Syrien - Wie man einen säkularen Staat zerstört und eine Gesellschaft islamisiert (GEHRCKE u. REYMANN)

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Syrien - Wie man einen säkularen Staat zerstört und eine Gesellschaft islamisiert (GEHRCKE u. REYMANN)
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Syrien - Wie man einen säkularen Staat zerstört und eine Gesellschaft islamisiert


Hrsg.:  Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann

Verlag:  PapyRossa Verlag, Köln (03/2013) – zur Verlagsseite

ISBN:  978-3-89438-521-7

broschiert, 187 Seiten, Preis 9,90 EUR

 

Klappentext:

Der Krieg in Syrien ist täglich in den Nachrichten, verlässliche Informationen sind dennoch Mangelware. Längst ist der anfangs friedliche Protest in einen von außen geschürten und finanzierten bewaffneten Aufstand übergegangen, der einem demokratischen Wandel die Luft abwürgt. In diesem Konflikt mischen mittlerweile so viele unterschiedliche Akteure mit, dass das Geflecht widerstreitender Interessen nur schwer zu durchschauen ist. Medial und politisch werden im Westen nur jene Kräfte wahrgenommen, die den gewaltsamen Sturz von Staatschef Baschar al-Assad betreiben. Andere Stimmen finden kein Gehör. Ebenso wenig wird die Frage erörtert, wie und unter welchen Bedingungen festgestellt werden kann, was eine Mehrheit der Syrer will.

Diese Lücken schließt das vorliegende Buch. Es skizziert Wege zu Verhandlungslösungen, zu einer Übergangsregierung und zu freien Wahlen. Und es entflechtet die politischen und sozialen Kräfte und Konstellationen, die in dieser Auseinandersetzung eine Rolle spielen. Namhafte syrische Regierungskritiker beleuchten aus eigener Erfahrung Aufgaben und Chancen gewaltfreier Opposition. Autorinnen und Autoren aus Ägypten, Libanon und Deutschland ordnen den Syrien-Konflikt in die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens ein und untersuchen seinen Stellenwert in der Politik der USA, der Nato, Israels und der aufstrebenden Regionalmacht Türkei. Sie zeichnen die Haltung der Bundesregierung nach und fassen die Debatte in Deutschland und Europa zusammen.

Ergänzt werden die Beiträge durch Schlüsseldokumente und ein Who is Who der syrischen Opposition.


Buchbesprechung von Anton Holberg:    

Die Lage in Syrien ist derart verfahren, dass nicht einmal die imperialistischen Mächte sich zu eindeutigen Schritten durchringen können. Der vorliegende Sammelband, in dem fünfzehn deutsche und arabische Autoren auch diesen Tatbestand im Einzelnen am Beispiel der Haltung der BRD, Israels und natürlich der USA sowie der alten regionalen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien darlegen, ist eine willkommene Einführung in die Problematik Syriens und damit der Region.

Sie ist umso willkommener als das Gros der hiesigen Tagespresse den Konflikt im Wesentlichen nur als einen zwischen dem „bösen“ diktatorischen mit den „bösen“ Mächten Iran und Hezbollah verbandelten Regime in Damaskus und den armen Opfern, die sich mit den unzureichenden Mitteln wehren müssen, darstellt. Bezeichnenderweise werden in diesem Zusammenhang syrische Stimmen, die sich gleichermaßen gegen das Regime wie gegen die perspektivlosen zerstörerischen Aktivitäten der bewaffneten Opposition und ihrer ausländischen Verbündeten und Drahtzieher positionieren, weitestgehend ignoriert. Im vorliegenden Band jedoch kommen sie ausdrücklich zu Wort.

Da natürlich auch der syrische Bürgerkrieg eine lange Vorgeschichte hat, beginnt das Buch mit zwei längeren Beiträgen eben dazu. Harri Grünberg bietet unter dem Titel „Aufstieg, Niedergang und Sturz des säkularen Arabischen Nationalismus“ einen historischen Abriss, der bereits mit dem Niedergang der arabisch-islamischen Hochkultur und Macht im ausgehenden Mittelalter beginnt. Dass die diesbezüglichen Thesen im Einzelnen zumindest strittig sein mögen, spielt allerdings für das Verständnis der Entwicklung seit Ende des 19. Jahrhunderts und insbesondere der Entwicklung seit Gründung des modernen Staates Syrien nach Ende des 1. Weltkrieges nur eine untergeordnete Rolle.

