TTIP - CETA - TiSA
Drei geplante Abkommen mit höchstem Gefahrenpotential
Im Kritischen Netzwerk wurden seit Jahren regelmäßig die Gefahren der geplanten Abkommen wie dem "Transatlantic Trade and Investment Partnership" (TTIP, früher Trans-Atlantic Free Trade Agreement, TAFTA) in vielen kritisch-reflektierenden Artikeln thematisiert, z. B. hier und hier und hier. Auch das sogenannte "Comprehensive Economic and Trade Agreement", kurz CETA (dt. Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen, auch als Canada–EU Trade Agreement gelesen) ist ein geplantes europäisch-kanadisches Freihandelsabkommen, daß von uns immer wieder kritisch beleuchtet wurde.
Noch immer weitgehend unbekannt hierzulande: TiSA. Das Trade in Services Agreement (TiSA; deutsch Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen) ist eine in Verhandlung befindliche Sammlung von Vereinbarungen in Form eines völkerrechtlichen Vertrags zwischen 23 Parteien einschließlich der USA und der Europäischen Union. Das TiSA-Abkommen soll weltweit Dienstleistungen liberalisieren. Die 50 Staaten, die über TiSA verhandeln, exportieren weltweit zwei Drittel aller Dienstleistungen, wozu Branchen wie Verkehr, Finanzen, Bildung oder Gesundheit zählen. ⇒ TiSA [hier]
Gebt bitte einfach die Abkürzungen TTIP, CETA, TiSA (mit kleinem i) oder Freihandelsabkommen in das kleine Textfeld "Seite durchsuchen" oben rechts ein und ihr erhaltet eine Vielzahl informativer Artikel - allesamt von handverlesen ausgesuchten Autoren verfasst.
Lange Zeit wurden und werden die Vertragsbedingungen zu TTIP, CETA und TiSA im Geheimen ausgehandelt; nur eine verhältnismäßig kleine Anzahl von Personen weltweit bekam Zugang zu den Schriften. Bundestagsabgeordnete z.B. konnten die Unterlagen bisher nur unter strengen Auflagen in einem Leseraum im Bundeswirtschaftsministerium einsehen. Sie dürfen allerdings mit niemandem über die Inhalte reden. Originaldokumente oder Kopien durften nicht in die Öffentlichkeit. Transparenz und Demokratie = Fehlanzeige.
Die meisten Leitmedien und die Mehrzahl ihrer willfährigen Medienhuren Journalisten erwiesen sich einmal mehr als systemtreue, embeddede Vasallen mit festgezurrtem Maulkorb. Die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität in der sogenannten "freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika" [sic!] wird von großen Medien- und Verlagsanstalten aufoktroyiert - wer nicht spurt, fliegt. Nachrichtenagenturen wie AFP, AP, ddp, dpa, REUTERS etc. liefern das Material für die zu veröffentlichte Meinung. Kritische Aufarbeitung unerwünscht.
Durch WikiLeaks kamen seit 2009 nach und nach mehrere Verhandlungsdokumente in die Öffentlichkeit, z.B. in Sachen TiSA - hier - und TTP - hier.
https://wikileaks.org/tisa/
https://wikileaks.org/tpp-final/
Die Befürchtungen der zunächst wenigen standhaften Freihandelskritiker, bis heute noch gerne als Verschwörungstheoretiker und Angstmacher diskretitiert, werden mit wachsendem Wissensstand nicht nur erhärtet, sondern um ein Vielfaches übertroffen. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace Niederlande sorgte erst vor 3 Tagen für erhebliches Aufsehen, weil sie die kompletten TTIP-Dokumente der Öffentlichkeit preisgab. Greenpeace schreibt dazu:
"Greenpeace Netherlands has released secret TTIP negotiation documents. We have done so to provide much needed transparency and trigger an informed debate on the treaty. This treaty is threatening to have far reaching implications for the environment and the lives of more than 800 million citizens in the EU and US.
Whether you care about environmental issues, animal welfare, labour rights or internet privacy, you should be concerned about what is in these leaked documents. They underline the strong objections civil society and millions of people around the world have voiced: TTIP is about a huge transfer of power from people to big business."
Als kleinen Service biete ich allen LeserInnen des Kritischen Netzwerks insgesamt 10 recherchierte, wichtige Dokumente als zum Download, Online-Lesen und/oder Ausdrucken. Dazu bitte einmal ganz nach unten, also bis an das Seitenende, scrollen! Es wäre toll, wenn Sie diesen Artikel via Facebook, Google+, Twitter oder auf eigenen Webseiten und Blogs weiterempfehlen.
LAST BUT NOT LEAST eine ausführliche Buchvorstellung zum Thema TTIP: "Die Freihandelslüge" von Thilo Bode. Es erschien im März 2015 und ist derzeit in 6. Auflage und ebenso als eBook erhältlich. Auch wenn erst jetzt der komplette TTIP-Vertragstext in die Öffensichkeit kam, ist das Buch eine wichtige Lektüre.
Herzlichen Dank an Pressereferentin Sonja Grau vom Verlag DVA in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München für die freundliche Unterstützung und die Freigabe zur Veröffentlichung nachfolgender Texte aus dem Buch hier im Kritischen Netzwerk.
Helmut Schnug, KN-ADMIN.
Die Freihandelslüge
Warum TTIP nur den Konzernen nützt – und uns allen schadet
Autor: Thilo Bode unter Mitarbeit von Stefan Scheytt
► Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt > www.dva.de .
ISBN 978-3-421-04679-6
⇒ 6. Auflage 2015, Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, € 14,99 [D] | € 15,50 [A] | CHF 20,50* (* empf. VK-Preis)
⇒ auch als eBook (epub) erhältlich mit der ISBN 978-3-641-15257-4; Preis € 11,99 [D] | CHF 14,00*(* empf. VK-Preis)
Thilo Bode, geboren 1947, studierte Soziologie und Volkswirtschaft. 1989 wurde er Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland, 1995 von Greenpeace International. 2002 gründete er die Verbraucherorganisation Foodwatch.
► Vorwort:
Mit Freihandel in seiner praktischen Form bin ich zum ersten Mal Ende der 1970er Jahre im Maghreb in Berührung gekommen. Als junger Mann arbeitete ich an Entwicklungshilfeprojekten in Tunesien mit und verteidigte den Freihandel gegen Kritiker, die es auch damals reichlich gab. Für sie war internationaler Handel gleichbedeutend mit »Ausbeutung durch Imperialisten«. Als Volkswirt habe ich mich im Studium vor allem mit internationalem Handel und Entwicklungspolitik beschäftigt. Solche Pauschalurteile haben mich daher schon vor vierzig Jahren geärgert. Sie ärgern mich auch heute noch: Als müsse jedes Land sämtliche Produkte und Dienstleistungen selbst herstellen, als wäre es nicht sinnvoll, wenn Länder ihre Stärken und besonderen Bedingungen, die sie von anderen Staaten unterscheiden, in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft zu ihrem Vorteil nutzten. Ohne internationalen Handel ließe sich die Ernährung der Weltbevölkerung nicht bewerkstelligen.
