Unpolitische Wissenschaft?
Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus
Autor: Andreas Peglau
Verlag: Psychosozial-Verlag, 35390 Gießen – zur Verlagsseite
ISBN-13: 978-3-8379-2097-0
635 Seiten, Gebunden, Euro 44,90
mit einem Vorwort von Helmut Dahmer und einem 50 Seiten umfassenden Dokumentenanhang.
Sie erhalten das Werk auch als E-Book bei Libreka – weiter
Von der Krankenbehandlung ausgehend, entwickelte sich Freuds Lehre zu einer Möglichkeit, sich selbst und die Welt zu erkennen – und zu verändern. Dieser gesellschaftskritische Anspruch wurde während des Nationalsozialismus weitestgehend in den Hintergrund gedrängt. Die nachhaltigsten Weichenstellungen zu einer »unpolitischen« Psychoanalyse erfolgten in den 1930er Jahren und waren eng verbunden mit dem Versuch, Konfrontationen mit dem NS-Regime zu vermeiden. Dass die Alternative einer aufklärerischen Psychoanalyse weiter bestand, zeigt das Wirken Wilhelm Reichs, der 1933/34 aus den analytischen Organisationen ausgeschlossen wurde.
Anhand von zum großen Teil erstmalig veröffentlichtem Archivmaterial geht der Autor Reichs Schicksal nach und folgt den Entwicklungen im analytischen Hauptstrom während der NS-Zeit. Dabei beantwortet er auch die Frage, ob die Psychoanalyse jemals eine unpolitische Wissenschaft war.
► Informationen zum Autor:
Andreas Peglau wurde 1957 in Berlin (Ost) geboren. Er studierte Psychologie an der Humboldt-Universität Klinische Psychologie. Nach dem Diplom war Peglau als Stellvertretender Leiter und Programmgestalter im Uni-Studentenklub tätig, danach als Redakteur im DDR-Jugendsender DT 64. Dort war er u.a. für Lebenshilfesendungen zuständig, in die er nach Möglichkeit psychoanalytische Ideen einbrachte (ab März 1989 mit Hans-Joachim Maaz). Für die Psychoanalyse interessiert sich Andreas Peglau seit Beginn seines Studiums, nicht zuletzt, weil ihm in der marxistischen Psychologie ein tiefgründiges Menschenbild fehlte.
In der Zeit der DDR-"Wende" gründete Peglau mit über 500 interessierten DDR-Bürgerinnen und -Bürgern den Verein ich-e.V. (zunächst "Gemeinschaft zur Förderung der Psychoanalyse"), den er die nächsten Jahre leitete. Als verantwortlicher Redakteur von "Ich - die Psychozeitung" schrieb er eine Vielzahl von Beiträgen.
2008 schloss Peglau seine Ausbildung zum tiefenpsychologischen/psychoanalytischen Therapeuten ab, praktiziert seitdem in Berlin. 2013 wurde er an der Berliner Charité zum Dr. rer. med. promoviert mit dem Thema "Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus". Im selben Jahr erschien auch das hier vorgestellte Buch, welches über den renommierten Gießener Psychosozial-Verlag erhältlich ist.
Die Überzeugung, dass ökonomische, politische, kulturelle Umwälzungen notwendig sind aber nicht ausreichen, sondern durch psychosoziale Veränderungen flankiert werden müssen, durchzieht Peglaus Denken und seine Aktivitäten in den letzten fast 40 Jahren.
Er musste lernen, die Psychoanalyse, erst recht in ihrem gegenwärtigen medizinalisierten, institutionalisierten und vermeintlich "unpolitischen" Zustand sehr kritisch zu sehen. Für unverzichtbar hält Peglau dennoch weiterhin die (selbst)kritische Aufarbeitung individueller Lebensgeschichte - auch in therapeutischer Form.
► Inhaltsverzeichnis:
Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und die Politik
Vorwort von Helmut Dahmer . . . . . . . . . . . . . . . 11
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . 19
1 Vorspiele . . . . . . . . . . . . . . . 41
1.1 Frühe Prägungen . . . . . . . . . . . . . . 41
1.2 Reich in Wien . . . . . . . . . . . . . . 42
1.3 Sexualerregung . . . . . . . . . . . . . . . 57
1.3.1 Bilaterale Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . 58
1.3.2 »Schundkampf« . . . . . . . . . . . . . . . 61
1.3.3 Sieg in erster Instanz: Das Verfahren vor der Berliner Prüfstelle . . . . . . . . . . . . . . 64
1.3.4 Niederlage in Leipzig: Die Verhandlung vor der »Oberprüfstelle« . . . . . . . . . . . . . . . 67
1.3.5 Psychoanalyse und Sexualwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . 70
1.3.6 Unerwarteter Beistand . . . . . . . . . . . . . . 72
1.4 Reich in Deutschland 1930 bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . 73
1.4.1 Gegen den Paragrafen 218 . . . . . . . . . . . . . . 80
1.4.2 Die Marxistische Arbeiterschule MASCH . . . . . . . . . . . . . . 84
1.4.3 Die Massenorganisationen der KPD . . . . . . . . . . . . . . . 91
1.4.4 Die Einheitsverbände für proletarische Sexualreform und Mutterschutz . . . . . . . . . . . . . . . 92
1.4.5 Weitere EV-Aktivitäten: Sexualberatung und die Warte . . . . . . . . . . . . . . 103
1.4.6 Massenorganisation oder »kleine Splittergruppe«? . . . . . . . . . . . . . . . 108
1.4.7 Parteiinterne Spannungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . 115
1.4.8 Der sexuelle Kampf der Jugend . . . . . . . . . . . . . . .117
1.4.9 Der Einbruch der Sexualmoral . . . . . . . . . . . . . . 123
1.4.10 Für und wider den Todestrieb . . . . . . . . . . . . . . . 127
1.4.11 Der Masochismus-Artikel: Reichs Freud-Widerlegung . . . . . . . . . . . . . . . 130
1.4.12 Freud und der Kommunismus . . . . . . . . . . . . . . . . 137
1.4.13 Psychoanalyse in der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . 141
1.4.14 Eskalation in der KPD . . . . . . . . . . . . . . . 146
1.4.15 Diffamierungen von »rechts« . . . . . . . . . . . . . . . 158
1.5 Ein letztes Mal Wien . . . . . . . . . . . . . . . 161
2 Psychoanalytische Schriften und Wilhelm Reich in der Zeit des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . 167
2.1 Bücherverbrennung . . . . . . . . . . . . . . . 167
2.1.1 Die »Feuersprüche« . . . . . . . . . . . . . . . 169
2.1.2 Mögliche Inspiratoren . . . . . . . . . . . . . . 171
2.1.3 Der 10. Mai 1933 . . . . . . . . . . . . . . . 174
