Eine Differenz ums Ganze
Zentrale Unterschiede zw. moderner kapitalistischer Gesellschaft
und nachkapitalistischer Gesellschaftsordnung
von Meinhard Creydt
Soziale Protestbewegungen finden ihre Schranken immer wieder darin, den herrschenden ›Sachzwängen‹ nicht mit einem eigenen gesamtgesellschaftlichen Konzept entgegnen zu können. Kritik formuliert sich aus faktischer Schwäche und taktischem Kalkül oft nach den Massstäben der bestehenden Gesellschaftsform. Im Unterschied zur Fixierung auf die Abwehr- und Verteidigungshaltung »ist immer ein gesellschaftlicher Utopieentwurf notwendig, der nicht sofort in kleinschrittige Realität umsetzbar ist« (Negt 2005, 38). Die Dominanz des Verteilungshorizonts sorgt bei vielen Linken dafür, dass sie die »Kritik der Nationalökonomie vom nationalökonomischen Standpunkt« (MEW 2, 32) nicht zu überwinden vermögen.1
Meine zusammenfassende Gegenüberstellung von Essentials der nachkapitalistischen und der kapitalistischen Gesellschaft kann nur holzschnittartig sein und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, ermöglicht aber gerade durch ihre Kürze einen Überblick und vergegenwärtigt das Ineinandergreifen der verschiedenen Momente. Die Synopse ›funktioniert‹ nur, wenn die Zeilen nicht nur horizontal als isolierte Gegenüberstellung gelesen, sondern diese Oppositionen vom vertikal sich aufbauenden Gesamtkontext her begriffen werden. Das Schloss öffnet sich nicht durch eine Nummer, sondern durch eine Nummernkombination.
Verhältnis zwischen Produzenten und Konsumenten
Die nachkapitalistische Gesellschaftsordnung | Moderne und kapitalistische Strukturen |
Bezug der Arbeitenden auf die Konsumenten und auf die von den Arbeitsresultaten mittelbar Betroffenen mit der Frage: Welche Sinne, Fähigkeiten und Sozialbeziehungen lassen sich an den Produkten und Dienstleistungen entfalten bzw. werden durch sie nahegelegt? |
Interesse der Arbeitenden am Sinn, den ihr Produkt für die Konsumenten und mittelbar Betroffenen hat, nach Massgabe der möglichst teuren Verkaufbarkeit des Produkts und seiner profitablen Produktion. |
Bezug der Konsumenten auf die Arbeitenden als Repräsentanten 2 von Kompetenzen, die zur Beurteilung des Produkts sowie der Voraussetzungen und indirekten Effekte der Bedürfnisbefriedigung hilfreich sind. |
Interesse derKonsumenten an der Arbeit nach Massgabe ihrer schnellen und billigen Erledigung und Bereitstellung. |
Gegenseitige ›Erziehung‹ 3 von Anbietern und Nachfragern, Reflexion der einen Seite auf die Ursachen der anderen und auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit. |
Erfüllung des Bedürfnisses, so wie es auftritt. Konsumtion des Angebots, so wie es vorhanden ist – Konsum und Angebot legitimieren sich aus ihrer blossen Faktizität. |
Eine Massgabe des sozialen Verhältnisses von Produktion und Konsumtion: Ermöglichung der eigenen Dezentrierung durch die hilfreiche Vergegenwärtigung der anderen Perspektive. |
Produktion und Konsum als gegenseitige Alibis 4: Die Nachfrage dispensiert von der Beurteilung der menschlich-sozialen Qualität des Angebots. Das Angebot entlastet von der Reflexion der Qualität des Bedürfnisses. |
Arbeit
Die nachkapitalistische Gesellschaftsordnung | Moderne und kapitalistische Strukturen |
Arbeit als in sich selbst erfüllte Lebenszeit, Ziel- und Prozessorientierung in der Arbeit. |
Arbeit als blosses Mittel zum Zweck, Primat der Zielorientierung. 5 |
Arbeit wird aus Sicht der Arbeitenden bestimmt durch ihren Sinn für den Gegenstand der Arbeit, die Adressaten der Arbeit und die mittelbar von der Arbeit Betroffenen. |
Arbeit wird aus Sicht der Arbeitenden bestimmt durch Jobinteressen, Interessen an der schnellen Bewältigung und Erledigung der Arbeit sowie am geldwerten Ertrag der Arbeit. |
Arbeit an der Konvivialität 6 von unabdingbaren Organisationen und Techniken sowie an ihren Effekten, die die Individuen subaltern werden lassen. |