In Tunesien gedeihen trotz des wenigen Regens hervorragende Oliven, sie könnten als Olivenöl nach Europa exportiert werden und dem Land Devisen einbringen für den Import von bewässerungsintensivem Weizen – das wäre ein guter, auch ökologisch sinnvoller Austausch für die Handelspartner. So war die Theorie, als ich mithelfen wollte, die wirtschaftliche Entwicklung der armen Länder Nordafrikas voranzubringen.
In der Praxis erlebte ich dann, wie diese überzeugende Theorie durch Macht und die Wahrung von Interessen beschädigt wurde. Tunesien durfte kaum Olivenöl nach Europa exportieren und wird auch heute noch an dessen freiem Export mit Handelsschikanen und Zöllen gehindert, weil die tunesischen Oliven mit der subventionierten Olivenproduktion in den Mittelmeerstaaten der EU konkurrieren. Anstatt den afrikanischen Olivenproduzenten die Chance zu geben, mit guten Produkten Geld zu verdienen und damit die Wirtschaft in armen, ländlichen Regionen zu fördern, finanzierte die Entwicklungshilfe teure Bewässerungsprojekte, um dort Weizen anzubauen. Das ist Verrat an der Freihandelsidee, begangen von Politikern, die vom Freihandel sprechen und Protektionismus praktizieren – um dann gönnerhaft Entwicklungshilfe zu gewähren.
Von der Idee des fairen Freihandels, der allen Beteiligten Vorteile bietet, bin ich dennoch bis heute überzeugt. Als das geplante Freihandelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) zwischen den USA und der Europäischen Union immer häufiger in den Medien auftauchte, war ich deshalb zunächst nicht grundsätzlich dagegen. Schließlich geht es nicht um Handelsbeziehungen zwischen einem Industrie- und einem Dritte-Welt-Land, sondern um ein Abkommen zwischen zwei wirtschaftlich hoch entwickelten und bereits eng verflochtenen Wirtschaftsblöcken. Doch dann begann ich, mich näher damit zu beschäftigen, auch angeregt durch viele Förderer und Unterstützer von foodwatch, die uns Fragen stellten und uns ermunterten, bei TTIP genauer hinzusehen.
Das haben wir getan, und das Ergebnis ist dieses Buch. Sein erster Teil versucht, allgemeinverständlich zu erklären, was TTIP ist – die volkswirtschaftlichen Grundlagen und die zu erwartenden ökonomischen Effekte. Eingeordnet werden dort die kontroverse Debatte, der Stand der Verhandlungen sowie die Auswirkungen von TTIP auf unsere Demokratie. Im zweiten Teil geht es um die Auswirkungen, die TTIP auf unseren Alltag haben wird. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass die Dimension von TTIP gigantisch ist, da es fast alle Wirtschafts- und Industriebereiche berührt. Deshalb musste ich mich hier auf einige beispielhafte Bereiche beschränken. Es sind dies Felder, die einerseits erhebliche politische Bedeutung haben, andererseits uns auch im Alltag unmittelbar betreffen: Chemikalien, Lebensmittel, Landwirtschaft, Tierschutz und Arbeitnehmerrechte.
Die monatelange Recherche mit meinem Team hat mir jene Erfahrung in Tunesien vor vierzig Jahren ins Gedächtnis gerufen: Noch viel krasser als damals besteht bei TTIP die Kluft zwischen Theorie und Praxis der Freihandelsidee. Das TTIP-Abkommen, wie es jetzt im Geheimen entworfen wird, dient nicht den beteiligten Ländern, der Mehrheit ihrer Bürger und der Mehrheit ihrer Unternehmen, und schon gar nicht dient es ärmeren Ländern. Es dient fast ausschließlich den großen, weltweit agierenden Konzernen, die ihre Marktanteile und ihren Einfluss absichern und ausbauen wollen. Ein Baustein dafür, wie ich zu diesem Urteil komme, ist ein Satz aus dem TTIP-Verhandlungsmandat, das die EU-Mitgliedsstaaten der EU-Kommission erteilt haben. Dort steht, dass Investoren durch TTIP »das höchstmögliche Maß an Rechtsschutz und Rechtssicherheit« gewährt werden soll. Ein derart ehrgeiziges Ziel – »das höchstmögliche Maß« – gibt das Mandat für kein anderes Thema und für keine andere Gruppe aus.
Diese Formulierung bringt TTIP auf den Punkt. Lassen Sie sich nicht ablenken vom TTIP-Dauerthema »Chlorhühnchen« oder von der Frage, ob wegen des Abkommens bald Nürnberger Rostbratwürstchen aus Kentucky auf Grills in Europa landen könnten. Darum geht es bei TTIP nur ganz am Rande. Im Kern geht es darum, Konzerninteressen in Gesetze zu gießen, die durch den völkerrechtlich verbindlichen TTIP-Vertrag besser abgesichert wären als jedes französische, dänische, US-amerikanische oder deutsche Gesetz.
Es gilt, was Kurt Tucholsky schon vor fast hundert Jahren erkannt hat: »Politik kann man in diesem Lande definieren als die Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke mit Hilfe der Gesetzgebung.«
Die politischen und wirtschaftlichen Eliten in Europa und den USA, die TTIP jetzt mit aller Macht gegen den Willen der Bürger durchsetzen wollen, verwechseln die Freiheit der Wirtschaft mit der Freiheit der Gesellschaft, sich ihre Regeln selbst zu geben. Nach der Recherche und vielen Gesprächen für dieses Buch bleibt für mich die große unbeantwortete Frage, warum sich Volksvertreter derart entmachten lassen, warum sie bereit sind, zugunsten bestenfalls winziger wirtschaftlicher Vorteile gravierende Risiken für die Demokratie in Kauf zu nehmen.
Nehmen wir uns unsere bürgerliche Freiheit und sagen »Nein« zu TTIP.
Ihr Thilo Bode
► Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . 7
TEIL I
Was ist TTIP?
