Vergewaltigungen und Prügelstrafen bei den Regensburger Domspatzen

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Wolfgang Blaschka
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Vergewaltigungen und Prügelstrafen bei den Regensburger Domspatzen
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Der Dom, die Spatzen und der Pfaff

Vergewaltigungen und Prügelstrafen bei den Regensburger Domspatzen

Von Wolfgang Blaschka, München

Ausgesuchte Knabenstimmen zum Engelsklang eines berühmten Chores zu verschmelzen war das eine. Das andere war das strenge Strafregime unserer sadistischen Präfekten und Direktoren. Die meisten waren Priester. Die Gottgeweihten bewirtschafteten einen quirligen Tümpel quakender Frösche. Das waren wir. Dann neigten sie sich herab, und siehe da: Im Spiegel der Wasserfläche wurden sie immer öfter zu giftigen Kröten. Wir hatten Angst vor ihnen. Manchmal wurden sie schwach und fischten im trüben Gewässer. Sie, die über uns standen, und die Rohrstöcke sausen ließen, um uns zu dirigieren und abzurichten. Und gelegentlich tauchten sie ein wie in einen Jungbrunnen. Die Opfer von damals sind heute Mitte Fünfzig. Sie befinden sich immer noch im Bann ihrer früheren Qualen.



Einen habe ich getroffen, einen Schauspieler, der im Gespräch beim Kaffeetrinken stotterte. Als ich nachfragte, wie das denn zusammengehe und woher das komme, meinte er nur lakonisch: „Domspatzen“. – „Was, Du auch?“ Und er erzählte mir von seiner Vergewaltigung im Arbeitszimmer des Direktors in Etterzhausen: „Er legte mich vornüber auf den Schreibtisch, zog mir die Hosen herunter und fi….e mich von hinten.“ Klare Aussage. Gar nicht gestottert. Das Stottern war auch nie auf der Bühne, vor Publikum, mit vorgegebener Rolle, nicht einmal bei den Proben. Nur im normalen Leben in privaten Gesprächen, wo er nie wusste, was der nächste Moment brächte und ihm abverlangte, da würde er ins Schlingern geraten. Eine echte Verdrehung im Verhalten, das die meisten genau andersrum an den Tag legten: Sie würden unsicher vor größeren Gruppen, vor einem Auditorium, vor der Öffentlichkeit.
 
Nein, gerade da fühle er sich total sicher, weil unangreifbar. Eine Art Perversion. Ein anderer, im Jahrgang auch kurz vor mir, berichtete von allerhand untauglichen Versuchen, mit seinem Trauma umzugehen, es zu bearbeiten. Ein Projekt klang besonders schräg: Er knackte Opferstöcke, bis er ertappt wurde, um dann bei der Hauptverhandlung vor Gericht „auspacken“ zu können. Die Staatsanwaltschaft nahm sein Tatmotiv, das er im Plädoyer freimütig schilderte, nicht zum Anlass, Ermittlungen gegen die „Geschädigte“ einzuleiten, sondern plädierte ungerührt auf zwei Jahre Knast für Einbruchsdiebstahl wegen 50 Euro – zur Bewährung! Seine „Verarztungen“ (Penis-Salbungen) im Regensburger Musikgymnasium beschrieb er beinahe nachsichtig: „Es war doch immerhin besser, überhaupt von jemandem auch mal sanft angefasst zu werden in dieser kalten Internatswelt.“
 
Ein ehemaliger Gesangslehrer kannte noch andere Beispiele und auch die erschreckend hohe Selbstmordquote unter meinen Mitschülern: Von drei untersuchten Jahrgängen (90 bis 100 Spatzenküken) haben sich 11 das Leben genommen – ein sattes Zehntel. Eine erschreckende Kontinuität! Schon im Mittelalter haben sich die Äbte und Bischöfe und Dorfpfarrer von den Bauern den Zehnten geholt – oft genug mit Gewalt. Aber Menschenleben? Im 20. Jahrhundert?! – Verjährt. Aber nicht vergessen!
 
Das Bistum Regensburg hüllte sich konsequent in Schweigen – getreu der päpstlichen Anordnung von 1962. – Brav! – Verlogene Verschwiegenheit war offenbar oberste Diözesanpflicht. Dabei wusste die Welt zumindest vom Ministranten-Skandal in diesem letzten aufklärungsfreien Areal einer immer noch weitgehend intakten Omertá. Ganz plötzlich haben die „Missbrauchsfälle bei der katholischen Kirche jetzt auch den weltberühmten Regensburger Knabenchor erreicht“, wie die Abendzeitung in verquerem Deutsch zu berichten wusste. So als hätten uns die Verbrechen nicht schon damals betroffen haben können, als sie an uns verübt wurden. Nein, auf und über die Domspatzen, diesen ältesten Knabenchor Deutschlands, der auf eine mittelalterliche “Dompräbende“ zurückgeht, durfte nichts kommen. Das war von Alters her (zeitweise auch mit Kastraten) eine Lateinschule mit der Verpflichtung, für die musikalische Umrahmung der feierlichen Hochämter im Dom St. Peter zu sorgen, und ist es letztlich immer noch, dieses altsprachlich-humanistische Musikgymnasium der Regensburger Domspatzen.
 
Ihr Ruf galt als heilig, und sie hatten engelsgleich unschuldig zu bleiben und unbefleckt zu singen. Ein Nestbeschmutzer, wer anderes behauptete! Man wollte es nicht sehen. Auch unser ehemaliger Domkapellmeister Monsignore Georg Ratzinger, der Bruder des Papstes Benedikt XVI., hat nichts gewusst, nichts gehört und nichts gesehen, vielleicht nicht sehen wollen. Er war Musiker. Heute ist er fast vollständig blind und kann nur noch auswendig gelernte Stücke spielen auf seinem Spinett im Austragsstüberl. Er hielt sich erst ab 1980 an das Verbot der Züchtigung – „strictissime!“ Wenn sich die vertrauten Brüder sehen, reden sie wahrscheinlich lieber privat Belangloses. Der andere schimpft gern auf Homosexuelle.
 
Das Domkapitel hat unter dem Druck der sich ausweitenden Skandalwelle in den Akten gekramt, und siehe da: Da waren sie doch längst schon da wie der Igel vor dem Hasen, die verstaubten Altlasten verjährter Fälle aus den 50- und 60-er Jahren. Karge Marginalien aus dem düsteren Schlund der Vergangenheit. Fußnoten der Kirchenkriminalität. Sonst noch was? Fehlanzeige! – Regensburg hat sauber zu sein. Amen. – So geht Aufklärung bei der Kirche. Ratzfatz! Gut, dass wir darüber gesprochen haben. Jetzt ist es heraus. Mea culpa.
 