Primat objektiver über subjektiver Kultur (Simmel) 7, Kapitalfetisch (Marx), Überhang an Objektivität. |
Verringerung unattraktiver Arbeiten, Verteilung der unumgänglichen unattraktiven Arbeiten auf alle Gesellschaftsmitglieder 8, Überantwortung unattraktiver Arbeiten an Maschinen. |
Jeder muss individuell zusehen, wie er in der Hierarchie der Arbeiten eine möglichst günstige Arbeit bzw. Position erwischt. |
Geringe Unterschiede der Arbeitseinkommen, Kriterium ihrer Höhe: die Arbeitsbelastungen. 9 |
Grosse Unterschiede der Arbeitseineinkommen fördern extrinsische Motivation. |
Inhaltliche Bewertung eines Produkts in der Vergegenwärtigung der mit ihm verbundenen Arbeiten, der Sozialbeziehungen sowie der in ihnen und am Produkt selbst möglichen Entfaltung von Sinnen, Fähigkeiten und Reflexionsbeziehungen. 10 |
Bemessung eines Produkts oder einer Dienstleistung amErfolg, an der Quantität der Nachfrage danach. Zirkuläre Definition des Erfolgs. 11 |
Konsum als Sphäre der Auseinandersetzung damit. |
Konsum als Ventil, als Entlastung, als Kontrast, als Fortsetzungsverhalten. |
Kriterium der ›guten Gesellschaft‹ ist die gelungene Konstellation von Wirtschaft, Technik und Organisationen als Bedingung für ein gesellschaftliches Leben, in dem die sozial bezogene Entfaltung menschlicher Sinne und Fähigkeiten möglich wird, und dieser Entfaltung selbst. |
Verselbstständigte Entfaltung von Wirtschaft, Technik usw., davon getrennt und unabhängig erfolgende Entfaltung von Sinnen und Fähigkeiten. Trennung und Gegensatz zwischen Heteronomieund Autonomiesphäre 12 |
Gesellschaftliche Gestaltung, die den Gegensatz zwischen Heteronomie- und Autonomiesphären verringert. |
Wechsel der Menschen zwischen überanstrengender Arbeit und einemKonsum- undMediengenuss, der die in der Arbeit geweckten, aber nicht erfüllten Sinne absorbiert und ausagiert und den Menschen auch von dieser Seite das Wenige an Ruhe und Besinnung nimmt, das ihnen nach der Arbeit geblieben ist. 13 |
Wachstum wird verstanden als
Die nachkapitalistische Gesellschaftsordnung |
Moderne und kapitalistische Strukturen |
Verhältnis von Entgrenzung und Begrenzung, von Wachstum nach aussen und nach innen.
|
Maximierung isolierter Grössen, Disproportion zwischen äusserem und inneremWachstum, zwischen objektiver und subjektiver Kultur. Mass 14 u. Gestalt. |
Mass 14 und Gestalt. |
Rastloses, unendliches Wachstum und Bedienung der Profitzwecke der selbstzweckhaften kapitalistischen Wirtschaft. |
Einbettung der Ökonomie
Die nachkapitalistische Gesellschaftsordnung | Moderne und kapitalistische Strukturen |
Einbettung der Ökonomie in soziale Beziehungen. Gesellschaftliche Gestaltung als die Ökonomie, Techniken und Organisationen übergreifend. |
Tendenzielle Einbettung der sozialen Beziehungen in die Ökonomie. Engführung von gesellschaftlicher Gestaltung auf Politik als kompensatorische, flankierende und subsidiäre Begleitung der selbstbezüglichen Ökonomie. |
Ökonomie als dienende Funktion |
Ökonomie als selbstzweckhaftes Zentrum sowie als entscheidende Schranke und Grenze ökonomieexterner Bereiche. |
Aufhebung der wertförmigenAusgrenzung von sorgenden, regenerativen und pflegenden Tätigkeiten (Care) und der Bevorzugung des ›Leistungskerns‹. |
Auslagerung nicht effizient und profitabel zu gestaltender Sphären (Umgang mit Kindern, Kranken, Alten) aus dem gesellschaftlichen ›Leistungskern‹ und nachrangige Versorgung dieser Bereiche mit Ressourcen nach Massgabe des Florierens des ›Leistungskerns‹. |
Symmetrie der Aufmerksamkeit für die Entfaltung der menschlichen Sinne und Fähigkeiten im Siebeneck verschiedener Dimensionen, in dem sie sich aufbauen oder untergraben werden: das Arbeiten, der weit verstandene Konsum, die Sozialbeziehungen, die Objektivität (von Techniken, Infrastrukturen, Organisationen), die Subjektivität, die gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen und die Gesellschaftsgestaltung. |