Die Politik unterwirft sich Konzerninteressen
1 Das Kartell der Verharmloser . . . . . . . . . . . . 13
2 Der geheime Deal . . . . . . . . . . . . 29
3 Das Märchen vom Wachstum . . . . . . . . . . . . 50
4 Wie Konzerninteressen zu Gesetzen werden oder Der Angriff auf die Demokratie . . . . . . . . . . . . 75
– Die Entmachtung der Parlamente . . . . . . . . . . . . 75
– Die offizielle Inthronisierung der Lobbyisten . . . . . . . . . . . . 86
– Paralleljustiz für Investoren . . . . . . . . . . . . 100
TEIL II
Wie TTIP in unseren Alltag eingreift
5 Die Demontage der Vorsorge . . . . . . . . . . . . 133
6 Ausgehöhlt: Der Schutz vor Giften . . . . . . . . . . . . 143
7 Bedroht: Der Kampf um gutes Essen . . . . . . . . . . . . 154
8 Gefangen im Status quo: Das Desaster in der Landwirtschaft . . . . . . . . . . . . 170
– Brussels, USA . . . . . . . . . . . . 179
– Brüssel, Europa . . . . . . . . . . . . 183
– Der Stall als Hospital . . . . . . . . . . . . 187
– Freihandelsvieh . . . . . . . . . . . . 196
9 Der Sog nach unten: Die neue Arbeitswelt . . . . . . . . . . . . 202
Fazit: TTIP stoppen . . . . . . . . . . . . 223
Dank . . . . . . . . . . . . 229
ANHANG
Chronologie: Der lange Weg zu den TTIP-Verhandlungen . . . . . . . . . . . . 233
Grafik: TTIP-Verhandlungen und Entscheidungsprozesse . . . . . . . . . . . . 235
Dokumentation des Schriftwechsels mit Regierungsmitgliedern . . . . . . . . . . . . 238
Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . 246
► Leseprobe:
TEIL I
Was ist TTIP?
Die Politik unterwirft sich Konzerninteressen
1 Das Kartell der Verharmloser
Die Arroganz der Macht, sie zeigt sich an diesem Tag im Mai 2014 gleich mehrfach. In Berlin wollen Aktivisten der Organisation Campact 470 000 Unterschriften gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP zwischen der Europäischen Union und den USA an Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel übergeben. Sie haben dafür eine öffentliche Veranstaltung Gabriels mit dem EU-Handelskommissar Karel De Gucht gewählt, auf der die beiden Stellung beziehen wollen zur Kritik an TTIP. Doch der Auftritt der Politiker bleibt vielen als ziemlich arrogant in Erinnerung. Karel De Gucht, Europas Handelsminister und TTIP-Chefverhandler, hält den 470 000 Unterzeichnern des Anti-TTIP-Appells den Satz entgegen: »Ich vertrete 500 Millionen.« Und Sigmar Gabriel hat für die Entgegennahme der Unterschriften keine Zeit. Das darf ein Vizekanzler und SPD-Chef: keine Zeit haben. Was er nicht darf: 470 000 Menschen für dumm verkaufen. Aber Sigmar Gabriel tut es, er sagt: »470 000 Unterschriften zu sammeln gegen etwas, das es noch gar nicht gibt, das muss man erst mal machen.«TTIP ein Phantom – darauf muss man erst mal kommen.
Für »etwas, das es noch gar nicht gibt«, ist TTIP zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich weit gediehen, freilich weitgehend im Geheimen. Bereits seit 2011 reden die EU und die USA über ein mögliches Freihandelsabkommen. Ein Sonderteam aus Experten der US-Regierung und der EU-Kommission, die »High Level Working Group on Jobs and Growth«, sondierte zunächst die Möglichkeiten einer tieferen transatlantischen Zusammenarbeit. Mitte 2013 erteilte dann der Rat der europäischen Handelsminister (in Deutschland ist das der Wirtschaftsminister) der EU-Kommission das zunächst geheim gehaltene Mandat, über ein Freihandelsabkommen mit den USA zu verhandeln, Titel: Transatlantic Trade and Investment Partnership, kurz TTIP. Einen förmlichen Beschluss des Bundestags oder des EU-Parlaments gab es dazu allerdings nie – vielleicht ist es diese Tatsache, aus der Sigmar Gabriel den Schluss zieht, TTIP gebe es noch gar nicht.
Nur wenige Wochen nach Gabriels Satz veröffentlicht sein Koalitionspartner CDU eine Broschüre über dieses »Etwas, das es noch gar nicht gibt«. Dem angeblichen Phantom TTIP werden darin nun schon ganz reale Vorteile zugeschrieben: »So kann TTIP der deutschen Wirtschaft nutzen«, lautet der Titel. Daneben prangt ein Logo, es besteht aus einem orangefarbenen Kreis, darin die Silhouette einer Brücke, die an die Golden Gate Bridge in San Francisco erinnert, sowie der Slogan »TTIP – Brücke in die Zukunft«. Möglicherweise hofften die Macher der Broschüre, dass sich der Leser – dank TTIP – über die Golden Gate Bridge in eine in Gold-Orange getauchte Zukunft fahren sieht.
Als wäre sie der oberste Controller der deutschen Exportindustrie, gräbt sich die CDU in ihrer Broschüre tief in technische Details: »Airbags müssen für den EU- und den US-Markt völlig unterschiedlich kalibriert werden, weil die EU-Vorschriften von einem angeschnallten Fahrer ausgehen, die US-Vorschriften von einem nicht angeschnallten«, heißt es in dem Papier. »Rote Rückblinker (in den USA) und gelbe Rückblinker (in der EU) verteuern die Herstellungsprozesse ebenso wie nicht-einklappbare Seitenspiegel (USA) und einklappbare Seitenspiegel (in der EU) oder unterschiedliche Vorschriften zum Einsatz von Crash-Test-Dummys.«
Auch im Maschinenbau sieht die Partei großes Sparpotenzial: Wegen unterschiedlicher Vorschriften könnten technische Produkte wie Gasarmaturen, Gasrohre, Kabelbäume oder Sicherheitsventile aus Deutschland nur mit zusätzlichen Sonderbauteilen in die USA verkauft werden, trotz eines vergleichbaren Schutzniveaus. »Dies verteuert die Herstellungskosten und damit den Preis für den Endverbraucher unnötigerweise.« So wie man in der Vergangenheit innerhalb der Europäischen Union für einheitliche Standards gesorgt habe, »von der Telefonbuchse bis zur Netzspannung, von der Sicherheit unserer PKW bis zur Qualität unserer Lebensmittel«, so ließe sich in Zukunft durch TTIP auch der Austausch von Waren und Dienstleistungen mit den USA erleichtern. Geringere Zölle, weniger Bürokratie, gleiche Standards jeweils für Autos, Maschinen, Kosmetika, Textilien, Lebensmittel und vieles mehr – das sei die Formel für neue Absatzmärkte und neue Jobs, für eine größere Produktauswahl und niedrigere Preise, letztlich für mehr Geld im Geldbeutel jedes Einzelnen. »Von TTIP haben wir alle etwas: ob als Verbraucher oder Arbeitnehmer, ob als Verkäufer oder Arbeitgeber, ob als Leistungsträger oder Leistungsempfänger.« So steht es neben der Silhouette der Golden Gate Bridge im warmen Abendlicht, der »Brücke in die Zukunft.«
In den Aussagen deutscher Regierungsvertreter und anderer TTIP-Befürworter steckt oft ein irritierendes Pathos, ein krasses Missverhältnis zwischen der Behauptung – geringere Zölle, Angleichung technischer Standards – und ihrer angeblichen Bedeutung. Die rhetorisch sonst so unambitionierte Bundeskanzlerin mahnte in martialischem Ton, ihre Partei werde TTIP »gegen alle Widerstände durchkämpfen«, die EU müsse das Abkommen »mit Haut und Haaren« verhandeln; Angela Merkel verglich die Debatte um das Freihandelsabkommen sogar mit jener um den Nato-Doppelbeschluss in den 1980er Jahren, die die Gesellschaft in zwei Lager spaltete.