2.1.4 Reichs möglicherweise verbrannte Bücher . . . . . . . . . . . . . . . 179
2.2 Publikationsverbote I: Die 1933er Kampfbundlisten . . . . . . . . . . . . . . . 181
2.2.1 Zensoren . . . . . . . . . . . . . . . 181
2.2.2 Die Kriterien und ihre Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . 188
2.2.3 Opfer . . . . . . . . . . . . . . . 194
2.2.4 Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . 202
2.3 Publikationsverbote II: Die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« . . . . . . . . . . . . . . . 205
2.4 Publikationsverbote III: Weitere Zensurinstanzen. . . . . . . . . . . . . . . 212
2.5 Hauptbetroffene der NS-Bücherverfolgung. . . . . . . . . . . . . . . 214
2.6 Reichs verbotene Schriften. . . . . . . . . . . . . . . 216
2.7 Gab es psychoanalytische Schriften, die sich offen gegen den Faschismus wandten? Eine Suche. . . . . . . . . . . . . . . 221
2.8 Die Massenpsychologie des Faschismus. . . . . . . . . . . . . . . 241
2.8.1 Vorerfahrungen. . . . . . . . . . . . . . . 241
2.8.2 Inhalt. . . . . . . . . . . . . . . 247
2.8.3 Reaktionen. . . . . . . . . . . . . . . 259
2.9 Trennung von der Psychoanalyseorganisation. . . . . . . . . . . . . . . 268
2.9.1 Gefährdetes Exil. . . . . . . . . . . . . . . 268
2.9.2 Der Luzerner IPV-Kongress. . . . . . . . . . . . . . . 270
2.9.3 Reichs biologische Experimente. . . . . . . . . . . . . . . 274
2.9.4 Diagnose als Waffe. . . . . . . . . . . . . . . 276
2.9.5 Allmähliches Ausblenden. . . . . . . . . . . . . . . 280
2.10 Reich und die »Linke« zwischen 1933 und 1939. . . . . . . . . . . . . . . 285
2.11 Das Ende der Sex-Pol-Bewegung. . . . . . . . . . . . . . . 296
2.12 Ausweisung, Observierung. . . . . . . . . . . . . . . 302
2.13 Ausbürgerung. . . . . . . . . . . . . . . 303
2.14 Reich als »Hochverräter« und »jüdischer Pornograph«. . . . . . . . . . . . . . . 312
2.15 Tolerierte und beworbene Psychoanalyse in NS-Publikationen. . . . . . . . . . . . . . . 319
2.15.1 Was ist (noch) Psychoanalyse?. . . . . . . . . . . . . . . 320
2.15.2 Veröffentlichungen von (ehemaligen) DPG-Mitgliedern. . . . . . . . . . . . . . . 323
2.15.3 Das Zentralblatt für Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . 362
2.15.4 Das Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. . . . . . . . . . . . . . . 375
2.15.5 Zwei medizinische Wochenschriften. . . . . . . . . . . . . . . 378
2.15.6 Der Völkische Beobachter und weitere Publikationen. . . . . . . . . . . . . . . 381
3 Wilhelm Reich nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . 385
3.1 Zwischen Neuanfang und zweiter Bücherverbrennung – Reich in den USA. . . . . . . . . . . . . . . 385
3.2 Realitätsblinder Sankt Wilhelm? Zum aktuellen Umgang mit Wilhelm Reich im Kontext der Psychoanalyse. . . . . . . . . . . . . . . 399
3.2.1 Diffamierung. . . . . . . . . . . . . . . 399
3.2.2 Abwertung. . . . . . . . . . . . . . . 403
3.2.3 Beschweigen. . . . . . . . . . . . . . . 405
4 Einordnungen und Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . 409
4.1 NS-Funktionäre und Psychoanalyse. . . . . . . . . . . . . . . 410
4.2 Freud über den Faschismus. . . . . . . . . . . . . . . 416
4.3 Antifaschistisches Engagement. . . . . . . . . . . . . . . 422
4.4 Das 1933er Memorandum. . . . . . . . . . . . . . . 426
4.5 Hauptakteure, Protegés. . . . . . . . . . . . . . . 429
4.6 »Neue deutsche Seelenheilkunde«. . . . . . . . . . . . . . . 438
4.7 »Arisierung«. . . . . . . . . . . . . . . 444
4.8 Zuarbeiten zur »Eugenik«. . . . . . . . . . . . . . . 446
4.9 Tiefenpsychologische Kriegsführung. . . . . . . . . . . . . . . 450
4.10 Geheimhaltung und Medienlenkung. . . . . . . . . . . . . . . 452
4.11 Wissenschaftspolitik. . . . . . . . . . . . . . . 455
4.12 Kulturrichtlinien. . . . . . . . . . . . . . . 457
4.13 Sexualität im Dritten Reich. . . . . . . . . . . . . . . 461
4.14 Die (nachlassende) Reflexion der Psychoanalyse. . . . . . . . . . . . . . . 474
4.15 Das lange Schweigen der Analytiker. . . . . . . . . . . . . . . 479
4.16 Unpolitische Psychoanalyse?. . . . . . . . . . . . . . . 486
4.16.1 Psychoanalytiker und US-Geheimdienste. . . . . . . . . . . . . . . 486
4.16.2 Freud und die Soziopolitik. . . . . . . . . . . . . . . 491
4.16.3 Wiederholungen. . . . . . . . . . . . . . . 497
5 Psychoanalyse: eine politische Wissenschaft. Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . 501
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . 519
Dokumente und Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . 521
Die wichtigsten Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . 573
Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 575
1 Quellen. . . . . . . . . . . . . . . 575
2 Literatur inklusive Nachschlagewerken und Texten von Webseiten. . . . . . . . . . . . . . . 587
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . 619
Vorschläge für Weiterführungen . . . . . . . . . . . . . . . 633
Das korrigierte und aktualisierte Personenregister (Stand Februar 2014) zum Buch »Unpolitische Wissenschaft?« können Sie am Ende der Buchvorstellung als PDF herunterladen.
Leseprobe I
► Einleitung: Ausgangspunkte
Die Psychoanalyse ist, vor allem aber war weit mehr als eine Psychotherapiemethode. Von der Krankenbehandlung ausgehend, entwickelte sich Sigmund Freuds Lehre in wenigen Jahren zu einer spezifischen Möglichkeit, sich selbst und die Welt zu erkennen – und zu verändern. 1917 definierte Freud in seinen Vorlesungen, Psychoanalyselasse sich »auf Kulturgeschichte, Religionswissenschaft und Mythologie ebenso anwenden […] wie auf die Neurosenlehre« – Themen, denen er sich auch selbst zuwandte. Er setzte fort, die Psychoanalyse »beabsichtigt und leistet nichts anderes, als die Aufdeckung des Unbewußten im Seelenleben« (Freud 1916–17a, S. 403f.).
