Der nachfolgende Text von Heleno Saña erschien zuletzt in der Zeitschrift UTOPIE Kreativ – einer monatliche Publikation, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Informationen zum Autor und Anmerkungen findet Ihr am Ende.
Vom Guten zum Bösen
von HELENO SAÑA
Die Begegnung sowohl mit dem Guten wie mit dem Bösen gehört zu den grundsätzlichen, nie aufhörenden Erfahrungen des Menschen. Leben heißt, von Anbeginn mit beiden Dimensionen der zwischenmenschlichen und gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse konfrontiert zu werden und immer wieder eine Entscheidung zwischen beiden treffen zu müssen. Tertium non datur.
In der als aufgeklärt geltenden Konsum- und Wohlstandsgesellschaft unserer Tage besteht die Neigung, die Problematik vom Guten und Bösen als ein Überbleibsel der Theologie oder einer unzeitgemäßen Moralphilosophie abzustempeln. Diese Haltung ist keineswegs überraschend; sie ist vielmehr das logische, naheliegende Ergebnis eines Zeitalters, das, auf seine positivistisch-vulgärhedonistische Gesinnung fixiert, nur an die unmittelbare und handfeste Welt der Pragmata glaubt und für ontologische und metaphysische Fragen nichts übrig hat. Schon die bloße Erwähnung beider Begriffe löst gewöhnlich einen Gestus von unverkennbarer Bemitleidung oder gar offenen Spottes aus. Als moderner Mensch ist man ja zu abgebrüht und zu »cool«, um sich mit einer als anachronistisch geltenden Thematik ernsthaft zu befassen. Man spricht lieber von Ökonomie und Politik, von aktuellen Fakten und Statistiken, als könnte man diese Daseinsbereiche von der ethischen Reflexion abkoppeln.
Gewiss, George W. Bush sprach im Zusammenhang mit dem Terrorismus und dem Islam von »Achsen des Bösen«, genauso wie Ronald Reagan in Zeiten des Kalten Krieges die Sowjetunion als »Reich des Bösen« bezeichnet hatte. Aber diese aus strategisch-propagandistischen Gründen verwendete Terminologie ist von den innen- und außenpolitischen Interessen der USA bestimmt worden. Darüber hinaus folgte sie dem Zweck, die US-Politik gegenüber der Weltöffentlichkeit als den Inbegriff des Guten zu verklären und sie damit stillschweigend von jeder Schuld oder moralischen Verantwortung reinzuwaschen, obwohl sie aufgrund ihrer gewalttätigen, imperialistischen, zynischen und menschenverachtenden Grundausrichtung selbst zum Bösen gehört. Die Instrumentalisierung und der Missbrauch des Begriffspaars Gut-Böse durch die zwei amerikanischen Präsidenten stellen somit keineswegs einen Widerspruch dar zur weitverbreiteten Gleichgültigkeit unserer Zeit in Bezug auf ethische Fragen.
Die Tatsache, dass die Problematik vom Guten und Bösen in den Hintergrund geraten ist, heißt nicht, dass sie sinnlos oder überflüssig geworden und keiner Reflexion mehr würdig wäre. Die verfahrene Lage, in der sich die Welt insgesamt befindet, beweist vielmehr ihre brennende, dramatische Aktualität. Eine Welt, die im Namen des anything goes und der Relativität der Werte den Anspruch erhebt, jenseits vom Guten und Bösen zu leben, wie Nietzsche wollte, ist dazu verurteilt, sich selbst zu vernichten und im Chaos zu enden, wie schon Seneca wusste: Dort, wo es keinen Unterschied mehr zwischen Gutem und Bösem gibt, belehrt er uns in seinem Buch »De clementia«, folgen Chaos und Ausbruch der Laster, confusio sequitur et vitiorum eruptio. Überdies: dort, wo man Gutes oder Böses für gegenstandslos erklärt, wird man nicht umhin können, einen Ersatz für beide topoi ausfindig zu machen. Das ist auch genau das, was heute geschieht. Welche Folgen diese vom System und den Medien durchgeführte Substitution gehabt hat, wird unter anderem durch den Zustand der Selbstverlorenheit und Selbstentfremdung sichtbar, in dem sich der Mensch heute befindet. Macht, Erfolg, Geld, Konsum, Genuss, Technik: das sind die Dinge, die unsere Zeit interessieren. Ob solche vulgärmaterialistischen Zielsetzungen in Einklang mit einem moralisch konformen und würdigen Verhalten stehen, kümmert die meisten Menschen wenig oder gar nicht, obwohl sie die ersten Opfer dieser axiologischen Fehlentwicklung sind.