Diese hier dargelegte Entwicklung des arabischen Nationalismus – auch in seiner vermeintlich „sozialistischen“ Form, wie er von der seit den 60er Jahren herrschende „Sozialistischen Partei der Arabischen Wiedergeburt“ (ASBP, Baath-Partei) propagiert wurde – erklärt die wesentlichen Gründe für das Fehlen einer progressiven Alternative und die immer deutlicher werdende Hegemonie islamistischer Kräfte innerhalb der Rebellion. Die Journalistin Karin Leukefeld konkretisiert in ihrem Beitrag die sozio-ökonomischen Bedingungen, die dazu geführt haben, dass die vor zwei Jahren ausgebrochene Revolte gegen Bashir al-Assad eine wesentlich größere Kraft entfalten konnte als Anfang der 80er Jahre der bewaffnete Aufstand gegen dessen Vater, Hafiz al-Assad. Jener Aufstand war bereits von der auch jetzt wieder im Oppositionslager führend vertretenen Muslimbruderschaft getragen gewesen, konnte aber in wenigen Monaten blutig niedergeschlagen werden.

Dass wir es heute nicht nur mit der konservativen Muslimbruderschaft zu tun haben, sondern in wachsendem Maße mit terroristischen sunnitischen Jihadisten à la „Nusra Front“, ist wie A.C.Seifert im Kapitel “Erobert der Dschihad Syrien?“ nicht zuletzt auch Ergebnis der westlichen sogenannten „Antiterrorstrategie“. Westliche Geheimdienste zumindest setzen schon recht bald auf kampferfahrene Jihadisten. Spätestens seit ihrem Debakel in Afghanistan und dem Irak waren sie zwar mit diesen alles andere als glücklich, glaubten und glauben aber offensichtlich, bei ihrem Ziel, das Regime in Damaskus zumindest ernsthaft schwächen zu können, auf solche Kräfte nicht verzichten zu können.

Allerdings deutet nichts darauf hin, dass diese Strategie zu einem Ergebnis führen könnte, dass den erklärten Zielen der imperialistischen „Freunde Syriens“ auf die Dauer auch genehm wäre – es sei denn, der wirkliche Zweck jenseits von Menschenrechts- und Demokratiegeschwafel  wäre die langfristige staatliche und gesellschaftliche Zerstörung der gesamten Region. In die  grundlegenden ideologischen Vorstellungen dieser fundamentalistischen islamischen Strömungen hatte zuvor bereits der Mamdouh Habashi, Gründungsmitglied der ‘Ägyptischen Sozialistischen Partei’ eingeführt und sich dabei insbesondere der 1928 in seinem Land gegründeten Muslimbruderschaft, der Mutter aller modernen sunnitisch-islamistischen Organisationen, gewidmet.   

Um die speziellen Rollen, die die Türkei und Israel in der Region und folglich der Syrien-Krise einnehmen, geht es in den Beiträgen von E.Crome bzw. K. Kulow während J.Bussemer die etwa gegenüber der Frankreichs und Großbritanniens vergleichsweise vorsichtige Politik der Bundesregierung analysiert. Mit der Bundesrepublik beschäftigen sich auch die beiden Herausgeber des Sammelbandes, der PDL-MB Wolfgang Gehrke und  die Politologin Christiane Reyman. Sie haben sich die undankbare Aufgabe vorgenommen, die Positionen dessen, was hierzulande landläufig unter Begriff „Die Linke“ läuft, zu analysieren und dabei beispielhaft die der Initiative „Adopt A Revolution“.  Die Autoren kommen nach dem bislang schon Dargelegten sinnvollerweise zu dem Ergebnis, dass es für „Linke“ keine Veranlassung gebe, zwischen dem Regime und der real existierenden Opposition zu wählen, weil in der Tat keiner von beiden für Inhalte steht, mit der sich eine emanzipatorische Linke identifizieren könnte.

Dass die Aktivitäten der verschiedenen staatlichen und nicht-staatlichen „Freunde Syriens“ überdies auch noch völkerrechtswidrig sind, hatte zuvor bereits der emeritierte Völkerrechtsprofessor Norman Paech dargelegt. An dieser Stelle sollte aber schon daran erinnert werden, dass Völkerrechtsfragen und Positionen der UNO, die von den Herausgebern ein bisschen zu ernst genommen werden, erfahrungsgemäß nicht viel praktische Bedeutung haben, es sei denn als Rechtfertigung für imperialistische Praktiken.