In der Therapie ließ diese Aufdeckung die Patienten neue Möglichkeiten des Handelns erkennen – und neue Notwendigkeiten. Um sich ihre gewachsene psychische Gesundheit zu erhalten, mussten sie weitere Veränderungen, auch in ihrem Umfeld, in Erwägung ziehen. Sich für solche Veränderungen einzusetzen, dafür waren sie durch die Behandlung nun besser gerüstet (Freud 1895d, S. 311f.).1 Doch auch auf seiten der Therapeuten »geht die konsequente psychoanalytische Therapie in Sozialkritik über« (Dahmer 2012f, S. 211). Freud schrieb 1910: »Die Gesellschaft muß sich im Widerstand gegen uns befinden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie; wir weisen ihr nach, daß sie an der Verursachung der Neurosen selbst einen großen Anteil hat« (Freud 1910d, S. 111).
Heute ist von diesem Anspruch der Psychoanalyse nur noch wenig zu spüren. Der Psychoanalytiker Johannes Cremerius urteilte: Die Funktionen, die der Psychoanalyse »einmal Sinn gaben – eine aufklärerische, gesellschaftskritische Wissenschaft am Leben zu erhalten – übt sie nicht mehr aus. Sie ist anachron geworden« (Cremerius 1995, S. 14).
Helmut Dahmer, Soziologe und langjähriger Redakteur der Zeitschrift Psyche, sieht als »vorherrschende[n] Typus des Psychoanalytikers« nicht mehr den des »Kulturkritikers, sondern de[n] des gut verdienenden Kassenarztes, der die Öffentlichkeit meidet, sich vom politischen Leben und von theoretischen Debatten fernhält« (Dahmer 2009f, S. 334f.).
Auch Horst-Eberhard Richter, ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, Leitfigur der BRD-Friedensbewegung und einer der wenigen Analytiker, die die Psychoanalyse offensiv in politische Zusammenhänge einbrachten, kritisierte die zunehmende »Medizinalisierung« der Psychoanalyse, einschließlich deren weitgehende Reduktion auf Therapie (Richter 2003, S. 33–39, 65–76). Der Mitbegründer der Ethnopsychoanalyse Paul Parin fragte sogar, »ob die Psychoanalyse, so beschädigt, wie sie sei, überhaupt noch in unsere Welt passe« (Cremerius 1995, S. 43).
Eine ganz andere Bewertung prägt die 2011 erschienene offizielle Selbstdarstellung der IPV, Hundert Jahre Internationale Psychoanalytische Vereinigung. Die weltweite Analytikerorganisation findet vorwiegend Gründe, die bisherige Entwicklung zu feiern (Handy 2011, S. XXX, Loewenberg/Thompson 2011a, S. 5). Auch die IPV zeichnet das Bild einer Psychoanalyse ohne gesellschaftskritische Ambition – sie sieht dies jedoch offenbar nicht als Mangel.
Wie kam es dazu, dass sich die Psychoanalyse derartig weit von so wesentlichen ihrer Ausgangspositionen entfernt hat? Die nachhaltigsten Weichenstellungen hin zum Image einer angeblich »unpolitischen« Psychoanalyse erfolgten in der ersten Hälfte der 1930er Jahre. Sie waren eng verbunden mit Freuds widersprüchlicher Haltung zu gesellschaftsveränderndem Engagement, mit der Medizinfixierung insbesondere der US-amerikanischen Psychoanalytiker, aber auch mit dem Versuch der internationalen Analytikerorganisation, Konfrontationen mit den entstehenden oder erstarkenden autoritären Regimes, insbesondere dem NS-Staat, zu vermeiden.
Dass die Alternative einer gesellschaftskritischen Psychoanalyse nach 1933 weiterhin bestand, lässt sich anhand des Wirkens des 1933/34 aus den psychoanalytischen Organisationen ausgeschlossenen Psychoanalytikers Wilhelm Reich nachweisen. Während der Fokus meiner Darstellung zwischen seinem Schicksal und den Entwicklungen im psychoanalytischen Hauptstrom pendelt, werde ich Antworten auf die Frage sammeln, ob die Psychoanalyse – wie verschiedene ihrer Vertreter behaupten – eine unpolitische Wissenschaft war bzw. ist.
Leseprobe II
► Zitate von Seite 39
»Die Psychoanalyse ist selbstverständlich ›unpolitisch‹. Sie […] ist […] eine naturwissenschaftliche Disziplin, die schon durch ihr Forschungsobjekt in die großen sozialen Fragen nur als unparteiliche, der Wahrheit dienende Instanz einzutreten vermag«
Felix Schottlaender (1931, S. 387).
»Der Wissenschaftler, der glaubt, durch Vorsicht und ›Unpolitischsein‹ seine Existenz zu retten und durch die Verjagung und Einkerkerung auch der Vorsichtigsten nicht eines besseren belehrt wurde, verwirkt den Anspruch, jetzt ernst genommen zu werden und später einmal am wirklichen Neubau der Gesellschaft mitzuwirken«
Wilhelm Reich (1933b, S. 9).
»Unsere [ärztliche – A.P.] Gesellschaft sieht es als eine ihrer vornehmsten Aufgaben an, den Ärzten, den Pädagogen, überhaupt allen Volksgenossen, die sich mit Menschenführung befassen, nicht zuletzt auch in der Wehrmacht und in der Wirtschaft ,zuzurufen: Vergeßt das Unbewußte nicht! Glaubt doch nicht den Menschen als Ganzes zu erfassen, wenn ihr vor dem Unbewußten die Augen schließt!«
Matthias Heinrich Göring (1940, zitiert in Bilz 1941, S. 8).
»Seit der letzte [psychoanalytische – A.P.] Kongreß vor elf Jahren stattfand, haben große und furchtbare Ereignisse die Welt erschüttert. […] Natürlich ist die Versuchung groß, neben denjenigen Faktoren, denen unser spezielles Interesse gilt, auch noch sozio-politische Faktoren zu berücksichtigen und unsere Ergebnisse soziologisch zu reformulieren. Doch können wir stolz darauf sein, dieser Versuchung – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – energisch widerstanden zu haben«
Ernest Jones (1949, zitiert in Dahmer 2009g, S. 352).
Leseprobe III
► 1 Vorspiele
1.1 Frühe Prägungen
Wilhelm Reich kam am 24.3.1897 in Galizien, im östlichen Teil des damaligen Österreich-Ungarns, zur Welt. Seine Kindheit war bestimmt durch die für diese Epoche typischen, autoritär-gefühlsunterdrückenden Normen und Familienverhältnisse, deren Studium er sich später so intensiv widmen sollte.