Die Zeitungsspalten quellen derzeit über von einschlägigen Berichten: Schwere Sexualverbrechen an Schutzbefohlenen, zurückgetretene Priester, Patres und Äbte bei so lange wie möglich eisigem und eisernem Schweigen der Kirchenhierarchie mit ihrer internen Vertuschungs-Jurisprudenz, bekannt und berüchtigt als Glaubenskongregation, vulgo Inquisition. Vereinzelt aufbrechende Pickel wurden jahrzehnte-, jahrhundertelang als Einzelfälle abgetupft, die „Fehlbaren“ (im Gegensatz zum Papst) in Rotation weiterversetzt und so in die Anonymität entsorgt, die klaffenden Wunden wo nötig mit Schweigegeldern zugeschmiert oder mit schwärendem Gewissensdruck gepfropft. Der hervorquellende Eiter wurde in die Geheimarchive der Kurie abgelegt. Deren Hauptsorge galt seit jeher der Wahrung des Rufs ihrer Institution, die über allen weltlichen Niederungen zu thronen hatte als unangreifbare moralische Instanz. Es muss übel riechen in den innersten Gemäuern des Kirchenstaats. Noch hält sich das angeschlagene Kirchenschiff auf den Wogen, hält unbeirrbar Kurs aufs Jenseits Richtung Ewigkeit. Brutalst mögliche Aufklärung ist jetzt angesagt. Auch dafür hält die päpstliche Kurie ein institutionalisiertes Instrumentarium bereit: Die Apostolische Visitation. Sie kümmert sich mehr um geistlichen Beistand für einen „Neubeginn“ als um strafrechtliche Aufarbeitung oder gar systematische Konsequenzen. – Ist das zu glauben!? Schon wieder Neubeginn!
 
Nun platzen die Eiterbeulen in Serie – zuerst ausgerechnet bei den Jesuiten, der Speerspitze des Katholizismus – und was tut die Süddeutsche Zeitung? Sie druckt am 27./28. Februar einen harmlosen Einspalter: „Heimweh und Glück – aus den Erinnerungen eines Internatsschülers“. Der liest sich wie der bemühte Versuch, nur ja kein Nest zu beschmutzen, schon gar nicht das Spatzennest. In Etterzhausen unterhielten die Regensburger Domspatzen eine Vorschule (3. und 4. Volksschulklasse), die durchaus einer chilenischen Colonia Dignidad nicht unähnlich war. Abgeschieden und eingezäunt, auf einer Anhöhe über dem Dorf, das so unerreichbar nahe lag unter uns. Dort oben herrschte ein Gewaltregime, das heute kaum mehr vorstellbar scheint. Ein Strafkanon (5, 10 oder 15 Stockschläge wahlweise auf die Fingerkuppen oder außen auf die Nägel, manchmal auch aufs Gesäß) wurde exekutiert für geringste Vergehen: Schwätzen, „Tändeln“ (ich weiß bis heute nicht exakt, was damit gemeint war, obwohl ich mehrfach dafür büßen musste), abgehetzt oder gar zu spät zur Studierzeit einzutrudeln, nicht ordentlich in der Reihe stehen. Morgens, vor der täglichen Frühmesse in Dreierreihen, verselbständigte sich das Prinzip der Rutenschläge zeitweise zu einem unentrinnbaren Dilemma, wie man es aus „Catch 22“ kennt: Der Letzte, der aus dem Waschraum oder vom Schlafsaal kam sich hinten anzustellen, hatte nach dem Mittagessen seine Prügel abzuholen. Es war ziemlich oft derselbe arme Kerl, der diese Arschkarte gezogen hatte. Ich weiß noch heute seine Wäschenummer: 338. Sie wurde laut ausgerufen. Und dann im Chor der dazugehörige Name geraunt. Kinder können so grausam und herzlos sein – wie kleine Erwachsene. Wieder ein Handtuch liegen lassen, wieder die Seifenschale nicht aufgeräumt, und eben wieder zu spät! Sie hatten ihn auf dem Kieker. Er nahm’s scheinbar mit rüder Gelassenheit. – Einer musste doch der letzte sein. Davon stand in dem SZ-Artikel nichts. Dabei war’s eherner Alltagsbrauch. Sollte dieses Terror-Reglement in den 80-er Jahren bereits abgeschafft gewesen sein? Bei der langen Tradition?
 
Das Wort „Missbrauch“ scheint mir in diesem Zusammenhang geradezu euphemistisch. Man kann allerhand Missbrauch betreiben: Alkoholmissbrauch oder Medikamentenmissbrauch, – man kann einen Hammer missbrauchen als Mordwaffe oder sein Auto zur Amokfahrt. Aber Kindsmissbrauch? Das ist, als nennten wir Totschlag „Lebensmissbrauch“. Gäbe es denn einen angemessen korrekten, strafrechtlich oder ethisch unbedenklichen „Gebrauch“ von Kindern? Nennen wir es doch beim Namen: Vergewaltigung, schwere Körperverletzung, fortgesetzte Freiheitsberaubung, Nötigung etc. im Schoße der Kirche, in einem Klima „des warmen Katholizismus“, wie Fürstin Gloria von Thurn und Taxis einmal pointiert formulierte. „Der Schwarze schnaxelt gerne“: Sie meinte das rassistisch bezogen auf Afrikaner. Spätestens seit Roberto Blanco und seinem auf die CSU gemünzten Bonmot wissen wir um die Abgründe solch unzulässiger Verallgemeinerungen: Wir sind doch alle irgendwie Schwarze. Unter der Kutte arme Seelen und Sünderlein, nicht wahr? Schwarze Schäfchen sollten die übrigen Schafe nicht beunruhigen. Selbst die verlorenen führt der Hirte zurück zu seiner Herde.
 
Ähnlich steht es mit der „Unzucht“, diesem antiquierten Wortgetüm aus dem Katechismus. Gibt es umgekehrt eine Zucht, etwa mit Abhängigen oder Schutzbefohlenen, gegen die nichts einzuwenden wäre? Nennen wir sie doch beim Namen – und diese permanente Strafandrohung, die allgegenwärtige psychische Bedrängnis: Folter. Reden wir von den Verbrechen der Katholischen Kirche und ihrem System, das diese begünstigt, ja sogar hervorbringt, dem Zölibat, nicht von Verfehlungen einzelner! Ein übergriffiger Priester ist kein „Verirrter“, sondern ein Straftäter. Vielmehr ist die solcherlei „Verirrungen“ produzierende und provozierende strukturelle Gewalt zur Durchsetzung lebenslang erzwungener Asexualität oder noch schwieriger: Enthaltsamkeit von jeglicher Sexualität „irre“, geradezu kriminell – und mit Artikel 1 Grundgesetz (Menschenwürde) absolut nicht vereinbar. Das Hauptverbrechen, die „Kardinalsünde“ ist das Konstrukt des ausschließlich männlichen Priesteramtes selbst. Auch das ist genuin unvereinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Die Kirche ist demnach eine verfassungswidrige Organisation – bei Licht betrachtet. Sie muss also gezwungen werden, die staatlich garantierten Grundrechte auch ihren Angehörigen zu gewähren, ansonsten verstößt sie fortlaufend gegen Gesetze. Wer das in organisierter Weise gewohnheits- und gewerbsmäßig betreibt, für den hält das Strafgesetzbuch den Begriff der kriminellen Vereinigung bereit. Das werden die Gottesdiener doch wohl nicht wirklich wollen, oder? Wahrscheinlich sind sie sich dessen gar nicht bewusst. Die Aufklärung ist ja auch gerade erst mal über 200 Jahre her! Was sind diese zweihundert Jahre gegen ihre zweitausend!?
 