Merkels Vize, SPD-Chef Sigmar Gabriel, lud die Debatte im Bundestag moralisch auf: »Wenn wir das hier falsch machen, werden unsere Kinder uns verfluchen.« Scheitere TTIP (und das zwischen der EU und Kanada bereits weitgehend verhandelte Freihandelsabkommen CETA), könnten »viele hunderttausend Menschen in Deutschland« ihren Job verlieren, der Exportnation Deutschland drohe »eine mittlere Katastrophe«. Daimler-Chef Dieter Zetsche sorgte sich, Deutschland und die EU würden ohne TTIP eine »historische Chance« verpassen, der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, Joachim Pfeiffer, sprach von einer »Jahrhundert-Chance«. Kann man das ernst nehmen: dass uns unsere Kinder verfluchen werden, wenn wir die Farben von Rückblinkern nicht vereinheitlichen? TTIP – eine »Jahrhundert-Chance«? Geht es noch größer? Wird als Nächstes von »Sünde« gesprochen, wenn Menschen trotzdem Fragen stellen?
Merkel, Gabriel & Co. appellieren an diffuse Ängste, wenn sie behaupten, ohne das Abkommen würden Deutschland und Europa »den Anschluss an asiatische Länder verlieren«, sich sogar »von den Weltmärkten abkoppeln«. Jenseits von Wachstum und neuen Jobs sprechen für den US-Botschafter bei der Europäischen Union, Anthony Gardner, »geostrategische Gründe« für TTIP: Der Blick auf den Mittleren Osten oder auf Russlands Ukrainepolitik mache deutlich, dass TTIP die transatlantische Allianz wirtschaftlich festigen könne, so wie die Nato das in militärischer Hinsicht leiste: »Wir müssen die Regeln im Welthandel setzen, bevor es andere tun«, so Anthony Gardner, »TTIP ist aus vielerlei Gründen nicht nur wichtig, sondern unverzichtbar.« In solchen Sätzen schwingt Angela Merkels berühmtes Wort von der Alternativlosigkeit mit: TTIP – wir haben keine Wahl. Und sollten wir dennoch die falsche treffen, bezahlen wir dafür bitter.
Berlin, im Juli 2014: Auf der Bühne eines Konferenzsaals der Friedrich-Ebert-Stiftung sitzt George Miller aus San Francisco, er nimmt an einer Podiumsdiskussion über Freihandelsabkommen teil. Miller ist nicht irgendein US-Politiker. Mit vierzig Jahren als Kongressabgeordneter gehört er zu den Dienstältesten in Washington, Miller gilt in den USA als ein politisches Schlachtross. Der Demokrat aus Kalifornien ist kein Gegner des Freihandels. Es käme ihm wohl nie in den Sinn, gegen ein Abkommen wie TTIP zu argumentieren, würde es nur Doppeltests überflüssig machen, technische Standards einander angleichen, sinnlose Zölle aus grauer Vorzeit abschaffen.
Dennoch hat George Miller Ende 2013 einen Brief an seinen Präsidenten und Parteifreund Barack Obama initiiert, den mehr als ein Drittel der 435 Kongressabgeordneten unterschrieben haben. Der Brief richtet sich gegen das geplante sogenannte »Fast-Track«-Gesetz, eine Art Schnellverfahren, das die Befugnisse der US-Regierung beim Aushandeln von Freihandelsverträgen massiv ausdehnt und jene des US-Kongresses entsprechend einschränkt. Die Abgeordneten könnten demnach bei der Abstimmung über TTIP und andere Freihandelsabkommen nicht mehr einzelne Inhalte des Vertragsentwurfs verändern, sondern nur noch mit »Ja« oder »Nein« über den Vertrag als Gesamtpaket abstimmen. Sie hätten nicht mehr die Möglichkeit, die Idee mit den gleichfarbigen Rückblinkern gutzuheißen und gleichzeitig gegen laxere Regeln bei der transatlantischen Bankenregulierung zu stimmen.
Am Ende seiner langen politischen Karriere ist George Miller an diesem Tag im Sommer 2014 noch einmal nach Berlin gekommen, um seine deutschen Zuhörer in ihrem Widerstand gegen TTIP zu bestärken. Hunderttausende, gar Millionen neuer Jobs durch TTIP? »Ein Märchen«, antwortet Miller. Mehr Wachstum und Wohlstand für alle durch die Integration der Wirtschaftsräume USA und EU zur größten Freihandelszone der Welt? »Es muss um die Interessen der Bürger gehen, nicht um die der Konzerne«, entgegnet der Mann aus San Francisco, »bei TTIP wäre es wie bei einer Lotterie: wenige Gewinner, viele Verlierer.«
Vor allem aber empfinden George Miller und die übrigen Unterzeichner seines Briefs an Präsident Obama eine »tiefe Besorgnis« angesichts der Reichweite heutiger Freihandelsabkommen – eine Tatsache, die das Lager der Befürworter meist völlig ausblendet. Denn: Heutige Freihandelsabkommen beschränken sich nicht auf die Angleichung technischer Standards für Autos und Maschinen, sie zielen nicht nur darauf ab, Zölle auf Importe zu senken oder abzuschaffen. Verträge wie das geplante TTIP berühren fast sämtliche Politikfelder vom Umweltschutz und der Landwirtschaft über das Arbeitsrecht bis zum Gesundheitswesen; sie greifen ein in den Patent- und Datenschutz, in die Standards für Lebensmittel und Chemikalien, sie betreffen Fragen der Energiegewinnung wie im Fall des Frackings, sie können die Regulierung der Banken verschlechtern und den Schutz ausländischer Investoren verbessern.
Was daran am meisten beunruhigt: TTIP greift auch in die Gesetzgebung auf nationaler und europäischer Ebene ein, das Abkommen beschneidet die Rechte nationaler und europäischer Parlamente, ja, TTIP birgt das Risiko, die nationale und europäische Justiz durch eine Paralleljustiz zu schwächen.