Reichs Vater, Gutsbesitzer jüdischer Abstammung, dominierte die Familie nachpatriarchalischem Muster. »Streng erzogen«, musste Reich »immer mehr leisten als die anderen, um den Ehrgeiz seines Vaters […] zu befriedigen, hing seit frühester Kindheit mit großer Zärtlichkeit an der Mutter, die ihn oft vor den tätlichen Ausschreitungen des Vaters schützte« (Reich 1997c, S. 79f.).
Die familiären Konflikte in Reichs Familie sollten sich in dramatischer Weisezuspitzen. Als 13-Jähriger ertappte Wilhelm seine Mutter beim Ehebruch mit einem Hauslehrer: »Ich hörte Küsse, Flüstern, die fürchterlichen Geräusche des Bettes und darin lag meine Mutter. Und drei Meter dahinter stand ihr Kind und hörte ihre Schande. […] Mit wilden Phantasien im Hirn schlich ich in mein Bett zurück, am Frohsinngeschädigt, im Innersten zerrissen für mein ganzes Leben!« (Reich 1994, S. 44).
Bald darauf bahnte sich Ähnliches mit einem neuen Hauslehrer an. Der diesmal Verdacht schöpfende Vater nötigte Wilhelm und dessen jüngeren Bruder, alles mitzuteilen, was ihnen über die Untreue der Mutter bekannt sei. Nun gestand Wilhelm, was er zuvor wahrgenommen hatte. Die Mutter, vom Vater daraufhin verbal attackiert und mehrfach schwer misshandelt, nahm sich das Leben. Der bald danach offenbar depressiv werdende Vater folgte ihr 1914 in den Tod – unter Umständen, die ebenfalls Selbstmordabsichten vermuten lassen (Reich 1994,S. 43–69; Sharaf 1996, S. 61–73). Diese Ereignisse beeinflussten Reichs Leben weitreichend. Noch 1944 schrieb er im Tagebuch von seinem »Verbrechen« und vom »Verrat«, den er an der Mutter begangen habe, notierte aber auch: »Mag mein Lebenswerk meine Missetat wieder gutmachen« (Reich 1994, S. 48,Fn).
Nach dem Tod seines Vaters übernahm Wilhelm – 17-jährig und noch Gymnasiast – die Leitung des elterlichen Gutes. Bald darauf begann der Erste Weltkrieg, und er floh, nachdem sein Dorf in die Kriegswirren hineingezogen worden war. Heimatlosgeworden, meldete er sich 1915 freiwillig zum Militärdienst und wurde Leutnant: »Ich war ein im Sinne des Militarismus ›tüchtiger Mann‹. […] Man war einfach auf die Unterwerfung unter die Kriegsmaschine und ihre Ideologie von Kindheit an vorbereitet« (ebd., S. 80f.).
Zweijährige Fronterfahrungen ließen ihn umdenken. Um den Kriegsereignissenden Rücken zu kehren, machte er im August 1918 von der Möglichkeit Gebrauch, in Wien einen dreimonatigen Studienurlaub zu absolvieren. Während dieses Urlaubs endete der Krieg, und die österreichische Monarchie fiel in sich zusammen.
1.2 Reich in Wien
1919 war der ehemals wohlsituierte Gutsbesitzersohn Wilhelm Reich ein völligmittelloser, gelegentlich von einem Onkel unterstützter, oftmals hungernder Student der Medizin geworden. Während des Studiums stieß er auf die Lehre Sigmund Freuds. Der Arzt Sigmund Freud, am 6.5.1856 im damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Freiberg als Kind jüdischer Eltern geboren, hatte in den1890er Jahren die Psychoanalyse entwickelt. 1920 hatte er damit bereits internationale Bekanntheit erlangt und eine wachsende Schar von Mitstreitern um sich gesammelt.
Reich stand der Psychoanalyse zunächst ambivalent gegenüber. Dass er jedoch bald immer mehr Anknüpfungspunkte entdeckte, lässt sich seinem Tagebucheintrag vom1.3.1919 entnehmen. Er sei ja bereits, heißt es dort, »aus eigener Erfahrung, aus Beobachtungen bei mir und anderen zur Überzeugung gekommen […], daß die Sexualität der Mittelpunkt ist, um den herum das ganze soziale Leben wie die innere Geisteswelt des Einzelnen, bald in direktem, bald mittelbarem Zusammenhang mit jenem Mittelpunkt, sich abspielt« (Reich 1994, S. 103).
Schon als Kind habe er »in jedem Blick, in jeder Gebärde, überhaupt in allem, das mir verdächtig vorkam, Sexualität« vermutet (ebd., S. 103f.). Dass Freud meinte, er könne an »kein menschliches Seelenleben glauben, an dessen Aufbau nicht das sexuelle Begehren im weitesten Sinne, die Libido ihren Anteil hätte« (Freud 1910c,S. 172), musste Reich also anziehen. Offenbar übernahm er auch Freuds Anschauung, Liebe sei im Grunde nur zielgehemmte Sexualität. Diese hatte Freud unter anderem so beschrieben:
»Den Kern des von uns Liebe Geheißenen bildet natürlich […] die Geschlechtsliebe mit dem Ziel der geschlechtlichen Vereinigung. Aber wir trennen davon nicht ab, was auch sonst an dem Namen Liebe Anteil hat, einerseits die Selbstliebe, andererseits die Eltern- und Kindesliebe, die Freundschaft und allgemeine Menschenliebe […] alle diese Strebungen [sind] Ausdruck der nämlichen Triebregungen, die zwischen den Geschlechtern zur geschlechtlichen Vereinigung hindrängen, […] von diesem sexuellen Zielabgedrängt oder in der Erreichung desselben aufgehalten werden« (Freud 1921c, S. 98).
Noch 1919 entschied sich Reich, Analytiker zu werden, und traf Freud erstmals persönlich. Sofort war er von ihm eingenommen:
»Die anderen spielten im Gehaben irgendeine Rolle, den Professor, den großen Menschenkenner, den distinguierten Wissenschaftler. Freud sprach mit mir wie ein ganz gewöhnlicher Mensch und hatte brennend kluge Augen. Sie durchdrangen nicht die Augen des andern in seherischer Pose, sondern schauten nur echt und wahrhaft in die Welt« (Reich 1987, S. 36).
