marxismus und das menschliche Individuum (1965) den Humanismus noch anders. Für ihn ist Humanismus »ein System der Reflexionen über den Menschen, die diesen als höchstes Gut erkennen und bestrebt sind, in der Praxis die besten Bedingungen des menschlichen Glückes zu gewährleisten«.
 
Bemerkenswert finde ich auch den Ansatz, den Fromm bei Marx gefunden hat:
 
„Einer der letzten großen Humanisten des vorigen Jahrhunderts war Karl Marx. In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten schrieb er: »Ein Wesen gilt sich erst als selbständiges, sobald es auf eignen Füßen steht, und es steht erst auf eigenen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines anderen lebt, betrachtet sich als ein abhängiges Wesen«.
 
Der Mensch ist nur dann unabhängig, wenn er sich sein vielseitiges Sein ganzheitlich aneignet und so ein ganzer Mensch ist. Mit dieser Sicht steht Marx Goethe und den Philosophen der Renaissance sehr nahe. Aber Marx fordert noch  mehr als jeder andere die Unabhängigkeit, die eben darin besteht, daß man sein Dasein keinem anderen verdankt und darum »selbsttätig« sein kann. Dieses »Tätigsein» bedeutet nicht, daß man etwas «tut« und dabei geschäftig ist. Marx versteht unter Tätigsein einen Prozeß innerer Produktivität, womit er dem Verständnis bei Aristoteles und Spinoza sehr nahekommt. An anderer Stelle drückt dies Marx mit folgenden Worten aus: »Wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch deine Lebensäußerung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück.»
 
Jemand, der nicht weiß, daß dieses Zitat von Karl Marx stammt, würde es vielleicht in einer buddhistischen Quelle suchen oder bei den Humanisten der Renaissance.“
 
Auch dieser Kontext beweist für mich wiederum, daß man den Begriff des Humanismus nicht spalten darf in einen anti-religiösen oder anti-theistischen und einen religiös-theistisch untermauerten. Wer dies tut, der torpediert den Grundgedanken des Humanismus und betreibt ideologische Heuchelei. Ein Humanist mit entsprechender Handlungspräsenz ist ein uneingeschränkter Humanist – ganz gleich, woran er darüber hinaus noch glaubt!
 
 
Peter A. Weber