Primat des effizienten und profitablen Herstellens und Verkaufens über andere Prozessqualitäten (des Arbeitens und der Sozialbeziehungen) und Gegenstandsqualitäten sowie über Reproduktion und Entsorgung. |
Gleichrangigkeit verschiedener gesellschaftlicher Belange. |
Asymmetrisches Verhältnis zwischen der Ökonomie und den ökonomieexternen Bereichen, die durch die Ökonomie eine weit grössere und tiefere Einschränkung ihrer Möglichkeitsspielräume erfahren als umgekehrt. |
Arbeitsplätze als Orte der Teilhabe an gesellschaftlicher Gestaltung. |
Arbeitsplatz als Mehrwertquelle (für das Kapital) und (sehr davon abhängig) als Einkommensquelle (für die Arbeitenden). |
»Statt des Besitzes erlerntman den Bezug« (Rilke 1966, 820). |
Besitzindividualismus, Distinktionsgehabe. |
Vergegenwärtigung der Effekte des Tuns, der Objekte, der Sozialbeziehungen
Die nachkapitalistische Gesellschaftsordnung | Moderne und kapitalistische Strukturen |
Entlang ihrer quantitativen und qualitativen Dimensionen; entlang ihrer gesamtgesellschaftlichen Effekte. 15 |
Vornehmlich entlang quantitativer Indizes, entlang betriebswirtschaftlicher Kriterien |
Internalisierung folgen- und voraussetzungsreflexiver Aufmerksamkeit in die besonderen Arbei ten und gesellschaftlichen Bereiche: Wie bauen sie die gesellschaftlich allgemeinen Inhalte auf jeweils besondere Weise auf? Wie spezifiziert und konkretisiert sich in den besonderen Bereichen das Allgemeine? 16 |
Funktionale Differenzierung als Freisetzung von bereichsspezifischer Produktivität und scheu klappenförmige Immunisierung der ausdifferenzierten Bereiche gegen die Vergegenwärtigung der mit ihnen verbundenen Externalisierungen und nicht intendierten indirekten Effekte. |
Wettbewerb. Kooperativer Suchprozess. Andere Unternehmen sind Trainingspartner. |
Konkurrenz. Kampfstrategie, um andere auszuschalten. Fressen, um nicht gefressen zu werden. |
Unterscheidung zwischen Zielsetzung bzw. Auftrag und Zielrealisierung. Wettbewerb bezieht sich auf den effektivsten Mitteleinsatz zur Erreichung extern vorgegebener Zwecke. |
Inhaltliche Zielsetzungen als Instrument im Kampf um Konkurrenzfähigkeit und von ihr übergriffen. 17 |
Arbeitsvergütungen, Preise, Mieten und die Abgaben, die Arbeitskollektive für die Verwendung von materiellen und finanziellen Ressourcen zu zahlen haben, sind Thema gesellschaftlicher Aushandlung. |
Einregulierung der Grössen auf Märkte. |
Dominanz des gesellschaftlichen Eigentums. |
Dominanz des Privateigentums. |
Zuteilung der Ressourcen
Die nachkapitalistische Gesellschaftsordnung | Moderne und kapitalistische Strukturen |
Auf der Grundlage demokratischer Entscheidungen; gesellschaftliche Inbesitznahme und Gestaltung des allgemeinen Reichtums, der nur durch das Zusammenwirken aller erreicht und gesichert wird. |
Auf der Grundlage des Erfolgs in der Konkurrenz und nach Massgaben der Kapitalakkumulation. |
Die Synopse steht im Kontext einer Perspektive, die über Positivvorschläge (z. B. Arbeit, Umwelt und soziale Gerechtigkeit, Hickel 2011, 101) 18 zu den im Horizont der modernen bürgerlichen Gesellschaft offensichtlichen Mängeln hinausgeht. 19 Im Unterschied zu verteilungssozialistischen Konzepten und zum Paradigma von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten geht es um eine andere Herangehensweise. Sie orientiert sich an der im emphatischen Sinne verstandenen ›Praxis‹.Dieser Begriff ist kein ethisches Ideal, sondern verarbeitet die Probleme, Verkehrungen 20 und positiven Ansätze in der Bildung menschlicher Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen im Arbeiten, an Gegenständen 21 und im Konsum, in Sozialbeziehungen, in der objektiven Kultur, in der Subjektivität, in gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen sowie in der Gesellschaftsgestaltung.