Im September desselben Jahres, im Alter von 22 Jahren, begann Reich, psychoanalytisch zu behandeln (Reich 1994, S. 124). Im Oktober 1920 wurde er in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV) aufgenommen (Reich 1987, S. 44f.). Im November 1920 starb eine der ersten Patientinnen Reichs an einer Sepsis, die laut Reich auf ein »gefährliches Fieber mit Gelenkrheumatismus« zurückging (Reich1994, S. 155). Er hatte mit ihr, nach Abschluss ihrer Behandlung, ein Verhältnis begonnen: keine Seltenheit unter den damaligen Analytikern. Die Mutter der jungen Frau warf Reich vor, er habe sie ermordet, da sie als Todesursache eine mißglückte Abtreibung vermutete. Wenig später beging die Mutter Selbstmord. Reichs Schuldgefühle intensivierten sich:
»Ich mußte mir sagen, daß ich der Mörder einer ganzen Familie bin, die Tatsache steht fest: Ohne meinen Eintritt in ihr Haus lebten beide! Und ich gehe mit diesem Bewußtseinweiter […] – spiele Komödie, während die Menschen um mich und durch mich sterben! Starb meine Mutter nicht, besser, nahm sie sich nicht das Leben, weil ich alles erzählt hatte?« (ebd., S. 175f.).
Kurz zuvor hatte er notiert, er habe sich »intensivst mit Psychoanalyse« beschäftigt, »nicht nur aus objektivem Interesse für diese neue Wissenschaft, sondern auch aus dem unbestimmten Gefühl heraus, durch sie in manche dunkle Region meines Ichs zu gelangen« (ebd., S. 160).
Anfang Januar 1921 vermerkte er »zwei von Freud persönlich geschickte zahlende Patienten!« (ebd., S. 178) – seine finanzielle Situation begann sich zu verbessern. Am 12.3.1921 schrieb er:
»Solange der letzte Bettler nicht von der Gasse verschwunden, die letzte Wöchnerin eines Mittagessens entbehrt, die letzte Laus in einem Nachtasyl noch Blut saugt, der letzte Fünfjährige […] mit schwerer Holzlast, gebeugt, ungewaschen, hungrig […] euch begegnet – solange, sage ich, dürft ihr, wenn ihr konsequent seid, keine Bücher kaufen,[…] keine Musik hören, kein Theater besuchen, kein zweites Frühstück und zum Nachtmahl nicht mehr als Brot essen, ja nicht mal studieren, denn euer Studium kostet […] und da ihr nicht verdient, muss es ein anderer für euch tun, und es ist vollkommen gleichgültig, ob euer Onkel oder Vater […] dem Arbeiter das Blut auspresst oder ihr es selber tut!« (ebd., S. 192).
Das Interesse an sozialen Problemen sollte ihm erhalten bleiben.
Im Frühjahr 1922 heiratete er Annie Pink, eine andere seiner ehemaligen Patientinnen. Auch hier hatten beide zunächst einige Zeit nach Therapieende verstreichen lassen, bis sie sich auf eine intime Beziehung einließen. Annie sollte einige Zeit später ebenfalls ein Medizinstudium abschließen und Psychoanalytikerin werden. Im Sommer 1922 wurde Reich zum Doktor der Medizin promoviert (ebd., S. 212)und begann als Sekundararzt am neu gegründeten WPV-Ambulatorium zu arbeiten.
1924 wurde er Leiter des ausbildungstechnischen Seminars der WPV, sodass ihm »mitzuverdanken [ist], daß die therapeutische Technik der Psychoanalyse zu einer systematischen lehr- und lernbaren Methode wurde« (Büntig 1982, S. 254). Richard Sterba, von Reich ausgebildeter und später mit ihm befreundeter Analytiker, beschreibt Reich als »eindrucksvolle Persönlichkeit, voll jugendlicher Intensität. Er war kraftvoll als Sprecher, und er drückte sich klar und bestimmt aus. Er hatte eine ungewöhnliche Begabung, sich in das seelische Kräftespiel in Patienten einzufühlen. […] Unter seiner Leitung wurde das technische Seminar zu einer so hervorragenden Stätte des Lernens, daß selbst ältere Mitglieder regelmäßig daran teilnahmen« (Sterba1985, S. 37).
Die Analytikerin Edith Jacobssohn erinnert sich: »Er war wirklich der erste, der über die Abwehrmechanismen sprechen wollte. Und das war schon bald, nachdem [1923] Freuds Das Ich und das Es erschienen war. Bis dahinging es hauptsächlich um die Widerstände; eine Ich-Psychologie gab es noch nicht […]. Anna Freud […] wurde sehr stark von Reich beeinflusst« (zitiert in May/Mühlleitner 2005, S. 252f.).
1925 wurde Reich Lehranalytiker (Mühlleitner 1992, S. 257) und veröffentlichte sein erstes Buch: "Der triebhafte Charakter. Eine psychoanalytische Studie zur Pathologie des Ich". In einem Brief an Reich hatte Freud das Manuskript als »wichtigen Fortschritt in der Erkenntnis der Krankheitsformen« bezeichnet (zitiert in Danto 2011, S. 169). Gegenüber Paul Federn äußerte Freud, Reichs Erstlingswerk sei »reich an wertvollem Inhalt« (Sharaf 1996, S. 93). Am Ende der Schrift reflektierte Reich die Situation psychisch Kranker, die zu dieser Zeit noch vielfach in geschlossenen Anstalten vor sich hin vegetierten:
»Die Psychoanalyse hat zeigen können, wie sehr Milieu, materielle Misere, Unverstand und Rohheit der Eltern, eine konfliktschwangere Kinderstube, gewiß auch Veranlagung, Kinder zu dissozialen, kranken und verzerrten Menschen macht. Die Menschheit schützt sich vor ihnen durch Internierung, die unter heutigen Bedingungen immerverschlechternd wirkt. Sollte aber ›das Gewissen der Menschheit einmal erwachen‹,[…] dann wird die Psychoanalyse gewiß in allererster Linie dazu berufen sein, unterbesseren Bedingungen als heute an der Befreiung vom neurotischen Elend mitzuwirken« (Reich 1997c, S. 340).
Zu Freuds 70. Geburtstag am 6.5.1926 überreichte ihm Reich das Manuskript seines nächsten Buches, "Die Funktion des Orgasmus". Auch Freud hatte lange den Standpunktvertreten, »der Kernpunkt der Psychoanalyse« sei, dass »hinter den Neurosen« die Sexualität stecke (Freud/Abraham 2009, Bd. 1, S. 355). 1905 schrieb er, seine frühere Lehre, von der er sich nun allerdings bereits zu Teilen distanzierte, »gipfelte in dem Satze: Bei normaler Vita sexualis ist eine Neurose unmöglich« (Freud 1906a, S. 153).