Der Autor dieses „Gefälligkeitsartikels“ für das Regensburger Bistum beschreibt das Heimweh als seine größte Plage. Es sei ihm konzediert. Mag er es subjektiv so empfunden haben. Aber mit den Dimensionen der Brutalität zwanzig Jahre vor seiner Domspatzenzeit hat das wenig zu tun. Es soll da kein falscher Eindruck entstehen inmitten einer Flut von Veröffentlichungen und Enthüllungen, welche die Symptome eines siechen Organismus unter schmutzig-blutigen Binden zutage fördern.
 
Die Kirche krankt nicht an vereinzelten Furunkeln, – was da vor sich hinfault, ist die Pest, deren Atem bis ins Heute herüberhaucht. Die ohnehin mangelnden Selbstheilungskräfte der Patientin Una Sancta Cattolica werden angesichts des medizinisch ignoranten Personals wenig Wirkung entfalten, wenn es nur betet und eine letzte Ölung parat hält, anstatt die zweifellos nötigen harten Schnitte zu vollziehen. Doch welcher Kopf würde sich schon selbst amputieren?! Also wird weiter gebunkert in lähmender Totenstarre. Das alte Immunsystem der Ignoranz hat versagt. Der Fall scheint aussichtslos. Nun heißt der Therapievorschlag: „Vertrauen zurückgewinnen“, sprich: die Angehörigen der Glaubensgemeinschaft sollen gefälligst wieder mehr glauben an den morbiden Patienten. Anstatt die Klöster und ihre Internate aufzulösen und der katholischen Kirche die Abschaffung des Zölibats abzufordern, andernfalls ihr die Lehrbefugnis zu entziehen und ihr den Umgang mit Minderjährigen generell zu untersagen, darf sich die Todgeweihte selbst diagnostizieren und therapieren.
 
Dass der Autor anmerkt, im Musikgymnasium sei ihm niemand zu nahe getreten, mag ja so sein. Immerhin räumt er für die Vorschule der Regensburger Domspatzen (zu seiner Zeit schon im benachbarten Kloster Pielenhofen) ein, dass dort Schläge verabreicht wurden – von einem „alten Pfarrer“ mit „hässlichen Händen“. War das immer noch unser ehemaliger Internatsdirektor? Auf die Hässlichkeit seiner Hände hatte ich nie geachtet. Ich erinnere nur, dass manche seiner Finger bräunlich-gelb waren vom Zigarettenqualm eines Kettenrauchers (Marken: HB und Ernte 23). Ich kannte ihre Brutalität und ihre Schlagkraft. Der Autor scheint sie nicht oft am eigenen Leib verspürt zu haben, diese hässlichen Hände, sonst täten ihm heute noch seine Finger weh beim Schreiben von solch verharmlosendem Reinwaschungs-Gewäsch für „Die Erzieher – keiner von ihnen berührte jemals einen Buben! ...“. Dieser generöse General-Pardon wirkt umso skandalöser direkt neben einem Artikel über sexuelle Übergriffe in Ettal, Mindelheim, St. Ottilien, Kloster Schäftlarn und wo immer katholische Priester ihr verkorkstes Sexualleben mit Kindern, meist mit Knaben praktizierten, da sie berufsbedingt zölibatär und offiziell absolut „keusch“ zu leben hatten. Wir waren ihnen jahrgangsweise zugetriebenes „Frischfleisch“: Formbar, disziplinierbar, unentrinnbar ausgeliefert.

 

Direktor Meier im Speisesaal des Domspatzenheims Etterzhausen  Foto: © cz 1976

 
Direktor Meier hatte noch einen „zivilen“ Gehilfen als Präfekten, einen pädagogisch ungebildeten ehemaligen Bergmann mit klobigen Händen, der mit seiner Familie außerhalb des Zauns auf der Etterzhausener Anhöhe wohnte und jeden Morgen ins Domspatzenheim schlenderte, manchmal fröhlich pfeifend, wenn er sich neue Weidenruten geschnitten hatte auf dem Weg zur Arbeit. Das war die Ration für die nächste Woche, die auf unseren geschundenen Gliedern zerschlagen wurden. Er brachte immer neue mit aus dem Wald, schälte sie mit seinem Taschenmesser und schnitt sie liebevoll zurecht, mit versonnenem Lächeln über den gespitzten Lippen. Seine beiden Söhne straften ihn später damit, dass sie zu den Jusos gingen. Seine erste Amtshandlung war, uns zu wecken, nachdem er seine Tatwerkzeuge im Spind verstaut hatte. Seine letzte Aktion war, das Licht im Schlafsaal zu löschen. Dazwischen lagen Backpfeifen und Ohrfeigen, die eher spontan kamen, aber auch das gnadenlos exerzierte Strafregime mit den Stöcken, das er sich mit dem Direktor in der Priesterverkleidung redlich teilte. Beide waren jähzornig und aufbrausend. Als Meier einmal bei der täglichen Frühmesse in der Hauskapelle kurz vor der Wandlung ein Wispern vernahm, drehte er sich ansatzlos um und schleuderte die goldene Patene, das Kulttellerchen, auf dem „der Leib unseres Herrn Jesu Christi“ in unmittelbare physische Anwesenheit herbeibeschworen werden sollte, wie einen Diskus nach hinten in Richtung des vermeintlichen Störenfrieds, der es prompt mit der scharfen Kante an die Schläfe bekam. Der betroffene Sünder reichte das liturgische Gerät anstandslos wieder nach vorn, und der Zelebrant legte die Hostie nach kurzem Abblasen wieder darauf, als sei nichts geschehen, um ungerührt das Sakrament der Heiligen Wandlung zu vollziehen. Und abends, nachdem alle „weltlichen“ Angestellten, Lehrer und Küchenhilfen, Hausmeister und Präfekt daheim waren in ihren abseits gelegenen Behausungen, war er allein mit uns und sich und seinem Kreuz. Nachts drehte er vor dem Zubettgehen noch einmal seine letzte Runde, ich sah durch die offene Tür auf dem Gang seinen Glimmstengel aufglühen. Manchmal schlurfte er in Hausschuhen auch noch durch die Schlafsäle, wenn er irgendwo einen Mucks zu hören glaubte. Er wollte sicher sein, dass nur noch geschnarcht wurde. Es war sein Heim. Wahrscheinlich war er der einzige, der sich hier zuhause fühlte.
 