›Praxis‹ bildet die in sich differenzierte Einheit dieser sieben Momente, in der Probleme in einem Moment auch zu Problemen in anderen Momenten führen. Beispielsweise verringert eine die Arbeitenden unter- oder überfordernde Arbeit die Chancen einer Gestaltung der Gesellschaft durch ihre Mitglieder. Die verschiedenen Momente von Praxis stehen zu einander und zur sie übergreifenden Ordnung von ›Praxis‹ in einem Verhältnis positiver Rückkoppelung. 22 ›Praxis‹ erfüllt den Horizont von »anders arbeiten – anders leben« mit neuem Leben und bildet das gesellschaftliche Leitbild einer im emanzipatorischen Sinne verstandenen nachkapitalistischen Gesellschaft.
Die Synopse zeigt: Zentrale Essentials der nachkapitalistischen Gesellschaft heben Probleme auf, die aus der gegenwärtigen Gesellschaft resultieren, und konkretisieren das für die nach kapitalistische Gesellschaft eigene gesellschaftliche Leitbild (›Praxis‹). Es steht zu den Massstäben der bürgerlichen und kapitalistischen Gesellschaft nicht im Verhältnis des Komparativs oder der Überbietung in der Konkurrenz um die bessere Erfüllung gleicher Massstäbe, sondern bildet einen weiteren Horizont. In ihm kann sich das in der modernen kapitalistischen Gesellschaft Entstehende, das über sie hinausweist, in seiner Konvergenz artikulieren.
► Anmerkungen
1 Gorz schrieb zu Recht schon 1967: »Der Entwurf eines grundverschiedenen Konsummodells hätte eine viel realere revolutionäre Wirkung als das abstrakte Gerede von den Milliarden der Monopole und ihrer möglichen Verstaatlichung« (104).
2 »Repräsentation gründet sich auf Zutrauen. (…) Man hat Zutrauen zu einem Menschen, indem man seine Einsicht dafür ansieht, dass er meine Sache als seine Sache, nach bestemWissen und Gewissen, behandeln wird« (Hegel 1970a, 478). Es geht um »Repräsentation in dem Sinne, wie jede Funktion repräsentativ ist, wie z. B. der Schuster, insofern er ein soziales Bedürfnis verrichtet, mein Repräsentant ist, wie jede bestimmte soziale Tätigkeit als Gattungstätigkeit nur die Gattung, d.h. eine Bestimmung meines eigenen Wesens repräsentiert, wie jeder Mensch der Repräsentant des anderen ist. Er ist hier Repräsentant nicht durch ein anderes, was er vorstellt, sondern durch das, was er ist und tut« (MEW 1, 325).
3 »Leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben!« (Schiller: Was und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte). Beispielsweise wird für die Umwelt zum Thema, wie Konsumenten mit ihren Nachfrageentscheidungen die Produzenten zu mehr ökologischer Rationalität erziehen können und umgekehrt die Produzenten durch ihre Produkte das ökologische Verhalten der Konsumenten beeinflussen. Die Transparenz der Informationen ist hier zentral. Schon Bankexperten begreifen die indirekten Effekte ihrer eigenen Finanzinstrumente und Anlageangebote zum Teil nicht. Weniger ein Informationsmangel als die Überkomplexität der Materie dürfte hier ein entscheidendes Hindernis sein. Der Einfluss der Konsumenten ist im Kapitalismus zudem begrenzt durch die Beschränkungen der Kaufkraft.