Meine These: Die Menschen sind in der Tiefe ihrer Seele weitgehend unglücklich geworden, weil sie in ihrer Mehrheit versuchen, Erfüllung außerhalb des Guten zu finden und bereit sind, dafür ihr Gewissen auszuschalten oder ihm Gewalt anzutun.
► Der anthropologische Hintergrund
Sich mit der Frage vom Guten und Bösen auseinanderzusetzen, ist ursächlich mit der anthropologischen Beschaffenheit des Menschen verbunden, d. h., mit der Frage der menschlichen Freiheit und der Eigenverantwortung. Ist der Mensch frei und souverän genug, um moralisch zu handeln oder nicht? In dieser Kardinalfrage gibt es keine Übereinstimmung. Grob zusammengefasst kann man sagen, dass es immer zwei grundsätzliche Denkrichtungen gegeben hat: eine optimistische und eine pessimistische. Die erste Auffassung ist prinzipiell von der antiken und modernen Aufklärung vertreten worden, die zweite von der Gegenaufklärung in ihren verschiedenen Spielarten. Jene bejaht das liberum arbitrium, diese verneint es. Die affirmative Konzeption ist wiederum mit dem Glauben an die ausschlaggebende Rolle verbunden, die bei der Bildung des moralischen Bewusstseins die paideia oder Erziehung spielt. Dies erklärt, warum die großen philosophischen Systeme explizit oder implizit zugleich pädagogische Traktate waren.
Und nicht zu vergessen: Während die optimistisch ausgerichtete Anthropologie den Menschen großes Vertrauen entgegenbringt, geht die pessimistische Anthropologie von der grundsätzlichen Verderbtheit der menschlichen Natur aus.
Wir begnügen uns damit, in diesem Zusammenhang Folgendes festzustellen: Es hat immer Menschen gegeben, die freiwillig das Gute gewählt haben, sei es aus innerem Bedürfnis oder aus Pflichtgefühl. Diese universale Erfahrung straft all jene Weltanschauungen Lüge, die die natürliche Anlage des Menschen zum Guten abstreiten. Keine Frage: In der Weltgeschichte hat es mehr Böses als Gutes gegeben, aber diese Tatsache reicht trotzdem nicht, um die angeborene Fähigkeit des Menschen, Gutes zu tun, zu widerlegen. Sie besagt nur, dass das Böse in der Regel verbreiteter war als das Gute. Wäre dem nicht so, hätte die Menschheitsgeschichte einen ganz anderen, positiveren Verlauf genommen. Nur: Genauso wenig, wie man die Wahrheit nach dem Umfang ihrer Verbreitung beurteilen darf, lässt sich das Wesen des Guten mit quantitativen Kriterien erfassen. Denn auch dann, wenn es in der Minderheit bleibt oder auf verlorenem Posten steht, behält es seinen inneren Wert.