Die Gesellschaft hat deshalb Anspruch auf eine gründliche, ehrliche und völlig transparente Debatte. Doch das Pro-TTIP-Lager bagatellisiert jeden Einwand oder es überhöht TTIP zum »geostrategischen« Instrument, zur »Wirtschafts-Nato«, als herrsche kalter Krieg. Die wahre Bedeutung des Freihandelsabkommens wird verschwiegen.
Das muss jeden Bürger, der die Konsequenzen von TTIP zu tragen hätte, besorgen und wütend machen. Und noch mehr macht es Parlamentarier wie George Miller wütend, der seinen Standpunkt sonst sehr gelassen darlegt. Das Publikum der Veranstaltung in Berlin kann seine Erregung spüren, als er sagt: »Bei dieser enormen Bedeutung heutiger Handelsabkommen ist es schlicht unwürdig, wie wir Kongressabgeordneten behandelt werden. Man speist uns mit lückenhaften Dokumenten ab, andere Dokumente bekommen wir überhaupt nicht zu sehen. Unter solchen Umständen können wir unseren Verfassungsauftrag nicht ausüben und verantwortliche Politik für unsere Bürger machen. Wir sind gewählt worden und nicht diejenigen, die jetzt solche Abkommen in unserem Namen aushandeln. Es ist eine Beleidigung für ein gewähltes Parlament, für die Demokratie.«
Was George Miller über die Missachtung des US-Kongresses sagt, gilt genauso für Europa und Deutschland: Weder das Europaparlament noch der Bundestag waren durch förmliche Beschlüsse beteiligt, als die Regierungen Europas der EU-Kommission das lange Zeit geheim gehaltene Mandat erteilten, mit den USA über TTIP zu verhandeln. Und so wie sich Miller als Parlamentarier missachtet fühlt, so fühlen sich Europa- und Bundestagsabgeordnete in ihren Rechten missachtet und marginalisiert durch die unsägliche Geheimhaltungspolitik bei den laufenden TTIP-Verhandlungen. Anstatt Abgeordnete und Bürger mit belastbaren Informationen zu versorgen, schüren verantwortliche TTIP-Befürworter Angst oder sie kontern Kritik mit dem Argument, die sei erst legitim, wenn das Abkommen fertig verhandelt sei. Dabei ist Fakt: Ist der Vertrag erst einmal zu Ende verhandelt, wird das Mitwirkungsrecht der Parlamente auf ein einfaches »Ja« oder »Nein« reduziert. Schlimmer noch: Anders als Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel suggeriert, ist noch nicht einmal sicher, ob die nationalen Parlamente das Abkommen am Ende überhaupt ratifizieren müssen.
Verfolgt man die zunehmend aggressiver werdenden Äußerungen derer, die das geplante Abkommen begrüßen, könnte man den Eindruck gewinnen, es wären nur ein paar ideologisch verbohrte Umweltschützer, Sozialstaatsträumer und ewige Globalisierungsgegner, die mit ihren Nichtregierungsorganisationen gegen TTIP opponieren, getrieben von einer Mischung aus Antiamerikanismus und Verschwörungstheorien. Aber das ist falsch. Es sind Millionen Menschen, Amerikaner und Europäer, Prominente und Nichtprominente, US-Parlamentarier und deutsche Oberbürgermeister, Gewerkschafter aus Philadelphia und Verbraucherschützer aus Marseille, spanische Unternehmer und österreichische Wissenschaftler, die TTIP für gefährlich halten.
Der Multimilliardär und frühere Bürgermeister von New York, Michael Bloomberg, ist ein glühender Verfechter desökonomischen Prinzips; aber er kritisiert scharf, wie »die Tabakindustrie Freihandels- und Investitionsabkommen dazu benutzt, nationale Gesetze anzugreifen, die den Tabakkonsum eindämmen sollen«. Dies sei ein Ausverkauf nationaler Souveränität, der Millionen von Toten zur Folge haben könne. Vehemente Unterstützung erhält Bloomberg von Margaret Chan, der Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation WHO: »Internationaler Handel hat gute und schlechte Konsequenzen für die Gesundheit der Menschen. Verstörend ist, wenn Investitionsabkommen dazu missbraucht werden, Regierungen die Handschellen anzulegen, die vor einem Produkt schützen wollen, das tötet. Wenn diese Handelsabkommen auch noch den Zugang zu bezahlbaren Medikamenten einschränken, müssen wir uns fragen: Ist das der Fortschritt, den wir wollen?«
Alain Caparros, Chef der zweitgrößten deutschen Supermarktkette Rewe, irritiert an TTIP nicht nur, dass es »hinter verschlossenen Türen« verhandelt wird. In einem Brief an die deutschen Mitglieder des Europaparlaments äußerte Caparros seine »große Sorge vor einer Kehrtwende in der Verbraucherschutzpolitik zugunsten US-amerikanischer Importprodukte«. Gemeint sind damit zum Beispiel die in den USA erlaubte Hormonbehandlung von Rindern und Schweinen, Chlorbäder für geschlachtete Hühner und die Genmanipulation von Nahrungspflanzen. Alain Caparros forderte die Abgeordneten auf, »als vehemente Hüter« europäischer und deutscher Lebensmittel- und Sozialstandards aufzutreten.
In der New York Times argumentierte der Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, Freihandelsabkommen seien Ausdruck für das »krasse Missmanagement der Globalisierung«: »Die Freihandelstheorie besagt, dass es zwar immer Gewinner und Verlierer gibt, aber auch, dass die Gewinner die Verlierer kompensieren und am Ende alle einen Vorteil haben. Aber leider beruht diese Behauptung auf vielen falschen Annahmen. Es besteht die reale Gefahr, dass allein die Reichsten der amerikanischen und globalen Elite profitieren und dass die Ungleichverteilung weiter zunimmt. Auch das Risiko wachsender Arbeitslosigkeit ist nicht von der Hand zu weisen. Handelsminister auf der ganzen Welt sind gefangen von Wirtschaftsinteressen. Umso gefährlicher ist es, sie im Geheimen verhandeln zu lassen, weil dann keine demokratischen Kontrollmechanismen mehr greifen, um die negativen Folgen solcher Verträge einzuhegen.«
Christoph Scherrer, Leiter des Fachgebietes »Globalisierung und Politik« an der Universität Kassel und Direktor des International Center for Development and Decent Work (ICDD), sagte in einem Interview mit der Deutschen Welle: »Mir scheint, dass TTIP vor allem Konzerninteressen bedient. Der Forderungskatalog ist im Wesentlichen ein Abbild der Forderungen der großen Wirtschaftsverbände. Mir ist kein Abkommen bekannt, bei dem Standards nach oben gingen. Abkommen zielen immer darauf ab, Standards eher zu senken, damit die internationale Konkurrenz Zugang zu Märkten erhält.«
Die vier Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, des Deutschen Landkreistages, des Deutschen Städte- und Gemeindebundes sowie des Verbands kommunaler Unternehmen verweisen in einem gemeinsamen Positionspapier auf die »erheblichen Risiken« durch TTIP: »Das Freihandelsabkommen darf die … wichtigen Dienstleistungen der Kommunen nicht beeinträchtigen«; durch Marktzugangsverpflichtungen in TTIP »könnte die kommunale Selbstverwaltung ausgehöhlt werden«, kommunale Dienstleistungen wie die Wasserversorgung, der Öffentliche Personennahverkehr, Sozialdienstleistungen oder Krankenhäuser dürften nicht durch das Abkommen tangiert werden.