4 Die Produzenten und Anbieter nehmen die problematischen Bedürfnisse der Konsumenten und Nachfrager als Alibi dafür, ihre Produkte abzusetzen. Der Konsument habe es ja so gewollt. Die Arbeitenden nehmen den problematischen Zustand ihrer Arbeit zur Legitimation dafür, ein Recht auf Kompensation anzumelden und ihre Bedürfnisse nicht kritisch zu befragen. Die Vermittlung beider Fraktionen überwindet die Unbewusstheit über die Konstitution der Bedürfnisse durch die Arbeit und über den Einfluss, den die Qualität der Bedürfnisse auf die Nachfrage hat. Die innere Vermittlung beider wird in einer nachkapitalistischen Gesellschaftsordnung zum Gegenstand von gesellschaftlicher Reflexion und Gestaltung. »Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand. Die Produktion produziert die Konsumtion daher,
- indem sie ihr das Material schafft;
- indem sie die Weise der Konsumtion bestimmt;
- indem sie die erst von ihr als Gegenstand gesetzten Produkte als Bedürfnis in Konsumenten erzeugt« (Marx 1974, 14). »Nicht nur der Gegenstand der Konsumtion, sondern auch die Weise der Konsumtion wird daher durch die Produktion produziert, nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv« (MEW 13, 624).
5 Thema ist hier das gesellschaftlich massgebliche objektive Verhältnis zur Arbeit. Etwas anderes ist die sekundäre subjektive Besetzung der Arbeit.
6 ›Konvivialität‹ soll hier eine Qualität der objektiven Kultur (Simmel) bezeichnen, die negative Effekte auf die subjektive Kultur oder Kosten für das Psychosozialprodukt vermeidet. Ich benutze den Begriff nicht im ›strengen‹ Sinne seines Urhebers Ivan Illich in seinem Buch ›Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik‹ (Reinbek 1980). Die Originalausgabe trug den Titel ›Tools for Conviviality‹ (New York 1973.).
7 Die subjektive Kultur beinhaltet die Fähigkeiten und Sinne der Individuen und die objektive Kultur die in Techniken, Logistiken, Organisationen und gesellschaftlichen Infrastrukturen sowie in geistigen Werken verkörperten Qualifikationen, Wissensbestände und Erfahrungsverarbeitungen.
8 Anzustreben ist, »dass jeder eine solche Kombination von Aufgaben übernehmenmuss, dass die daraus resultierenden Belastungen imallgemeinen Durchschnitt überall gleich leicht oder gleich schwer zu ertragen sind« (Albert 2006, 103). »In der Theorie ist ein perfekter Ausgleich der Tätigkeitsbündel immer möglich – im wirklichen Leben natürlich nicht. (…) Doch man kann sich diesem Ideal annähern.« (Ebd., 107).
9 Albert diskutiert die Frage, ob das vergleichsweise hohe Einkommen von Ärzten wegen des aufwändigen Studiums legitim ist. Antwort 1: Nein, insofern die Kosten der Ausbildung nicht vom Studenten selbst bezahlt werden. Antwort 2: »Wenn der Arzt wegen der Unannehmlichkeiten seines Studiums besser bezahltwerdenmöchte, dannmuss er sich daran messen lassen, was andere bei ihrer Arbeit durchmachen mussten, während er im Hörsaal sass« (Albert 2006, 42).
10 Neuerungen werden bereits ob ihrer Verkäuflichkeit eingeführt. Die gegenwärtige, faktenschaffende Masse an Autos, das damit verbundene dysfunktionale Verkehrssystem, die ›autogerechte Stadt‹ usw. gibt es auch deshalb, weil die Frage, ob alle eine Dominanz des Autoverkehrs im Verkehrssystem wollen, nicht gesellschaftlich gestellt (wohl: als Frage, ob jeder ein Auto wolle) und auch nicht in der Vergegenwärtigung der Folgen antizipierend vergegenwärtigt wurde.
11 Dann erscheint als »bester Sänger einfach derjenige, der diemeisten Tonträger verkauft, die beste Wissenschaftlerin jene, welche die ausgeschriebene Stelle kriegt und der beste Politiker derjenige, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt« (Rosa 2006, 96).
12 Es geht darum, »die scharfe Grenze zwischen notwendiger Arbeit (…) und freier Tätigkeit zwar nicht einzuebnen (das hiesse sicherlich zuviel erhoffen), doch immerhin durchlässig zu machen« (Bahro 1977, 495). Das »Produktionsziel reiche Individualität« (Ebd., 489ff.) erfordert für die notwendige Arbeit: »Verkürzung der psychologisch unproduktiven Arbeitszeit innerhalb der notwendigen Arbeitszeit« (Ebd., 495). »Diese neue Ökonomie der Zeit wird auch Kosten (abstrakte Arbeitszeit) sparen, aber in erster Linie konkrete Lebenszeit gewinnen« (Ebd., 496).