Wohin mit den krampfhaft unterdrückten Hormonwallungen, der überbordenden Lust, den schwülstigen Phantasien, der unbändigen Geilheit?! Wohin mit dem Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Zuwendung, nach Küssen und Kosen, wohin damit bei einem Mann, der von diesem elementaren Lebensbereich abgeschnitten war in seiner Identität als Mensch – als Mann zumindest geistig kastriert? Hatte er je mit einer Frau oder auch mit einem Mann auf gleicher Augenhöhe seine Libido ausleben können, zumindest ansatz- oder versuchsweise? Hatte er je die Möglichkeit und auch die Gelegenheit dazu gehabt? Oder war er von klein auf ein Sexualkrüppel, ein verdorrter Eunuch, der Sex als verboten und verdammungswürdig, und daher nur mit roher Gewalt als eine Art Selbstbestrafung für seine „sündige Schwäche“ denken konnte – als Genuss und Erfüllung nicht einmal vorstellbar in heimlich lustvoller Onanie? Wahrscheinlich haben sie ihm selbst dieses Privatissimum noch vermiest: „200 Schuss, und dann ist Schluss“. So wie es bei der Flak halt auch gewesen war.
 
Heimweh war – für uns jedenfalls damals – das kleinere Problem, und mit einem Münzfernsprecher zu telefonieren wäre außerhalb des Denkbaren gewesen. Briefe waren es allenfalls, die da gekrakelt wurden – in lieblos gestanzten Formulierungen hingekleckst:


„Liebe Eltern, wie geht es Euch? Mir geht es gut. Das Wetter ist gut bis schön. Gestern gab es ein Gewitter, aber sonst ist es auszuhalten. In der Schule läuft alles einigermaßen mittelprächtig, aber nicht schlimm. Wir müssen fleißig singen und Noten üben. Das Klavierspiel macht gute Fortschritte. Das Essen lässt etwas zu wünschen übrig. Es gibt immerzu Kartoffeln in allerlei Variationen, nur sonntags mal Fleisch. Könntet ihr mir vielleicht demnächst einmal wieder ein Fresspaket schicken mit einem viertel Pfund Butter und/oder einer Mettwurst? Und vielleicht eine Tafel Schokolade? Tri-Top ist auch aus. Jetzt muss ich zur Chorstunde. Herr Erkes ist sehr nett, aber streng. Alles weitere im nächsten Brief oder wenn ich wieder zuhause bin. Lasst es Euch gut gehen bis zu den Ferien! Euer Fritzi.“ Und beinahe unverzichtbar ein „P.S.: Grüße auch an Max, Christian und Tommi und all die andern, auch an Tante Marie natürlich“.

 

So oder ähnlich klangen sie fast alle, die Briefe, die man uns in unregelmäßigen Abständen befahl zu schreiben im Studiersaal. Es war mehr eine Pflichtübung für die meisten. Es war eine schlimmere Art von Null-Kommunikation als heute beim SMSen oder Handy-Telefonieren. Es waren oberflächliche Harmlosigkeiten auf Papier, Lügen durch Fortlassung des Wesentlichen, in blauer Tinte auf Briefpapier gemalt wie für imaginäre Entlastungsakten gefertigt – zumindest als solche nutzbar. Das Wesentliche, der brennende Schmerz, die hilflose Ohnmacht, die bohrende Angst vor dem nächsten mittäglichen Strafappell nach der Postverteilung, und bei manchem nur die quälende Verzweiflung ob der Aussichtslosigkeit jeglichen Widerstands blieben tief verkapselt in unseren geschundenen Seelen und spurlos verborgen zwischen den Zeilen dieser Gefälligkeits-Post.
 
Wir wussten nichts Genaues, wir ahnten nur, dass wir in eine Hölle geraten waren. Wir machten sie uns – so gut es nur ging in den zwei Stunden Freizeit werktags zwischen Schulunterricht und Studierzeit, vor Chorprobe und Geigen- oder Klavierübungsstunde – zum Kinderspielplatz und Freilauf-Paradies. Doch selbst die Freizeit konnten sie uns vermiesen mit Strafarbeiten. „Schreibe fünfzigmal: Ich darf während des Mittagessens nicht mit dem Tischnachbarn schwätzen“. Ich fand nach Jahrzehnten noch solch ein kariertes Blatt halbvoll geschrieben in einem Schulheft-Umschlag – fein säuberlich untereinander geschrieben – auf Vorrat oder einfach nie abgegeben. Das war noch die mildeste Bestrafungsform. Kostete nur die Freizeit.
 
Kein Wort von kindlichem Heimweh stand in den Briefen, kein Wort aber auch vor allem von jenen Dingen, die aus Kindern Knaben machen sollten, ordentliche Sänger und Chorknaben, und aus Memmen: Kleine Männer. Keinerlei „harte Fakten“, keine Gefühle oder Empfindungen! Keine Klagen. Manchen Buben wurden diese harmlosen Lebenszeichen, die während der Studierzeit unter Aufsicht des Präfekten zu schreiben waren, auch noch zensiert, d.h. also „auf Rechtschreibfehler durchgesehen“ – das war’s dann mit dem Postgeheimnis. Wahrscheinlich genau die Kandidaten, die dann irgendwann „fällig“ waren. Ein Kriminalist hätte vermutlich exakt an diesem Punkt ansetzen können: Wessen Briefe überprüft wurden, der konnte möglicherweise auch Vergewaltigungs-Opfer werden oder schon geworden sein.
 
Schade, dass ich mich nicht mehr erinnern kann, bei wem das so war – es gab mehrere solcher „Fälle“ – auch in meiner Klasse. Ein anonymer Briefkasten existierte meiner Erinnerung nach nicht. Man hatte die Briefe in adressierten Kuverts abzugeben. Ich habe meine schon immer zugeklebt, denke ich. Ich hatte sogar Briefmarken von meiner Mutter mitbekommen, die ich nie zur Gänze aufbrauchte. Pflichtbriefe zu schreiben hielt ich für unsinnig. Daher hielt ich sie auch immer so kurz wie aussagearm, dass es knapp an der Unhöflichkeit vorbeischrammte. Und diesen inhaltsleeren Schmarrn hätten sie auch getrost lesen können. Haben sie ja vielleicht ohnehin – wer weiß. Zuzutrauen war ihnen fast alles an Niedertracht. Das Zutrauen einiger Zöglinge ging soweit, dass sie dem Präfekten Hansch bei einem sonntäglichen Spaziergang durch die Wälder der Etterzhausener Anhöhe einen selbstgepflückten Stock vermachten, in der Hoffnung, er würde auf dem Hinterteil anderer Buben zerdroschen. Er nahm ihn amüsiert in seine Sammlung.
 