Der Band schließt mit Beiträgen verschiedener syrischer und anderer arabischer Beobachter und Aktivisten – darunter dem des Libanesen Issam Haddad über die kommunistische Bewegung in Syrien, dem des hier von Karin Leukefeld interviewten seit 30 Jahren im französischen Exil lebenden syrischen Arzt und Vorsitzenden der ‘Arabischen Kommission für Menschenrechte’, Haythem Manna, über das “Koordinationsbüro für nationalen Wandel“(NBC), dem der in Damaskus lebenden Ärztin Mouna Ghanem über die Rolle der syrischen Frauen, dem des in Syrien lebenden Schriftstellers Louay Hussein über die Frage einer möglichen Aufspaltung des Landes in konfessionelle Herrschaftsgebiete. Alle – sogar der bekannte christliche Oppositionelle Michel Kilo – lehnen nicht nur das Regime mehr oder weniger deutlich ab, sondern stehen auch der Entwicklung des zunehmend militarisierten Widerstands zumindest kritisch gegenüber. Ein „Who Is Who in der syrischen Politik“ und – wie mir scheint für die Praxis – leider (!) -  ziemlich irrelevante – Dokumente wie Kofi Annans Sechs-Punkte-Plan, das „Genfer Kommuniqué“ der Syrien-Aktionsgruppe vom 30.6.2012 und die „Genfer Erklärung des gewaltfreien, demokratischen Opposition vom 12.Januar 2013 runden den Band ab.

Die Herausgeber und verschiedene Autoren aus dem Umfeld der ‘Partei DIE LINKE’ haben sichtlich keinen Hang zum Marxismus als Theorie des proletarischen Klassenkampfes, sondern zum kleinbürgerlichen Pazifismus. Sie tendieren deshalb dazu, den bewaffneten Kampf überhaupt zurückzuweisen, während es offensichtlich ist, dass dieser auf jeden Fall eine Voraussetzung dafür ist, das Regime, wenn nicht zu stürzen, dann doch zu ernsthaften Kompromissen zu zwingen. Diese Kritik ist allerdings in der realen syrischen Situation nicht weiter von Bedeutung, weil dem bewaffneten Kampf in Syrien auf Grund des Charakters seiner Träger (programmatisch konfuse “Säkularisten“ und “Demokraten“ und zunehmend konfessionell-sektiererische, offen antidemokratische, Reaktionäre) keinerlei realitätstaugliche fortschrittliche Perspektive innewohnt. Ein friedlicher Kompromiss, wie er in diesem Band angeregt wird, wäre angesichts dessen auf lange Zeit das Beste, auf das zu hoffen wäre. Die Chancen dafür sind allerdings minimal und dürften in erster Linie eine militärische Niederlage der Rebellion zur Voraussetzung haben.

(Anton Holberg, Quelle: Linkezeitung.de)

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Ulrich Gellermann
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Verbunden: 22.03.2013 - 15:43
DIE ENTEIGNETE REVOLUTION


DIE ENTEIGNETE REVOLUTION

Das syrische Kriegs-Drama ohne Ende


Jetzt will die EU Militärausbilder nach Syrien senden, um die dortigen Aufstands-Truppen zu unterstützen. Frankreich und England, die alten Kolonialmächte in diesem Raum, erwägen Waffen an die Aufständischen zu liefern. Und natürlich wird behauptet, dass der Krieg den Krieg bekämpfen würde. Ein idiotisches Rezept, das gründlich in Afghanistan gescheitert ist. Ein kluges Buch argumentiert gegen diesen Versuch, einem Land seinen Willen von außen aufzuzwingen: "Syrien - Wie man einen säkularen Staat zerstört und eine Gesellschaft islamisiert".

Als "Die enteignete Revolution" charakterisieren Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann in ihrem Buch über die Zerstörung des säkularen Syriens jenen Versuch der demokratischen, syrischen Opposition sich gegen das Assad-Regime zu erheben. Und sie benennen auch die Enteigner: Von den USA über die ehemaligen Kolonialmächte bis zu den Golfstaaten sind alle jene dabei, die ausschließlich auf die bewaffnete Lösung des syrischen Konfliktes orientieren. Auch das vorsichtige Deutschland, das lieber Waffen exportiert statt Truppen, wird sich im Buch wiederfinden. Als jener Staat, der gemeinsam mit den bewaffneten Aufstandsgruppen in Syrien "The Day After", den Tag nach dem Sturz Assads vorbereitet. Es ist die geballte Kompetenz, die üppige Fülle der unterschiedlichen Buch-AutorInnen und die große Skala von Positionen, die der Arbeit von Gehrcke/Reymann einen vorderen Platz in der Reihe der aktuellen Syrien-Bücher sichert.