Reich definierte jetzt, 21 Jahre später, »die Fähigkeit zur sexuellen Befriedigung« sowie die »Herstellung der orgastischen Potenz« und der »vollen Liebesfähigkeit« als Kriterium psychischer Gesundheit (Reich 1927, S. 192f.). Bald darauf beschrieb ihn Freud in einem Brief an die Schriftstellerin und Analytikerin Lou Andreas-Salomé als »einen braven, aber impetuösen [=ungestümen – A.P.] jungen passionierten Steckenpferdreiter, der jetzt im genitalen Orgasmus das Gegengift jeder Neurose verehrt« (zitiert in Fallend 1988, S. 198). Reich gegenüber kritisierte er den zu großen Umfang und die unzureichende Übersichtlichkeit der Darstellung, meinte aber dennoch: »Ich finde die Arbeit wertvoll, reich an Beobachtungsmaterial und Gedankeninhalt.« Sie habe für ihn »besonderes Interesse«, da sie sich mit »lange vernachlässigten« Fragen befasse. Er stehe Reichs Versuch, Neurasthenie darauf zurückzuführen, dass die genitalen Impulse sich nicht angemessen entfalten können, »keinesfalls ablehnend gegenüber« (zitiert in Danto 2011, S. 171).
Seit Mitte der 1920er Jahre wurde es für Reich immer deutlicher, wie tief seelische Störungen im gesellschaftlichen Umfeld verankert sind. Hier konnte er ebenfalls an Freudanknüpfen, der, wie schon erwähnt, ebenfalls betont hatte, dass die Gesellschaft »an der Verursachung der Neurosen […] einen großen Anteil hat« (Freud 1910d, S. 111). Reichbemühte sich, soziale Aspekte auch in seine Veröffentlichungen einzubeziehen, zunächst mit Ergebnissen, die ihm später wenig zufriedenstellend erschienen: »Ich produzierte […] harmlose Belanglosigkeiten«, welche die »übliche Mischung aus Halbwahrheiten und völligen Unrichtigkeiten« enthielten (Reich 1995, S. 30). Doch wie immer, wenn er etwas wichtig fand, wandte er sich dem mit großer Intensität zu: »Ich begann, Ethnologie und Soziologie zu studieren« (ebd., S. 32). Bei Karl Marx entdeckte er die seinetherapeutischen Erfahrungen ergänzende Gesellschaftstheorie. Später schrieb er dazu:
»Die Marxsche Wirtschaftslehre bedeutete zweifellos für die Ökonomie dasselbe wie die Freudsche Theorie des unbewussten Lebens für die Psychologie. Beide setzen eine bestimmte, auf Tatsachen gegründete Anschauung über die Gesetze voraus, die das heutige menschliche Leben lenken« (ebd., S. 74).
Rezension von Dr. Rainer Funk / Fromm Forum 18/2014
Andreas Peglau, zur Zeit der Wende der wirkungsvollste Vermittler der Psychoanalyse und des Frommschen Denkens in den ostdeutschen Bundesländern, hat nicht nur die Zeitschrift »Ich. Die Psychozeitung« gegründet und acht Jahre lang herausgegeben; vor kurzem erschien von dem inzwischen in freier Praxis arbeitenden Psychoanalytiker die Druckfassung seiner Dissertation. Ein Blick in die über 600 Seiten umfassende Arbeit zeigt, dass er der Psychoanalyse auf eine verdienstvolle, weil kritische Weise treu geblieben ist.
Peglau interessierte sich schon immer für die politische Dimension und Sensibilität der Psychoanalyse. Darum galt sein Interesse nicht nur Erich Fromm, sondern auch Willhelm Reich (1897-1957), der 1933 mit dem Buch Massenpsychologie des Faschismus die erste Abhandlung eines Psychoanalytikers über die »rechten« Massenbewegungen veröffentlichte. Bis heute ist diese Abhandlung der ausführlichste und – neben Fromms Analysen des deutschen Nationalsozialismus – einzige psychoanalytische Versuch geblieben, eine spezifische und umfassende Theorie der psychosozialen Basis des Faschismus zu formulieren.
Geschrieben hatte Reich seine Massenpsychologie zwischen 1930 und 1933 in seiner Berliner Zeit, über die es bislang nur wenige Informationen gab. Auf Grund seiner jahrelangen Recherchen konnte Peglau diese Lücke weitgehend schließen. Die Beschäftigung mit Reich führte ihn zwangsläufig dazu, auch die Situation der Psychoanalyse im NS-Staat zu erforschen. Hier stieß er auf Befunde, die zu einer neuen Sicht und Beurteilung dieser dunklen Seite der deutschen Psychoanalyse führen. Die Psychoanalyse als solche war nämlich keinesfalls einer solchen Verfolgung ausgesetzt, wie es meist angenommen wird.
Wenn Analytiker zu NS-Opfern wurden, dann nie, weil sie Analytiker waren, sondern wegen ihrer jüdischen Herkunft oder wegen ihrer widerständigen, vor allem »linken« Äußerungen oder Aktivitäten. Der einzige Psychoanalytiker, der wegen seines politischen Engagements aus Deutschland ausgewiesen und 1939 aus Österreich ausgebürgert wurde, war Wilhelm Reich. Weder Sigmund noch Anna Freud wurden ausgebürgert. Wesentliche Aspekte der Psychoanalyse, insbesondere des therapeutischen Wissens wurden dagegen von NS-Verantwortlichen toleriert und innerhalb des NS-Systems pragmatisch genutzt.
Der Verzicht auf eine umfassende Verfolgung zeigte sich bereits bei der Bücherverbrennung 1933, wo neben Freuds Schriften nachgewiesener Maßen nur Bücher von Anna Freud, Siegfried Bernfeld und Wilhelm Reich verbrannt wurden. Bei dem im Mai 1933 eingeleiteten Publikationsverbot wurden nur zwei Schriften von Freud zur Indizierung vorgeschlagen. Wilhelm Reich allerdings ereilte ein Gesamtverbot; auch Fromms Die Entwicklung des Christusdogmas war betroffen. Ein Komplettverbot psychoanalytischer Literatur war jedoch nie geplant und erfolgte auch nie.«
Dass es kein pauschales Verbot oder gar eine »Ausrottung« der Psychoanalyse gab, lag nicht zuletzt an der Anpassung der in Deutschland verbliebenen Analytiker und der ihnen dabei gewährten Unterstützung durch die Internationale Psychoanalytische Vereinigung (IPV). Ein prominentes »Opfer« der Anpassung war auch hier Wilhelm Reich, der nicht zuletzt wegen seiner gegen den Faschismus gerichteten Publikationen aus den psychoanalytischen Gesellschaften ausgeschlossen wurde.
Die Strategie aber, dass die Psychoanalyse sich jeder offiziellen Anwendung ihrer Erkenntnisse auf die Politik zu enthalten habe, wurde fortan zum Programm: Die zuvor oftmals gesellschaftskritische Freudsche Lehre verkümmerte zusehends zur bloßen Therapiemethode und verlor damit ihre gesellschaftliche Relevanz. Einer der wenigen Psychoanalytiker, die als »Dissidenten« die gesellschaftskritische Funktion der Psychoanalyse weiter pflegten, war Erich Fromm, dem man deshalb auch in den Fünfziger Jahren eine erneute Mitgliedschaft in der IPV verweigerte.