13 »Das Leben des in dieses System eingespannten Menschen ist ein Wechsel von Spannung und Abspannung, dem keine Entspannung folgt« (Tillich).
14 Hegel kommtmit demBegriff des Masses zu einer Formulierung für die Einheit von Qualität und Quantität. Er sieht in der »unorganischenNatur« ein Sein, das diese Bestimmung nicht erreicht hat. Es »tritt hier das Mass insofern gleichsamin den Hintergrund, als hier vielfältig die vorhandenen qualitativen und quantitativen Bestimmungen sich als gleichgültig gegeneinander erweisen. So ist z.B. die Qualität eines Felsen oder eine Flusses nicht an eine bestimmte Grösse gebunden« (Hegel 1970, 225). Die Kunst bildet demgegenüber
»das anschaulichste Beispiel des qualitativenMasses. (…) Ein lyrisches Gedicht hat in seiner Beschaffenheit das Mass seiner Grösse. Wenn die Empfindung sich breit macht, so wird sie langweilig. Nichts ist weniger poetisch als das Langweilige.Wenn ein lyrisches Gedicht lang ist, so hört es auf poetisch zu wirken und zu sein, oder wenigstens es verliert an seiner poetischen Geltung. Umgekehrt braucht ein erzählendes Gedicht, um anschaulich darzustellen, eine gewisse Fülle des Spielraums, die eiausgedehntes und bequemes Grössenmass fordert. Man kann nicht in derselben Kürze erzählen als empfinden. Ein anderes qualitativesMass hat die lyrische Poesie, ein anderes die epische…« (Fischer 1865, 315).
15
»Neben der Steuerung durch die Partizipation der beteiligten Anspruchsgruppen muss der Staat durch einen entsprechenden gesetzlichen Rahmen Sorge tragen, dass Unternehmen im Sinne des Gemeinwohls handeln. Der Staat kann dies v.a. durch Anreizsysteme und ggf. auch durch Bestrafungen oder Verbote tun. Um die hierfür notwendigen Daten zur Verfügung zu haben, verpflichtet der Staat die Unternehmen zu einer umfangreichen Bilanzierung des unternehmerischen Erfolgs. In einer solidarischen Ökonomie geht es dabei nun weniger um den erwirtschafteten Gewinn sondern – wie oben dargelegt – um die soziale und ökologische Nachhaltigkeit des Unternehmens.
Die Erfolgsmessung eines Unternehmens muss also um diese Kriterien ausgeweitet werden. Die daraus entstehende Bilanz nennen wir Nachhaltigkeitsbilanz. Sie erfasst den unternehmerischen Erfolg aus wesentlichmehr Perspektiven als die herkömmliche Finanzbilanz und lässt sich unseres Erachtens ambestenmit Hilfe der in der Betriebswirtschaftslehre bereits bekannten und von vielen Unternehmen eingesetzten Balanced Scorecard erstellen « (Bender, Bernholt, Winkelmann 2012, 137).
Zur konkreten Ausformulierung der »Nachhaltigkeitsbilanz« vgl. ebd., 137–143. Selbstverständlich verstehen die Verfasser ihre Überlegungen nicht als Entwurf am grünen Tisch, sondern als Profilierung einer Suchrichtung. Dass esmit sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit nicht getan ist, sondern eines grundlegenderen Paradigmawandels (in Richtung ›Praxis‹) bedarf, ändert nichts am Wert der (dann eben inhaltlich anders akzentuierten) Bilanzierung betrieblicher Aktivitäten nach Kriterien des gesamtgesellschaftlichen Leitbildes.