Die Verdrängungsmechanismen funktionierten verlässlich: Als ich – später im Musikgymnasium in Regensburg – einmal mit einer Beule nach Hause kam zu meiner Mutter, und sich diese beim besten Willen nicht verbergen ließ unter meiner Kurzhaarfrisur, musste ich es ihr erzählen, woher ich sie hatte. Ein Priesterseminarist, der im „Kaff“ als Präfekt arbeitete, hatte sie mir verpasst – mit dem gusseisernen Sakristeischlüssel des Regensburger Doms. Ein Schlag von oben senkrecht auf den Kopf – aus irgendeiner Wutaufwallung heraus – vor dem Probenraum im Gewölbe unter der Paramentenkammer, wo wir uns gewöhnlich einsangen vor dem Hochamt. Meine Mutter war entsetzt und malte sich die schlimmsten Szenarien aus, welche Schädelfraktionen da möglich gewesen wären bei einem nur etwas festeren Hieb. War aber nichts. Ich redete ihr mit Engelszungen ihr Vorhaben aus, sich zu beschweren, falls nötig bis hinauf zum Bischof. Lächerlich, dachte ich. Der würde abwiegeln. Sie hätte vielleicht ihren kleinen Triumph als Löwenmutter, ich aber hätte die Sache künftighin tagtäglich mit dem Übeltäter auszubaden. Und überhaupt, petzen sei unanständig, und Muttersöhnchen wollte ich auch keines sein. Es gelang mir mit Mühe, ihr die Strafanzeige auszureden und mithin die eigene Körperverletzung zu vertuschen. Heute nennt man so etwas Stockholm-Syndrom. Die Akzeptanz der Gewalt, die Internalisierung des Terrors war das schlimmste. Der Kerl hätte sich bitter gerächt. Die Internatsleitung hätte mir die Hölle noch heißer gemacht. Die Polizei hätte mir kaum geglaubt. Es gab kein Entrinnen. Es gab keinen sicheren Ort. Nicht einmal zuhause bei meiner Mutter. Nicht einmal Heimweh blieb einem.
 
Nein, eine Privatsphäre gab es nicht, außer vielleicht in der abgesperrten Klokabine. Und selbst da lugte manchmal jemand – aus lauter Jux und Tollerei – unten durch oder oben drüber. Ach, wäre es doch nur das bisschen Heimweh gewesen! Es war viel, viel mehr, was uns quälte. Die Pratzen taten weh, die Ärsche brannten von den Stockschlägen, die Schläfen schmerzten vom dauernden Koteletten-Zwirbeln, die Wangen glühten von herzhaft klatschenden Ohrfeigen, nach denen man für Minuten die Engel singen hören konnte, wenn sie treffsicher verabreicht tatsächlich das Ohr trafen, um ihrem Namen gebührende Ehre zu machen. Einmal hing ich mit meinem ganzen Körpergewicht – hochgezogen am Haupthaar – mehrere Zentimeter über dem Boden, den ich mit den Füßen nicht mehr erreichen konnte.
 
Strampeln tat noch mehr weh. Als ich mich instinktiv am Arm des Peinigers festzuklammern suchte, um mein Eigengewicht zu mildern, prügelte er mich brutal in Grund und Boden. Hinterher hatte ich für einige lange Minuten einen pfeifenden Nachhall im Ohr – einen akuten Tinnitus, der sich erst mit der Zeit verlor. Das ausgerissene Haarbüschel legte am Hauptwirbel des Hinterkopfs eine kleine Tonsur frei, die mir lange geblieben ist. Das blitzende Funkeln in den Augen des Sadisten im schwarzen Anzug, der mich so zurichtete, werde ich nie vergessen. Ein Priester. Der Internatsdirektor Meier, ein ehemaliger Hitlerjunge. Es muss im Religionsunterricht gewesen sein. Ausgerechnet! Wahrscheinlich hatte ich den Beichtspiegel nicht fehlerfrei aufsagen können. Oder ich wusste mir das nicht zu erklären mit der „Unkeuschheit“. Es war sein Lieblingsthema.
 



Teil 2

Ausgesuchte Knabenstimmen zum Engelsklang eines berühmten Chores zu verschmelzen war das eine. Das andere war das strenge Strafregime unserer sadistischen Präfekten und Direktoren. Die meisten waren Priester. Die Gottgeweihten bewirtschafteten einen quirligen Tümpel quakender Frösche. Das waren wir. Dann neigten sie sich herab, und siehe da: Im Spiegel der Wasserfläche wurden sie immer öfter zu giftigen Kröten. Wir hatten Angst vor ihnen. Manchmal wurden sie schwach und fischten im trüben Gewässer. Sie, die über uns standen, und die Rohrstöcke sausen ließen, um uns zu dirigieren und abzurichten. Und gelegentlich tauchten sie ein wie in einen Jungbrunnen. Die Opfer von damals sind heute Mitte Fünfzig. Sie befinden sich immer noch im Bann ihrer früheren Qualen. – Hier der zweite Teil des Artikels über die Regensburger Domspatzen.

 
    

Regensburger Domturm, Turmhelm von innen  -   Fotos © Wolfgang Blaschka


Der kriminelle Katholik stand für seine Generation. Es war nicht nur das Verbrechertum innerhalb der Kirche, sondern der ganzen zur Trauer unfähigen Gesellschaft im wieder aufgerüsteten Westdeutschland der postfaschistischen Ära, die erst mit ’68 allmählich zu Ende ging. Es war die Brutalität der Kriegsgeneration, die – verroht, entmenscht und verheizt – nach mittlerweile zwanzig Jahren ihre immer noch schwelende Rache nahm an uns für den verlorenen Krieg, für ihre eigene gestohlene Jugend und für all diese unglaublichen Vorwürfe wegen ihrer gigantischen Verbrechen, ihrer bodenlosen Feigheit, ihres skrupellosen Opportunismus, ihrer erbärmlichen Verlogenheit. Wo sie doch gedacht hatten, junge Helden, echte Heroen, standhafte Teutonen, kraftstrotzende Übermenschen, arische Herrenmenschen – eben stramme Deutsche – zu sein oder sein zu müssen.
 
In Wirklichkeit waren sie nichts als Strandgut eines Vernichtungsfeldzuges auch gegen sich selbst. Umso schlimmer für sie, dass ihre Tugenden allmählich nichts mehr galten, ihr selbstverleugnender Kadavergehorsam keinen Respekt mehr genoss, „ihre Zeit“ vorbei zu gehen begann. Ihre Vorstellung von Disziplin, ihr Ordnungsgefüge, ihre Anschauungen sahen sie entwertet, ihre Autorität fanden sie untergraben. Sie schlugen um sich, als kämpften sie noch einmal und immer noch einmal um den „Endsieg“ – vergebens. Panzerfahrer Meier blieb in seinem Panzer – bis zuletzt.
 
Sie fühlten sich als Opfer, und wurden – schon wieder oder immer noch – zu Tätern. Sie hatten es so beigebracht bekommen, es war ihnen eingebleut worden, sie hatten es mit der Muttermilch aufgesogen und mit jedem Sirenenalarm, bei jedem Geländespiel und beim Fahnenappell bis ins Mark verspürt: Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter. Einige erkannten genau darin ihre Berufung, hart zu werden. Härter noch als Kruppstahl, viel fester noch im Glauben. Nicht an sich selbst, im Glauben an die Menschheit oder an die Menschlichkeit, sondern an Gott. Gerade, wo doch nach Auschwitz kein Gott existieren konnte, mussten sie ihn suchen. Ihn, diese ultimative Autorität nach all der Unmenschlichkeit. Seine irdische Agentur hatte das Desaster unbeschadet überstanden, seine Niederlassungen arbeiteten unversehrt, der Apparat blieb intakt. Sie selbst waren es nicht.