Sicher haben in unseren Jahren noch andere Entwicklungen dazu beigetragen, dass die deutsche Psychoanalyse – trotz eines Alexander Mitscherlich oder Horst-Eberhard Richter – ihre gesellschaftskritische Funktion nicht wiedergefunden hat. Das Verdienst der spannend zu lesenden Recherche Peglaus liegt darin, im Umgang mit Wilhelm Reich und der Anpassung der Psychoanalyse an die herrschenden Verhältnisse eine für die Psychoanalyse schicksalhafte historische Weichenstellung dokumentenreich aufgezeigt zu haben.
Quelle: Fromm Forum
Rezension von Galina Hristeva
Die Katastrophe des »mittleren Wegs«
Andreas Peglau plädiert für die Neuentdeckung der Psychoanalyse als kultur- und gesellschaftskritische Wissenschaft
In dritten Band seiner berühmten Biografie »Das Leben und Werk von Sigmund Freud« (engl. 1954-1957; dt. 1960-1962) berichtet Ernest Jones – als langjähriger IPV-Präsident einer der führenden Funktionäre der Psychoanalyse und offizieller Freud-Biograf und Psychoanalyse-Historiograf, ganz lapidar über den Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Luzern im Jahre 1934: »An diesem Kongreß trat Wilhelm Reich aus der Vereinigung aus. Freud hatte anfänglich eine hohe Meinung über ihn gehabt; durch Reichs politischen Fanatismus war es jedoch zwischen ihnen sowohl persönlich als auch wissenschaftlich zu einer Entfremdung gekommen.«
Der Berliner Psychoanalytiker und Psychotherapeut Andreas Peglau stellt sich in seinem Buch »Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus« das überaus schwierige Ziel, die Diskreditierung Wilhelm Reichs durch Freud und seine Nachfolger zu rekonstruieren und den brillanten und mutigen Denker Wilhelm Reich zu rehabilitieren.
Eine gute Beschreibung dieser umstrittensten und unbestechlichsten Figur am psychoanalytischen Firmament, die Reichs Vielseitigkeit und Elan verdeutlicht, hat Peglau bereits 2012 in einem Bericht über seinen Besuch im Wilhelm-Reich-Archiv in Boston (USA) gegeben: Reich war »Arzt, ehemaliger Freud-Schüler, -Mitstreiter und -Antipode, bedeutender Psychoanalytiker, Vater der Körperpsychotherapie, Lebensenergieforscher, vormaliger Sozialdemokrat, Kommunist, Antifaschist, späterer Antistalinist« (Werkblatt Nr. 69, 2/2012).
Außerdem hat es Reich geschafft, 1933/1934 innerhalb kürzester Zeit sowohl von der DPG und der IPV als auch von der KPD ausgeschlossen zu werden. Seine Bücher wurden nicht nur von den Nazis, sondern in den 50er-Jahren in den USA, wohin er übergesiedelt war, auch im Auftrag der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) verbrannt.
Die genauen Fakten und Vorgänge, die der oben genannten tendenziösen, grundfalschen und regelrecht zynischen Darstellung von Ernest Jones diametral entgegenstehen, breitet Peglau in einer Darstellung aus, die an Gründlichkeit, Präzision und wissenschaftlicher Redlichkeit nicht zu übertreffen ist. Neben biografischen Informationen, welche die bereits vorliegenden Biografien Wilhelm Reichs etwa von David Boadella und Myron Sharaf sinnvoll ergänzen, enthält Peglaus Buch extensive Analysen von Reichs Werken »Die Funktion des Orgasmus«, »Sexualerregung und Sexualbefriedigung«, »Der masochistische Charakter. Eine sexualökonomische Widerlegung des Todestriebes und des Wiederholungszwanges«, »Charakteranalyse« usw.
Viele von Reichs Schriften – vor allem die sexualtheoretischen Arbeiten, die das Fundament der von ihm entwickelten »Sexualökonomie« bilden – wurden zur Zeit ihres Erscheinens als »medizinische Pornografie« sowie »„Schund- und Schmutz«-Literatur verdammt. Und doch war Wilhelm Reich Peglaus Recherchen zufolge »der erfolgreichste analytische Autor im deutschen Sprachraum zwischen 1930 und 1933« nach Freud!
Reichs Bestreben war es vom Anfang an, den verlorengegangenen kritischen Geist der Psychoanalyse wieder zum Leben zu erwecken, nachdem er 1932 festgestellt hatte: »Die Psychoanalyse, ursprünglich eine revolutionäre Sexualtheorie und Psychologie des Unbewußten, begann sich, was die Sexualtheorie anlangt, den bürgerlichen Daseinsbedingungen anzupassen und somit bürgerlich gesellschaftsfähig zu werden.« Reichs »fachliche Häresien« bestanden unter anderem darin, dass er einige frühe Einsichten Freuds wieder aufnahm und selbstständig und originell weiterentwickelte und späte Annahmen Freuds wie die Todestriebhypothese oder die Hypothese vom Wiederholungszwang, welche die soziale Bedingtheit sowohl von Krankheit als auch historischer Phänomene und Prozesse ignorierten, in seiner Kritik widerlegte.
Reichs Schrift »Massenpsychologie des Faschismus« (1933) steht im Brennpunkt von Peglaus Buch und ist für ihn der absolute Kulminationspunkt von Reichs Denken und psychoanalytischem und politischem Handeln, auch wenn er zugeben muss, dass nicht einmal Reich in der Lage gewesen ist, »Auschwitz gedanklich vorwegzunehmen« und »die gesamte psychosoziale Dynamik des Nationalsozialismus« aufzudecken. Für Peglau ist Reichs »Massenpsychologie« dennoch (wie er schon in seinem Werkblatt-Artikel schrieb) »der mit Abstand ausführlichste und neben diesbezüglichen Ausarbeitungen Erich Fromms auch der einzige psychoanalytische Versuch, eine spezifische und umfassende Theorie der psychischen Basis des Faschismus aufzustellen«.