Im Magazin Focus schrieb mahnend Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, das Abkommen dürfe nicht allein wirtschaftlichen Interessen dienen: »Während die Vorteile im technischen Bereich auf der Hand liegen, stellt sich dies im Hinblick auf bestehende Standards etwa in der Sozialpolitik oder im Umweltschutz kritisch dar. TTIP kann nur dann ethisch akzeptiert werden, wenn es auch den Armen und Schwachen Perspektiven eröffnet.« Aus Sicht der katholischen Soziallehre frage er sich daher: »Hält das geplante Abkommen dem Anspruch stand, dem Gemeinwohl, ja dem Weltgemeinwohl zu dienen?«
Für derlei sachlich vorgetragene, fundierte Einwände hat EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) nur Spott übrig: »Die Aufregung von Bischöfen, Nichtregierungsorganisationen und Ami-Go-Home-Altgruppen ist fatal«, sagte der Deutsche. Er verhöhnt damit Millionen von Menschen, die in mehr als tausend Städten in ganz Europa gegen TTIP auf die Straße gingen; und er verhöhnt die weit über eine Million Europäer, die ihre Unterschrift gegen den geplanten Vertrag abgegeben haben.
Doch der Widerstand wächst: Während nach einer repräsentativen Emnid-Umfrage im Februar 2014 noch 55 Prozent der Deutschen ihre Zustimmung zu TTIP gaben, sah im Herbst desselben Jahres nicht einmal mehr die Hälfte (48 Prozent) aller Deutschen das geplante Abkommen positiv – und im Februar 2015 nur noch eine Minderheit von 39 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl derer, die TTIP für »eine schlechte Sache« hielten, von 25 über 32 auf 40 Prozent.
Die Menschen sind misstrauisch geworden angesichts des hohen Maßes an Intransparenz und einer Geheimnistuerei, die eher an Abrüstungsverhandlungen erinnert – dabei soll TTIP angeblich doch allen nur Vorteile bringen. Sie sind empört darüber, dass die TTIP-Verhandler einseitigen Kontakt zu Wirtschaftslobbyisten pflegen, während sie die Zivilgesellschaft mit Info-Häppchen abspeisen oder sie sogar bewusst täuschen. Es ist unredlich, dass Regierungschefs und EU-Politiker immer nur über das angebliche Wirtschaftswachstum und mögliche neue Jobs durch TTIP reden, aber nie über die Risiken. Auch ist der Aussage zu widersprechen, dass die bestehenden Umwelt-, Verbraucher- und Sozialstandards bereits einem unübertreffbaren »Goldstandard« entsprechen. Man muss sich fragen, was mit diesen angeblichen »Goldstandards« passieren wird, wenn sie durch TTIP unter den Druck eines weiter verschärften Wettbewerbs geraten. US- und EU-Bürger wollen nicht akzeptieren, dass das Handelsabkommen etwa französischen Investoren in den USA und US-Investoren in Dänemark durch eine Paralleljustiz einen höheren Rechtsschutz einräumen soll als den Unternehmen im eigenen Land. Sie ahnen, dass das Abkommen zwar freien, aber nicht fairen Handel fördert, dass es die Armen ärmer und die Reichen reicher machen wird. Und es steht zu befürchten, dass die Parlamentarier in den betroffenen Ländern – wenn sie denn überhaupt gefragt werden – unter höchstem Druck einem Vertragsabschluss zustimmen, dessen tatsächlichen Preis sie noch gar nicht kennen können, weil sich der erst im Lauf der Jahre Stück für Stück zeigen wird.
Je mehr über TTIP an die Öffentlichkeit dringt, umso weniger glauben die Bürger der Bundesregierung die Märchen über Wachstum, Wohlstand und den Schutz ihrer Rechte. Und umso mehr begreifen sie, dass es bei TTIP nur ganz am Rande um normierte Kabelbäume geht. Es geht bei TTIP um die Verrechtlichung von Konzerninteressen, um die reale Gefahr, dass gesellschaftspolitische Errungenschaften Stück für Stück ausgehöhlt, Umwelt-, Verbraucherschutz- und Arbeitnehmerstandards eingefroren werden. TTIP würde das Recht der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten einschränken, weiterhin autonom Gesetze zu beschließen, die mehr am Gemeinwohl orientiert sind als an Konzerninteressen. Die notwendige, demokratisch legitimierte Weiterentwicklung von Schutzrechten in den USA und in Europa wäre in Zukunft abhängig von der Zustimmung des Handelspartners. TTIP in seiner geplanten Form ist eine Bedrohung für unsere Demokratie.
Auch von Gegnern eines Freihandelsabkommens, das ist einzuräumen, werden manche übertriebenen Befürchtungen und unzulässigen Vereinfachungen in die Debatte geworfen. Das gibt den TTIP-Befürwortern jedoch nicht die Lizenz, Einwände, Fragen und Kritik zu ignorieren, zu bagatellisieren und selbst Angst zu schüren vor einer Zukunft ohne TTIP. Beispielhaft zeigt das der Blog-Beitrag des Bundestagsabgeordneten und CDU-Präsidiumsmitglieds Jens Spahn, der sich am Symbol der TTIP-Debatte, dem Chlorhuhn, abarbeitet. »Chlorhuhnangstsuppe« – so betitelt er sein »Plädoyer für TTIP«, in dem er Warner und Kritiker quasi zu Angsthasen, Nörglern und Antiamerikanern stempelt: »Chlorhuhn, Intransparenz, scheinbar niedrige Standards in den USA – ein wildes Zusammenspiel aus Ängsten und Befürchtungen bestimmt die Auseinandersetzung mit den TTIP-Verhandlungen. Gewürzt wird diese neue Dagegen-Suppe mit einer kräftigen Prise Amerika-Skepsis …«
Auch Jens Spahn kommt in seiner Argumentation für TTIP nicht ohne den unsinnigen Vergleich mit der Nato aus (»Gemeinsam bleiben wir stark«), so als stünden Europa und Amerika im Wirtschaftskrieg mit feindlichen Ländern, und er trifft die für einen Parlamentarier bemerkenswerte Aussage, die Forderung nach transparenten Verhandlungen sei »absurd«. Absurd ist eher, dass ein Volksvertreter offenbar ungerührt hinnimmt, wie EU-Beamte und Lobbyisten einen völkerrechtlichen Vertrag mit weitreichenden Konsequenzen aushandeln, ohne dass Abgeordnete wie er irgendein Mitspracherecht haben.