Wolfgang Blaschka und seine Mitschüler der Klasse 3

in Etterzhausen  (Foto: privat)


Manche von ihnen wurden zu Alkoholikern, Sadisten, Kinderschändern. Zu psychischen Wracks. Wohlgenährte, selbstgerechte Abfallhaufen ihrer selbst. Instinktiv merkten wir das. Kein Wunder, dass wir ihnen später nicht mit Unterwürfigkeit begegneten, sondern mit ansatzweiser Aufmüpfigkeit. Je mehr sie prügelten und droschen, desto mehr verachteten wir sie. Sie waren unglaubwürdig durch und durch. Sie waren – Erwachsene! Niemals wollten wir so werden wie die: Abschaum ihres unverdauten und umso brockenhafter ausgekotzten Deutschtums, bigotte Kleriker, die Wasser predigten und Wein tranken, von Nächstenliebe säuselten und Kinder über den Schreibtisch legten, um sie von hinten zu nehmen. Mit dem Stock oder mit dem Geigenbogen oder mit dem Schwanz, das war schon beinah einerlei. Entscheidend war die Entwürdigung – unsere wie auch die ihre. Ihre höchste Erregung fanden sie in unserer Züchtigung. Sie straften uns zur höheren Ehre Gottes wie zu ihrer eigenen Befriedigung, bis wir sangen, wie sie es wollten. Sie wähnten sich in ihrem päderastischen Eifer in pädagogischer Mission – alles geschehe nur zu unserem Wohl. Wir würden es ihnen später zu danken wissen.
 
Es sei noch keiner umgekommen von einer harten Hand, aber viele seien zu starken Menschen erzogen worden. So müssen die Ansprachen eines Baldur von Schirach geklungen haben. So klangen sie aus dem warmen Zigarettenatem des Direktors Meier, wenn er mal philosophisch wurde, was eher selten vorkam. Manchmal fiel ihm beim angestrengten Zuschlagen die viel zu lang geglühte Zigarettenasche auf das speckig schwarzglänzende Anzugjackett über dem Priesterkragen und kullerte von dort auf den Boden. Er bemerkte es kaum, so sehr war er auf den Strafvollzug versessen. Und wenn ja, dann nur aus dem zusammengekniffenen Augenwinkel. Dann trat er wie beiläufig mit seinen Hausschuhen darauf, um sie zu zerstäuben. „Asche zu Asche, Staub zu Staub“, so träumte ich gelernter Ministrant in solchen Situationen, um meine Gedanken zu zerstreuen, bevor ich dran kam zur Abfertigung mit Weidenrute, Bambusrohr oder ausgemustertem Violinbogen. Ich durfte mir aussuchen, ob ich außen oder innen auf die Hand geschlagen werden wollte. Beim Wegziehen wurden das jeweils letzte Fünferpack Schläge noch einmal mit verabreicht. Man konnte so auf maximal 27 Hiebe kommen, wenn man – im dümmsten Fall – jedesmal beim letzten Schlag weggezogen hätte. Man zog nicht weg. Man weinte nicht. Man winselte nicht um Gnade. Sollte den Mistkerl doch der Herzinfarkt treffen, bevor er uns schwach gesehen hätte! Diese Erziehung funktionierte. Wir wurden hart. Gegen uns selbst, und auch gegeneinander. Wir sprachen einander mit Familiennamen an. Nur selten habe ich jemanden heulen gesehen.
 
Nichts hätte ich lieber getan als zu seiner Beerdigung zu jubilieren, aus übervollem Herzen, wenn auch noch mit den letzten Spreißeln in den Fingerbeugen. Allein so etwas zu denken – eine Sünde! Aber davon wusste er nichts, und ich habe es ihm auch nie gebeichtet. Er war nicht nur geschäftsführender Internatsleiter, Religionslehrer und oberster Zuchtmeister – Richter und Vollstrecker in einem –, sondern auch unser Beichtvater mit violetter Stola, der alles ganz genau wissen wollte: Unkeusches getan, gesagt, angehört, angeschaut, gedacht? Allein oder zu zweien oder zu mehreren? Wo genau und wie? Mit wem? Dabei hielt er sein Bußgesicht in ein weißes Tuch gebeugt. Wir knieten in einem Schlafsaal einzeln nacheinander auf einem Beichtschemelchen vor ihm, der am Tisch saß. Wir wurden nicht mit Namen angesprochen. – Als hätte er uns nicht an unseren Stimmen erkannt!
 
Das hatten sie schon drauf, diese Scheinheiligen. Für zehn Vaterunser und zehn Ave-Maria gab’s dann die Absolution. Aber nur, wenn genügend offenbart wurde. Ein Mitschüler, der nur zu berichten gewusst hatte, zweimal gelogen zu haben, wurde zurück in die Hauskapelle geschickt zur abermaligen Gewissenserforschung. Nach einer Viertelstunde trat er zum zweiten Mal zum Sakramentsempfang an und erzählte das Blaue vom Himmel herunter, was der Priester gern hören wollte. Für die vielen Münchhausen-Geschichten war er’s dann zufrieden, und der sündhafte Lügner bekam schließlich die ersehnte Lossprechung von seiner erlogenen Sünderei. Die Beichte ward zur Lüge. Die Lüge hatte System. Die Lüge war das System. Das System Meier: „Ich bin Dein Gott und Herr. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“. Das hätte ihm gefallen. Das Beichtgeheimnis war sein monopolistisches Kapital. Aber er fiel und fiel nicht tot um – nur manchmal hüstelte er gepresst, wenn seine bläuliche Rauchfahne ihm brennend ins Auge hinter der goldgeränderten Brille schmauchte. Die waren „zäh wie Leder“, diese Schweinepriester! Und sie schlugen scheinbar emotionslos zu mit sorgsam verborgener Fleischeslust, deren zehrende Glut sie mit Kälte überspielten, gaben sie doch nach außen den gerecht strafenden (Über-)Vater, der barmherzig Buße verabreichte.
 
Ich hätte fragen sollen, ob man bereits abgestrafte Vergehen noch mal beichten hätte sollen. Wahrscheinlich wäre mir daraufhin kein katechetischer Diskurs, sondern die Sünde der „Hoffahrt“ angehängt worden. „Hoffärtig“ zu sein war überhaupt eines der schlimmsten. Es heißt soviel wie anmaßend, stolz, aufbegehrend. Da half nur eine Extraportion Demut. Die wurde dann eingeprügelt. Ein täglicher Sado-Maso-Salon muss das gewesen sein für den Direktor dieses Etablissements, dessen Zögling ich war. Dass das grausame Prozedere bei hellichtem Tag etwas mit pervertierter Sexualität zu tun haben könnte, ahnte ich freilich damals nicht. Es tat einfach nur grausam weh. Es war wie ein letztes Aufbäumen gegen den Strom der Zeit. In ihren Köpfen war immer noch Krieg und noch längst kein Frieden. So war die offizielle Außenpolitik, und so war ihr persönliches Empfinden. Bestenfalls Waffenstillstand, Nichtkrieg, solange „die Ostgebiete vom Feind besetzt“ bzw. – „z. Zt. unter polnischer/sowjetischer Verwaltung“ standen. Die Schul-Atlanten zeigten ein geteiltes „Deutschland in den Grenzen von 1937“. Andere Karten waren zum Unterricht in Bayern gar nicht zugelassen.
 