16 Ein gutzuheissendes Tun kommt nur in dem Masse zustande, wie die Externalisierung negativer Effekte und Kosten ebenso abgelehnt wird wie die Ausnutzung des Schadens des anderen als Gelegenheit, das eigene Tun (bzw. dessen Resultate) unter positiver Voraussetzung der Schadensursachen anzubieten. Gesellschaftliche Bedingungen und Strukturen sind gefragt, die Urteilskraft ermöglichen, um in den verschiedenen besonderen Bereichen herauszufinden, wie das allgemein herrschende gesellschaftliche Paradigma (das gute Leben im Sinne von emphatisch verstandener ›Praxis‹) erst in bzw. durch die besonderen Bereiche und in ihremZusammenspiel verwirklicht wird. Über die Frage der Effizienz isolierter Erzeugungen und entsprechender Optimierungen hinaus stellt sich die Frage, welche Gesellschaftsqualität, welche Qualität der eigenen Einwirkung auf sich selbst und des sich dazu negativ verhaltenden Aufmerksamkeits-, Energie-und Kontrollverlustes sich die Gesellschaftmit bestimmten Arbeiten und Aufgaben, bestimmten Organisationen und Institutionen einhandelt. Erst die Implementierung dieser Reflexion in die Ökonomie, die Technik, in die Logistiken und Infrastrukturen führt diese zu einer Verortung und befreit sie selbst von der ihnen eigenen spontanen Tendenz zur schlechter Unendlichkeit und Masslosigkeit.
17 Auch Wissenschaftler, Forscher und Künstler »operieren…längst nicht mehr nach den Vorgaben sachlich begründeter, wettbewerbs-exogener Erfordernisse, sondern nach der endogenen Logik der sich verselbständigenden Konkurrenz: Wer viel publiziert hat, muss noch mehr publizieren, wer viele Fördermittel eingeworben hat, sollte noch mehr beantragen etc. (…) Was produziert wird, was erforscht wird, ist letztlich gleichgültig, solange es die Wettbewerbsfähigkeit steigert und Wachstums- oder Beschleunigungspotentiale verspricht« (Rosa 2006, 94f.).
18 »Die Leitziele eines Gesellschaftssystems, deren Umsetzung durch die Politik voranzutreiben ist, sind Arbeit, Umwelt und soziale Gerechtigkeit« (Hickel 2011, 101).
19 Ich konkretisiere die Stichworte dieses zusammenfassenden Überblicks andernorts in Überlegungen zu einzelnen Sphären der nachkapitalistischen Gesellschaft und entsprechenden institutionellen Regelungen. Sie betreffen
- die notwendige radikale Umgestaltung der Arbeit (2006),
- die notwendige Veränderung der Gegenstandswelt (2011)
- das Gemeineigentumsowie die Einhegung von Hierarchien und die diesbezüglich lehrreiche Herangehensweise im israelischen Kibbuz (2005)
- die gesellschaftliche Einhegung von Vorteilsnahme zulasten anderer (›Egoismus‹) (2009)
- die angelsächsische Debatte umdie »Sozialisierung desMarktes« (imUnterschied zum ›Marktsozialismus‹) (2001)
- die Überwindung des Weltmarkts (2006a)
- die institutionellen Strukturen nachkapitalistischer Gesellschaften (2003).
20 Die Verkehrung bezeichnet eine zunächst unbemerkte Bedeutungsverschiebung, in der die gleich bleibende Form eines Inhalts sukzessive diesem Inhalt Fremdes oder zu ihm Entgegengesetztes aufnimmt. Unter dem Schein des gleich bleibenden Inhalts wird er durch einen konträren Inhalt infiltriert. Feindliche Übernahme. Der zweite Inhalt tritt nicht frontal dem ersten entgegen, sondern artikuliert sich in seinem Namen.
21 Zu den ebenso gesellschaftsformationsspezifischen wie massiven Effekten der Gegenstandswelt (z.B. Stadtbauwelt) dermodernen bürgerlichen Gesellschaft auf die menschlichen Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen vgl. Creydt 2011.
22 Vgl. dazu Creydt: Die Überwindung des Kapitalismus. Kräfte und Perspektiven umfassender Gesellschaftstransformation. Erscheint 2013.
► Erschienen im Denknetz-Jahrbuch 2012 «Auf der Suche nach Perspektiven»
Verlag: edition 8, Postfach 3522, 8021 Zürich
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Postanschrift: Denknetz / Réseau de Réflexion, Postfach 9177, 8036 Zürich
info@denknetz-online.ch
http://www.denknetz-online.ch
ISBN 978-3-85990-181-0
Das Buch ist ab 3.10.2012 im Buchhandel erhältlich. Hier die Medienmitteilung zum Buch – klick hier
Real existierender Kapitalismus und humanistische Utopie