Spahn, dessen politischer Gestaltungswille komplett erlahmt scheint, fragt seine Leser: »Was würdet ihr lieber essen? Ein ›Antibiotika-Huhn‹ oder ein Chlorhuhn?« Er spielt damit an auf Hühnerfleisch, das in US-amerikanischen Schlachthöfen zur Desinfektion mit Chlordioxid gereinigt wird, während Hühner in Europa (aber auch in den USA) oft vorsorglich mit Antibiotika gefüttert werden, damit sich Krankheiten in der Intensivtierhaltung erst gar nicht ausbreiten. »Was würdet ihr lieber essen? Ein ›Antibiotika-Huhn‹ oder ein Chlorhuhn?« Spahns Antwort ist entlarvend: »Eine Kennzeichnungspflicht wäre das Einfachste und Beste. Der mündige Verbraucher könnte selbst entscheiden, welches Fleisch er kaufen möchte. Das würde auch dem Transparenzbedürfnis aller sehr viel näher kommen als ein plumpes Verbot, das aus Angst vor Neuem und Unbekanntem erlassen wird. Dabei wird bei einem Schwimmbadbesuch weitaus mehr Chlor aufgenommen als beim Verzehr von US-Hühnchen. Übrigens: Fleisch und andere Produkte aus Rumänien oder Bulgarien können in der EU frei zirkulieren.«
Davon abgesehen, dass Spahn mit seinem raunenden Hinweis auf die »hygienischen Bedingungen« in Osteuropa selbst Ressentiments schürt, gibt er hier eine politische Bankrotterklärung ab, denn übersetzt bedeutet das: Pech, liebe Verbraucher, ihr habt nur die Wahl zwischen Antibiotikahühnchen und Chlorhühnchen, und mit einer Kennzeichnungspflicht wisst ihr zumindest, welches von den zwei schlechten Hühnchen ihr esst. Seid nicht so anspruchsvoll, aus Rumänien und Bulgarien kommt Fleisch, das vielleicht noch viel bedenklicher ist.
Jens Spahns TTIP-Blogeintrag ist 1200 Wörter lang, aber kein einziges verwendet der Gesundheitspolitiker auf die Frage, ob die Menschen nicht Anspruch hätten auf mehr als die Wahl zwischen zwei schlechten Alternativen. Das ist ein Plädoyer für klassischen Unterbietungswettbewerb und gibt eine Vorahnung davon, was uns mit TTIP blüht. Sein Kommentar markiert das Ende von gestaltender Politik für die Bürger. Es ist Zeit für die Zivilgesellschaft, in Europa wie in den USA, sich zu wehren und Besseres einzufordern.
Leseprobe aus dem Buch von Thilo Bode: "Die Freihandelslüge. Warum TTIP nur den Konzernen nützt – und uns allen schadet. Kapitel 1."
► Video 1: Was ist TiSA? Rayk Anders erklärt Euch TiSA kurz und prägnant in knapp 6 Minuten:
Video 2: TTIP - Freihandelsabkommen - Gefährliche Geheimnisse von 3sat / Dokuhelden DH, Dauer 1:30 (toll gemacht)
Video 3: Experten Check Was der Handelsgerichtshof in TTIP wirklich bedeutet - Dauer 5:48 Min.
► Grafik- und Bildquellen:
1. Europäische Kommission (EU-Kommission). Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs (WiKa) - QPress.de .
2. USA fucks Europe! Das Transatlantische Freihandelsabkommen, offiziell Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (englisch Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP, früher Trans-Atlantic Free Trade Agreement, TAFTA), ist ein unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandeltes Freihandels- und Investitionsschutzabkommen in Form eines völkerrechtlichen Vertrags zwischen der Europäischen Union und den USA. Die genauen Vertragsbedingungen werden seit Juli 2013 ausgehandelt, dieser Prozess ist nicht nur intransparent, sondern beschleunigt den Entdemogratisierungsprozess.
Ur-Grafik: Christopher Dombres. Quelle: Flickr. (Bild nicht mehr verfügbar) Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0). Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.de.
3. Buchcover: "Thilo Bode: Die Freihandelslüge. Warum TTIP nur den Konzernen nützt – und uns allen schadet." Verlag: DVA. ISBN: 978-3-421-04679-6. Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 272 Seiten, € 14,99 [D] | € 15,50 [A] | CHF 20,50 * (* empf. VK-Preis)
4. "Ware" Demokratie ist, wenn Politker den Willen von Konzernen und deren Lobby politisch gesetzlich durchsetzen und sich zum Ausgleich dafür von den Bürgern wählen und bezahlen lassen!" Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.
5. Kapitalistische Demokratie. Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.
6. Buchcover: "Thilo Bode: Die Freihandelslüge. Warum TTIP nur den Konzernen nützt – und uns allen schadet." Verlag: DVA. ISBN: 978-3-421-04679-6. Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 272 Seiten, € 14,99 [D] | € 15,50 [A] | CHF 20,50 * (* empf. VK-Preis)
7. TTIP & CETA STOPPEN! Unter dem Motto „TTIP & CETA stoppen! Für einen gerechten Welthandel“ haben am 10. Oktober 2015 etwa 250.000 Menschen bei einer Großdemonstration im Herzen von Berlin gegen die Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA (TTIP) sowie Kanada (CETA) protestiert. Auch in anderen EU-Staaten gab es Proteste - insgesamt gingen mehrere Millionen Europäer/innen auf die Straße gegen TTIP und CETA. Nie zuvor sind in Europa mehr Menschen zu diesem Thema auf die Straße gegangen. Zur Demonstration aufgerufen hatte ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis: www.mehr-demokratie.de/stopttip-grossdemo.html.
Foto: Edda Dietrich / Mehr Demokratie. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Generic (CC BY-SA 2.0).
8. TTIP = DEMOKRATIE. Foto entstand während der Demo "TTIP-stoppen" zum G7-Treffen am 04.06.2015 in München. Fotograf: © Frederick Dietze > seine Webseite: www.southvibez.de > Facebook. Die Rechte verbleiben beim Fotograf! Herzlichen Dank für die freundliche Freigabe zur Veröffentlichung im KN.