Die CSU war so rechts, dass sie die NPD mühelos marginalisierte. Gelungene Integration nannten sie das, lange bevor sie das Wort dann auf Migranten anzuwenden lernten, nachdem sie es jahrzehntelang als Sozialpädagogen-Geschwätz abgetan hatten. Kirche und CSU waren fast ein- und dasselbe. Vor den Bundestagswahlen wurde von den Kirchenkanzeln herab den gläubigen Schäfchen in „Hirtenworten“„verkündet“, wen oder was sie zu wählen hatten. Der Zeitgeist der frühen 60-er Jahre bot reichlich schwarzbraunen Humus, fetten Nährboden für Scheinheiligkeiten aller Art. Frisch entnazifizierte Nazis allenthalben in Amt und Würden, zu Demokraten geläuterte Klerikalfaschisten in der CSU, umgemodelte Völkische bei der CDU, auffrisierte Deutschnationale in der FDP, Nationalisten in der SPD. Alle standen mit breiten Stiefeln fest auf dem Grundgesetz herum und versicherten einander, dass man „heutzutage in einer Demokratie lebe“, die Todesstrafe aber nur solange abgeschafft bliebe, wie das Volk, also sie selbst nicht die Möglichkeit zum Plebiszit hätten. Ansonsten könne man für nichts garantieren. Nur die Kommunisten waren vorsorglich oder nachsorglich (wie sonst europaweit nur noch im Franco-Spanien) verboten. Sie wären schließlich die „Hauptnutznießer“ der Todesstrafe geworden. Da müsse man schon aufpassen. Der „Iwan“ stünde sonst „binnen 48 Stunden am Rhein“.
 
In diesem Klima galt Gewalt gegen Frauen und Kinder als „Kavaliers“-Delikt, und Züchtigung als des Mannes stattliche Zier, sittliche Pflicht und moralisches Vorrecht. Auch wenn die offizielle Gesetzeslage schon längst nicht mehr so war – der Common Sense bestand immer noch. „Zucht und Ordnung“ waren keine per se anrüchigen Vokabeln, bei denen man unwillkürlich an Neonazis hätte denken müssen. Es gab ja genügend Altnazis. Wäre einer von uns Malträtierten zur Polizei ins Dorf gegangen, hätte er ziemlich wahrscheinlich links und rechts eine geschmiert bekommen mit der väterlichen Belehrung, sich augenblicklich zu schleichen und künftig besser zu überlegen, was er sage. Das sei ja doch wohl unerhört. Unglaubliche Frechheit! Solch eine unbotmäßige Aufsässigkeit! Diese Jugend heutzutage, was bildet die sich eigentlich ein?! „Ein paar saftige Watschen haben noch niemandem geschadet“. Die waren eine allgemein anerkannte Erziehungsmethode und keinesfalls ehrenrührig – wenngleich offiziell strafbewehrt. Kaum ein Unmensch hielt sich an solch „neumodische“ Gesetze, – Kindererziehung ginge doch wohl den Staat nichts an, schließlich lebten wir doch „heutzutage in einer Demokratie“, oder wie?! Als wäre damit gemeint: Da schlägt man seine Kinder eben selbst.


Wolfgang Blaschka und seine Mitschüler der Klasse 4

in Etterzhausen  (Foto: privat)


Uns haben sie regelrecht gequält. Während die „Herren“ im Speisesaal auf einem Podest tafelten (auf einem Rollwägelchen schoben sie sich die Bratenstücke, die Knödelplatten und Soßenterrinen zu) und über das obligatorische Silentium wachten, während sie sich leise unterhielten, bekamen wir unter der Woche nur bescheidene Kost, jeden Tag Kartoffeln und Erdäpfel, Erdäpfel und Kartoffeln – meist mehlige Pampe, seltener als Bratkartoffeln, Reiberdatschi oder Kartoffelbrei, doch regelmäßig schlichte Salzkartoffeln, dazu Fisch, selten Würste, aber immer verkochtes Gemüse oder lieblos angemachten Blattsalat. Keinen Nachtisch normalerweise, nichts Süßes – außer freitags Mehlspeisen. Kaum je Obst – außer sonntags Kompott und zu Nikolaus Mandarinen. Einmal gab es Wirsing. Einer meiner Mitschüler, ein Bäckerssohn, mochte ihn nicht nur nicht, sondern reagierte regelrecht allergisch darauf. Er ließ das Gemüse unberührt auf dem Teller. Als der Direktor das von seinem erhöhten Sitzplatz aus erspähte, stellte er sich neben ihn und befahl ihm aufzuessen. Der kleine Albert weigerte sich. Der Direktor packte ihn und zwang ihm die Gabel mit dem verabscheuten Essen in den Mund. Nach ein paar Schlucken übergab er sich auf den Teller. Der Direktor zwang ihm das Erbrochene wieder und wieder in den Kropf, fütterte ihn gewaltsam. Ich hätte beim Anblick dieser Pein fast selber gekotzt. Er ließ erst ab, als Paula, eine eher mütterlich wirkende Küchenhilfe mit geknotetem Haarschopf, herbeieilte und den Teller mit der Sauerei beherzt abräumte.
 
An solchen Tagen wähnte ich mich in einem Kinder-KZ. Es wurde legal betrieben in der jungen Bundesrepublik, doch das Wachpersonal war noch in deren Rechtsvorgänger sozialisiert worden. Die Erniedrigung, die Brechung des Willens, Gehorsamserzwingung, Entsolidarisierung, Disziplinierung und gnadenlose Abhärtung waren grausiges Programm. Das Wort Demokratie klang aus dem Munde alter Nazis wie eine Totschlag-Keule. Wie die immerwährende Drohung, dass man auch anders könne. Schon das Wort „Diskussion“ klang ihnen aufmüpfig. „Demonstration“ war des Teufels – außer die der blanken Macht. Mit derlei Kram mussten sich die Kleriker ohnehin nie herumschlagen. Ihr höchstes Gesetz war das des Vaticans, und das war das Recht des Allerhöchsten – von jeher jenseits irdischer Mächte.


Domspatzenheim Etterzhausen (Foto: privat)


Tatsächlich lebt die katholische Kirche bis heute mit ihrer ganz eigenen, internen Jurisdiktion, garantiert von jenem Konkordat von 1933, das Adolf Hitler mit Pacelli abgeschlossen hat, und das bis heute die staatlich organisierte Eintreibung der Kirchensteuern, die Bezahlung der Krankenhaus-Seelsorger und Militärbischöfe, der Gefängnispfarrer und diverser Theologie-Professoren aus öffentlicher Hand garantiert. Die Kirche darf Lehrstühle besetzen und Schwangere beraten, die teuersten Immobilien in besten Citylagen kostenfrei und ausschließlich nutzen, ohne für den Denkmalschutz zuständig zu sein. Sie betreibt Wohlfahrts-Einrichtungen mit staatlichen Zuschüssen und lässt ihr Personal ohne Sozialabgaben und Rentenversicherung arbeiten, ohne dass der Zoll kommt und sie des Landes verweist. Als Tendenzbetrieb darf sie sogar ihr weltliches Personal entlassen, wenn es sich erdreistet sich privat scheiden zu lassen oder anderweitig zu vermählen. Sie ist ein Staat im Staate, der einer ausländischen Macht gehorcht. Und diese wiederum wähnt sich ferngesteuert von einer Instanz außerhalb des Erdkreises.
 