Die Analyse dieser wichtigsten Schrift Wilhelm Reichs ergibt: »Reichs Massenpsychologie ist der Beweis dafür, dass es bereits 1933 eine fundierte Psychoanalyse des Faschismus hätte geben können – und damit auch eine Psychoanalyse gegen den Faschismus.« Die Untersuchung und Auswertung der Schriften und Aktivitäten Wilhelm Reichs beweisen die Richtigkeit der von Andreas Peglau schon im »Werkblatt«-Artikel formulierten Schlussfolgerung: »Politischere Psychoanalyse, als sie Reich machte, gab es nie.«
Die Psychoanalyse tat aber ihr Bestes, um sich von Wilhelm Reich zu »befreien«, wie Freud dies 1933 forderte. So erzählte Felix Boehm: »Dr. Eitingon [der damalige DPG-Vorsitzende] ließ gleich nach der Machtergreifung der neuen Regierung Dr. Reich mitteilen, er möchte unsere Institutsräume nicht mehr betreten, damit, falls er verhaftet werden würde, dies nicht in unseren Räumen geschehen könne.« Und Freud hatte 1933 zu seiner Tochter Anna gesagt: »Wenn die Psychoanalyse verboten wird, dann soll sie als Psa. verboten werden, aber nicht als das Gemisch von Analyse und Politik, das Reich vertritt.« Reich »trat« aus der Vereinigung also nicht »aus«, wie Ernest Jones schreibt, sondern ihm wurde wegen seines politischen Engagements die Mitgliedschaft »aberkannt«, wie Peglau eindrücklich und unter Rückgriff auf frühere bahnbrechende Forschungsergebnisse Bernd Nitzschkes und Karl Fallends belegt.
Die Mammutaufgabe, die gleichzeitige Diskreditierung und Dämonisierung Reichs durch die Psychoanalyse, die KPD, durch antisemitische Kräfte »von rechts« vor 1933 sowie durch die NS-Machthaber nach 1933 nachzuzeichnen, hat Andreas Peglau meisterhaft in einer bewegten und bewegenden, aber dennoch wissenschaftlich bestens fundierten und systematisch aufgebauten Darstellung bewältigt.
Er stellt fest, dass während der NS-Bücherverbrennung »die Ehre, für so schädlich gehalten zu werden, dass ihr gesamtes Werk verboten wurde«, nur Wilhelm Reich, Sigmund Freud und Anna Freud zuteil wurde. Peglaus Untersuchung psychoanalytischer Schriften im Dritten Reich ergibt auch, dass mit Ausnahme vereinzelter Publikationen Ernst Simmels (z.B. »Nationalsozialismus und Volksgesundheit«, 1932) und Gregory Zilboorgs (»A psychiatrist looks at Hitler«, 1939) seitens psychoanalytischer Autoren im Zeitraum 1932-1939 »keinerlei offen gegen Faschismus und Nationalsozialismus gerichtete Beiträge« vorliegen, sodass hier Wilhelm Reichs Sonderstellung erneut besonders gut erkennbar wird.
Freud selbst äußerte sich kaum über politische Themen – sehr selten über den Bolschewismus und schon gar nicht über den Faschismus. Die Psychoanalyse pochte zunehmend auf ihre wissenschaftliche Objektivität und übte sich hartnäckig in politischer Abstinenz und Neutralität – eine Haltung, die von Andreas Peglau als falsch, verwerflich und fatal und zugleich als ein Mythos entlarvt wird. Anhand zahlreicher Fakten demonstriert Peglau den Prozess der Anpassung der Psychoanalyse an den Nationalsozialismus und weist nach, dass die Psychoanalyse gar nicht so unpolitisch war, wie sie sich den Anschein gab.
Die »Arisierung« und die Integration der Psychoanalyse in die »Neue deutsche Seelenheilkunde« besonders am Göring-Institut sind mit tatkräftiger Unterstützung und aktiver Mitarbeit mehrerer deutscher Psychoanalytiker, allen voran Felix Boehm und Carl Müller-Braunschweig, erfolgt und wurden auch von Freud im Rahmen seines »Anpassungskurses« befürwortet – von Andreas Peglau als »Kooperation« und »Kollaboration« zwischen der Psychoanalyse und dem NS-Regime bezeichnet und von Zvi Lothane 2001 treffend als ein »deal mit dem devil to ›save‹ psychoanalysis« charakterisiert.
Der »Anbiederung [der Psychoanalyse] an das NS-System« entspricht auf der Gegenseite, dass die Psychoanalyse sogar im »Völkischen Beobachter« – etwa als »ein sehr modernes medizinisches Fach« (14.05.1939) – gelobt wurde. Nach Peglau war der Ausschluss Wilhelm Reichs, des einzigen Psychoanalytikers, der dem Faschismus den Krieg erklärt und die Stirn geboten hatte, der entscheidende Schritt, welcher für die Annäherung zwischen der Psychoanalyse und dem NS-Regime grünes Licht gab. Zudem war Reich einer der wenigen, die auch im Exil nicht verstummten, während Peglau in Anlehnung an die Forschungsergebnisse Knuth Müllers die »umfangreiche Kooperation zwischen Psychoanalytikern und US-Geheimdiensten« hervorhebt.
Die Psychoanalyse war keineswegs »Opfer« des Nationalsozialismus – so Andreas Peglaus eindeutiges Fazit aufgrund seiner umfassenden und minutiösen Auswertung einer großen Anzahl von Dokumenten aus einer Reihe von Archiven. Die Psychoanalyse wurde im NS-Staat auch nicht verfolgt, sondern passte sich an. Und sie war nie unpolitisch. Hier gilt Bernd Nitzschkes Formulierung von 1997 in besonderem Maße: »Im selben Augenblick, in dem man Reich eine unzulässige ›Vermischung‹ von Politik und Psychoanalyse vorwarf, akzeptierte und verteidigte man die von Böhm und Müller-Braunschweig praktizierte Vermischung von Psychoanalyse und (Anpassungs-)Politik!« All dies wurde aber erst nach der Beseitigung Wilhelm Reichs möglich.
Angesichts dieser für die Psychoanalyse katastrophalen Entwicklung ruft Andreas Peglau zu einer »Neubewertung« und »Aufwertung« von Wilhelm Reich auf, einem der »innovativsten und kreativsten« sowie kritischsten Psychoanalytiker – und »Freud’s most controversial and troublesome« Schüler, um mit dieser Charakterisierung noch einmal Zvi Lothane zu zitieren.
Ein solcher »Neustart« der Psychoanalyse und die Rückkehr zu ihren »aufklärerischen Wurzeln« würde eine Überwindung ihrer Erosion – einer »Erosion der Kritik« (Dahmer) – sowie eine Wiederbelebung ihres »soziologischen, kulturpolitischen Charakters« (Reich) bedeuten. Letztlich hat die Geschichte der Psychoanalyse Freuds »mittleren Weg« der Anpassung widerlegt und Wilhelm Reichs Einsicht bestätigt: »Der Wissenschaftler, der glaubt, durch Vorsicht und ›Unpolitischsein‹ seine Existenz zu retten und durch die Verjagung und Einkerkerung auch der Vorsichtigsten nicht eines besseren belehrt wurde, verwirkt den Anspruch, jetzt ernst genommen zu werden und später einmal am wirklichen Neubau der Gesellschaft mitzuwirken […]. Sein Unpolitischsein ist ein Stück der Stärke der politischen Reaktion und seines eigenen Unterganges gleichzeitig.«
► Quelle: literaturkritik.de 2014, Heft 3 - weiter