Ohne die Rolle der deutschen AutorInnen zu schmälern, müssen doch jene syrischen oppositionellen Buchmitarbeiter hervorgehoben werden - solche, die noch im Land leben und jene, die aus dem Exil für ihr Land kämpfen - deren Sachkunde von zwei wesentlichen Wünschen geleitet wird: Sie sind gegen die ausländische Einmischung in die Angelegenheiten ihrer Heimat und sie sind gegen eine kriegerische Auseinandersetzung zur Veränderung des syrischen Herrschafts-Systems. Es sind Menschen wie die Ärztin Mouna Ghanem, die in Damaskus lebt und an die Frauen in Daara erinnert, Frauen politischer Gefangener, die dem syrischen Aufstand eine Initialzündung gaben. Es ist der Schriftsteller Louay Hussein, der trotz politischer Verfolgung und Haft immer noch in Syrien lebt und angesichts der ausländischen Einmischung mit Waffen, mit Geld und Söldnern erbittert feststellt, dass der Krieg die nationale Integrität Syriens gefährdet. Es sind Exil-Syrer wie Michel Kilo, Gründer des "Syrisch Demokratischen Forums", der das Assad-Regime gnadenlos kritisiert und zugleich vor dem "irrationalem Radikalismus" der bewaffneten Formationen warnt. Und es ist der in Frankreich lebende Arzt Haytham Manna, der mit der drohenden konfessionellen Aufspaltung Syriens das Ende des Landes befürchtet und der den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan ebenso vor Gericht sehen will wie Baschar Assad, weil auch der mit seiner Rückzugs-Zone für die militärischen Gruppen "für das syrische Blut verantwortlich" sei.

Das Syrien-Buch von Gehrcke/Reymann hält alles bereit, was der Medien-Mainstream nicht oder kaum liefert: Eine historische Skizze über Aufstieg und Niedergang des säkularen arabischen Nationalismus von Harry Grünberg, ein Nahostkenner der auch schon mal in der israelischen Armee gedient hat. Es referiert eine kühle Analyse von Arne C. Seifert, dem altgedienten DDR-Diplomaten mit brillanten Verbindungen in den arabischen Raum, zur westlichen Niederlage im "Kampf gegen den Terror", obwohl und gerade die offizielle Ablehnung der Islamisten einer Kooperation der USA mit Teilen des Dschihad gewichen ist. Oder den Aufsatz der tapferen Karin Leukefeld, die mitten in den Bürgerkriegswirren aus Syrien für unterschiedliche Medien berichtete und im Buch unter anderem daran erinnert, dass der soziale Auslöser für den syrischen Aufstand auch in der vom Westen beklatschten Auflösung der Planwirtschaft und der ihre folgenden Arbeitslosigkeit durch den jungen Assad bestand, die den Sozialabbau im Land beschleunigte. Und immer sind die referierten Fakten und Berichte Teil jener Empathie für eine Bevölkerung, der man eine selbstständige Lösung ihrer Probleme zutrauen würde, wenn man sie nur ließe.

Bei aller Leidenschaft, die sich im Buch der Herausgeber findet, scheint die Hoffnung auf eine nichtmilitärische Lösung gering: Zu verlockend ist es für die Einmischungsmächte Syrien unter ihre Regie zu bringen, obwohl keinesfalls gesichert erscheint, dass ein Nachfolgeregierung handzahm wäre. Doch den letzten russischen Stützpunkt in diesem Raum zu beseitigen und die geplante Pipeline von Katar über syrischen Boden mit der Nabucco-Line aus der Türkei zu verbinden, das sind offenkundig lukrative Ziele, denen die USA, die EU und die Golfstaaten nicht widerstehen können. Doch noch stemmen sich, wie man bei Gehrcke/Reymann nachlesen kann, auch jene Syrer gegen die feindliche Übernahme ihres Landes, die mit der Assad-Herrschaft Schluss machen wollen: Sie wollen sich ihre Revolution nicht enteignen lassen.

Buchtitel:  SYRIEN Wie man einen säkularen Staat zerstört und eine Gesellschaft islamisiert

Autor:  Wolfgang Gehrcke / Christiane Reymann (Hg)

Verlag:  PapyRossa
 



Quelle:  RATIONALGALERIE > Artikel vom 18.03.2013


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