Völkerrechtlich ist das höchst bedenklich und pikant – hat man es letztlich doch mit Aliens und deren zu Höherem berufenen Erfüllungsgehilfen zu tun. Sämtliche Klosterfrauen haben sich mit einem Außerirdischen verlobt zu fühlen, und für viele Ordensmänner gelten so grundgesetzlich garantierte Rechte wie das auf Besitz oder das auf freie Rede einfach generell nicht. Sie haben grundsätzlich zu gehorchen, dorthin zu gehen, wohin man sie schickt und als Karthäuser lebenslang den Mund zu halten. Die Priester werfen sich bei ihrer Weihe flach auf den Boden, mit demütig ausgebreiteten Armen. Den Novizinnen wird zur Profess ihr Haupthaar geschoren. Der Firmling bekommt einen symbolischen Backenstreich wie einen Ritterschlag, mit dem er zum „Streiter Christi“ rekrutiert wird. Im Prinzip bin ich also zum nächsten Kreuzzug zwangsverpflichtet, so denn wieder mal einer starten sollte von Regensburg aus wie Ende des 11. und während des 12. Jahrhunderts. Wer macht so etwas freiwillig mit? Wer gibt seine profane Menschenwürde am Weihwasserkessel bei der Kirchenpforte ab?
 
Sie machen das so „freiwillig“ wie die Soldaten, die sich entwürdigenden und brutal-patriarchalen Initiationsriten zu unterwerfen haben, bevor sie in die Männergemeinschaft der „harten Kerle“ aufgenommen werden. Dasselbe Muster bei der Bundeswehr: Erst war’s nur in einem Hochgebirgszug der Mittenwalder Gebirgsjäger, dann kamen solche Meldungen auch aus anderen Heeres-Einheiten, zuletzt auch aus anderen Waffengattungen, von der Marine bis zur Luftwaffe. Das System Militarismus funktioniert ähnlich starr wie andere streng hierarchisch gegliederten Apparate. Kotzen und gefickt werden sind ihr höchster Spaß. Im Dreck kriechen und Stiefel lecken sind ihre internen Tugenden. Ein Heidenspaß offensichtlich. Solche Institute sind aus sich heraus nicht reformierbar. Sie gehören zweifellos abgeschafft. Die Domspatzen könnten auch als weltlicher Knabenchor ihrer Kirchenmusik pflegen – auf höchstem Niveau und ohne bischöfliches Ordinariat, das an den Konzerten, Schallplattenaufnahmen und Fernsehauftritten jenes Geld verdient, das bald schon vielleicht als Entschädigung ausbezahlt werden muss – für die Verbrechen seiner Pfaffen.


 

Blick vom Domturm auf das Regensburger Rathaus  -  Foto: © Wolfgang Blaschka


Für unsere Generation wird nichts mehr herausspringen. Die Verjährungsfristen sind längst abgelaufen. Hier genau liegt der Hase im Pfeffer: Die Verjährungsfristen vereiteln einen großen Teil der (juristischen) Aufarbeitung, sie wirken letztlich nicht als Garanten für Rechtssicherheit, sondern als pure Kinderschänder-Schutzgesetze. Jeder halbwegs berufserfahrene Psychotherapeut weiß um die lange Zeit, die verstreichen kann bei traumatisierten Opfern, ehe sie sich überhaupt erinnern, in eine tiefe Krise stürzen und dann irgendwann einmal vielleicht, wenn ihre Peiniger längst unter der Erde verrotten, bereit sind zu reden. Dennoch gilt immer noch die Regel, dass zehn Jahre nach Erreichen der Volljährigkeit der Bauer sein Recht verloren und der Kaiser seine unverdiente Ruhe hat auf Lebenszeit. Für die Opfer ist es noch lange nicht ausgestanden, wenn die Täter mümmelnde Greise sind. Da gibt es kein Vergessen, kein Vergeben. Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden. Daher müssen die Verjährungsfristen für Verbrechen gegen Kinder und Jugendliche generell aufgehoben werden, um wirksamen Jugendschutz zu gewährleisten. Wenn ein Erwachsener niemals darauf spekulieren könnte, dass das, was er Kindern und Heranwachsenden antut, jemals verjähren dürfte, wäre manch ein autoritär strukturierter Mensch vielleicht etwas zurückhaltender und würde sich im „Bedarfsfall der Versuchung“ eher eine andere Stelle suchen oder gar seinen Beruf wechseln, sich zumindest beraten oder therapieren lassen, bevor er sich und andere lebenslänglich unglücklich macht. Nicht dass Strafandrohung generell Verbrechen verhindern könnte, aber ihre Aufdeckung wäre zumindest möglich. So, wie es jetzt ist, wird nicht einmal mehr staatsanwaltlich ermittelt.
 
Kirchenintern bliebe ohnehin alles unterm Deckel endlos verstaubender Akten in Geheimarchiven. Will der Staat sich nicht zum Komplizen kirchlicher Strafvereitelung machen, müsste er konsequent das Konkordat aufkündigen und die unmögliche Situation beenden, dass die Beschuldigten in eigener Sache ermitteln dürfen. Eine klare Trennung von Kirche und Staat wäre die Grundvoraussetzung, dass hinter Klostermauern wucherndes und unter frommen Händen blühendes, himmelschreiendes Unrecht nicht mehr länger gedeihen kann. – Ich sehe schon, das wird noch eine Weile dauern. Das einzige, was dagegen sofort hilft, ist Aufdeckung, Offenlegung und Aufklärung. Da sind auch die Journalisten der Süddeutschen Zeitung gefragt. Nur keinen Bammel vor der weltberühmten Institution der Regensburger Domspatzen! Vielleicht singen sie ja sogar gern. Ich wünsche es ihnen. – Der Dom wird darüber schon nicht einstürzen. Die heiligen Hallen sind doch die hellen Knabenstimmen seit Jahrhunderten gewohnt, sonn- und feiertags und sogar unter der Woche jeden Donnerstag um sieben Uhr morgens – auch ohne Publikumsbeteiligung – zum so genannten Engelamt mit Prozession durch die menschenleere Kathedrale samt Monstranz unterm Himmel zu Weihrauchschwaden und „Tantum ergo sacramentum“.

Wolfgang Blaschka

 



Ich habe diesen persönlichen Erfahrungsbericht zuvor in Peter Kleinerts Onlinemagazin NRhZ veröffentlicht > Teil 1 > Teil 2