9. "DIE ABKOMMEN TTIP UND TiSA - wie die EU Lohndumping vorantreiben, die Umsetzung von Sozialstandards untergraben und geltendes Recht umgehen will." Foto: Artsenal Wordpress. Quelle: Rosa-Luxemburg-Stiftung Gesellschaftsanalyse und politische Bildung e. V. > Homepage > Foto aus einem Eventflyer
10. Dr. Angela Merkel - Bankenrettung, (Wirtschafts-)Wachstumswahn, Solizuschlag, Freihandelsabkommen TTIP, NATO-Osterweiterung, Spardiktatur gegenüber immer mehr verelende Menschen in den EU-Mitgliedsländern (aktuell bes. die Griechen) etc. - alles alternativlos. Aus der Betroffenheit über den Verlust der Opfer von Charlie Hebdo wird Geschäft gemacht. Ängste und Islamophobie werden geschürt, Überwachungsmechanismen werden ausgebaut, kapitalisitische und imperialistische Interessen werden konsequent weiterverfolgt. Der Tod tausender und die Verelendung von Millionen Menschen werden auch weiter hingenommen.
Urheber: Javier CruX. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Attribution-NonCommercial-ShareAlike 2.0 Generic (CC BY-NC-SA 2.0).
11. Liberty Facing Tidal Wave of Trade Aggreements. Bildbearbeitung: The Statue of Liberty is adapted from a photo in the public domain available via Wikimedia. The wave is adapted from a Creative Commons licensed photo by Jeff Rowley available via Wikimedia. The ship is adapted from a photo in the public domain by Jeff Rowley available via Wikimedia.
12. Schluss mit Gift und Gentechnik - Vater mit Tochter. Foto: Jakob Huber / Campact. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0).
13. Grafik: "Die Verbindung hochkonzentrierter Unternehmensmacht mit einem autoritären Staat, der die politisch-ökonomische Elite auf Kosten des Volkes bedient, muss korrekterweise als ›Finanz-Faschismus‹ bezeichnet werden." (Robert Scheer, Financial Fascism, The Nation, 24.9.2008 ⇒ Artikel).
Engl. Originalversion: "The marriage of highly concentrated corporate power with an authoritarian state that services the politico-economic elite at the expense of the people is more accurately referred to as “financial fascism. After all, even Hitler never nationalized the Mercedes-Benz company but rather entered into a very profitable partnership with the current car company’s corporate ancestor, which made out quite well until Hitler’s bubble burst."
Grafik nach einer Idee von KN-ADMIN Helmut Schnug; technische Umsetzung: Wilfried Kahrs / QPress.
14. Genmanipuliertes Chlorhuhn: "Ich hab meinen Vater nie kennengelernt, aber Mama sagt, er ist ein Held und im Ersten Suppenkrieg gefallen." Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.de.
SPIEGEL ONLINE-Redakteurin Annett Meiritz - geht`s noch dümmer?
► Erklärvideo zu TTIP: "Nicht jeder Bürger muss am Prozess beteiligt sein!"
Annett Meiritz, geboren 1982, aufgewachsen in Schwerin. Studium der Geschichte und Medienwissenschaften in Düsseldorf. Freie Mitarbeit und Praktika u. a. bei RBB Inforadio, dem WDR Hörfunk und im ZDF Studio London. Ausbildung an der Berliner Journalisten-Schule. Seit 1. Dezember 2007 Redakteurin bei SPIEGEL ONLINE im Ressort Politik, seit Oktober 2011 in der Redaktionsvertretung Berlin.
EMAIL: Annett.Meiritz@spiegel.de
Quelle: Twitter-Account von Annett Meiritz: https://twitter.com/annmeiritz?lang=de
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Anscheinend hat Annett Meiritz noch nichts über die Folgen des NAFTA-Abkommens gehört! Aber solche Journalisten braucht das Land!
Annett Meiritz lässt auch den Begriff "Freihandelsabkommen" unangetastet. Dabei geht es bei den sogenannten Freihandelsabkommen ausschließlich um die Absicherung der exponentiell ansteigenden Geldvermögen der Finanzeliten.
Und diese Absicherung funktioniert nur mit Hilfe von
und selbstverständlich unter Ausschaltung demokratischer Standards und strikter Geheimhaltung vor der Öffentlichkeit.
Bedrohlich: Unter kapitalistischen Bedingungen können privat geschlossene Verträge nicht außer Kraft gesetzt werden. Das müssen wir verstanden haben, wenn wir über kapitalistische Strukturen wie TTIP, CETA & TiSA sprechen. Diese Strukturen sind nichts anderes als eine "Wirtschafts-NATO", mit der weltweit die wirtschaftliche Unterdrückung von anderen Staaten einhergeht. Und es geht bei dieser Wirtschafts-NATO auch darum, anderen Ländern dieser Erde Handelsbedingungen aufzuzwingen, die von den Mitgliedern der Wirtschafts-NATO vorgegeben sind. Hier ist vor allem an die Brics-Staaten zu denken.
Was soll die Beruhigungspille “Verzögerung” bei TTIP, wenn bereits geplant ist, CETA mit einem Ratsbeschluss (Europäischer Rat) vorläufig anzuwenden. Unter Berufung auf den Vertrag von Lissabon. Aus dem Artikel 218, Absatz 5 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geht hervor, dass nicht einmal die Zustimmung des Europa-Parlaments notwendig wäre. Sollte das Europaparlament abstimmen dürfen, dann wäre das reine Kosmetik.
Das Bundeswirtschaftsministerium (“Team Gabriel”) äußerte sich am 4. April 2016 wie folgt: “Die vorläufige Anwendung völkerrechtlicher Verträge der EU ist im EU-Verfassungsrecht vorgesehen und entspricht der üblichen, langjährigen Praxis bei EU-Freihandelsabkommen. Immerhin haben wir der EU die ausschließliche Kompetenz zur Aushandlung und zum Abschluss von Handelsabkommen übertragen.”
Zur Ablösung der "vorläufigen Anwendung" ist ausschließlich das "Inkrafttreten" eines Abkommens vorgesehen. Eine andere zeitliche Befristung gibt es nicht. Bei Verschleppung von Parlamentsentscheidungen könnte also die vorläufige Anwendung beliebig immer weiter gelten.
(Anmerk.: das Ukraine Abkommen wird vorläufig in Kraft treten, obwohl die Niederländer noch nicht zugestimmt haben!)
Die EU wird darüber am 13. Mai 2016 im Europäischen Rat beraten. (Und auch über den Streitpunkt, ob es sich um ein gemischtes Abkommen handelt).
Thilo Bode macht in seinem Buch “TTIP - Die Freihandelslüge” auf den Sachverhalt der “vorläufigen Anwendung” explizit aufmerksam. Wenn CETA erreicht ist, braucht über TTIP nicht mehr viel verhandelt werden. Die Großkonzerne haben eh schon ihre Niederlassungen in Kanada.
Marie-Luise Volk