► Einige ideengeschichtliche Richtungen
Anaximander ging von der Annahme aus, dass sich das Böse des Menschen bemächtigt, wenn er sich vom Gemeinsamen trennt und sich für ein abgesondertes Dasein entscheidet. Die gleiche Ansicht zieht sich mehr oder weniger deutlich durch weite Teile der antiken und modernen Philosophie, nicht zuletzt bei Hegel, wie Leo Schestow bemerkt: »Wenn Hegel sagt, dass das Individuum dem allgemeinen Geist angehöre, so wiederholt er nur, was Anaximander sagte.«1
Für bestimmte Denkrichtungen wie die sokratische ist das Böse nichts anderes als Abwesenheit vom Guten, also eine rein negative Seinskategorie. Andere Theorien schreiben dem Bösen dagegen eine eigenspezifische, selbstständige Realität zu, wie vor allem die im 3. Jahrhundert in Persien entstandene manichäische Religion. Die Gnosis im Allgemeinen geht von der Voraussetzung aus, dass das Böse ein ens oder eine Substanz ist, keineswegs eine bloße Ermangelung, Verfehlung oder Verfall des Guten. Der Gott des Bösen und Dunklen wird bis zum Ende der Weltgeschichte herrschen. Danach aber wird der gute Gott über den bösen siegen und Licht und Liebe endgültig bringen. In der christlichen Theologie gilt das Böse als das Satanische im Gegensatz zu Gott. Während diese das Schöpferische verkörpert, besteht Satan aus rein destruktiver Kraft, wie der Mephistopheles von Goethe verkündet: »Ich bin der Geist, der stets verneint.« Ähnlich der Satan von John Milton: »To do augh good never will be our task/ but ever to do ill our sole delight« (Paradise lost).
Plotin fasst das Böse als Mangel, Privation und Entbehrung auf, also als defizitäre Form des Seins. Dieselbe Ansicht vertritt Augustinus. Der böse Wille ist nicht causa efficiens, sondern causa deficiens. Für Leibniz sind Gut und Böse zwei sich gegenseitig bedingende Kategorien; die eine ist ohne die andere undenkbar. Das Böse ist ausschließlich Menschenwerk, denn »vom Gott kann nichts kommen, das nicht in absolutem Einklang mit der Güte stünde«.2 Louis Dumont, der Leibniz folgt, sagt dazu , dass »le bien doit contenir le mal tout en étant son contraire … Un monde sans mal ne saurait être bon«.3 Schelling identifiziert das Böse mit dem Chaos, das wiederum aus dem Kampf des Partikular- bzw. Eigenwillens gegen den Universalwillen entsteht: »Das Positive ist immer das Ganze oder die Einheit. Das ihm Entgegenstehende ist Zertrennung des Ganzen, Disharmonie, Ataxie der Kräfte.«4
Die klassische Philosophie neigt fast übereinstimmend dazu, das Böse als Strafe zu bewerten. Umso böser der Einzelne ist, desto unglücklicher muss er sein. Das ist auch die Schlussfolgerung, die Boethius in seiner »Consolatio philosophiae« zieht. Hegel weiß wenig Stichhaltiges und Originelles über das Gute und das Böse zu sagen. Er beschränkt sich darauf festzustellen, dass das Böse und das Gute »untrennbar« sind und sie von dem Willen abhängen. Sein Fazit: »Ich habe, da das Gute wie das Böse mir entgegensteht, die Wahl zwischen beiden, kann mich zu beiden entschließen und das eine wie das andere in meine Subjektivität aufnehmen.«5. Da aber für ihn das Objektive und Rechtschaffene im Allgemeinen oder dem Staat liegt, besteht das Gute darin, den Gesetzen zu gehorchen: »Was der Mensch tun müsse, welches die Pflichten sind, die er zu erfüllen hat, ist in einem sittlichen Gemeinwesen leicht zu sagen – es ist nichts anderes von ihm zu tun, als was ihm in seinen Verhältnissen vorgezeichnet, ausgesprochen und bekannt ist.«6 Das ist auch die Meinung, die die Kommunitaristen und andere konservative Denkströmungen vertreten.
► Die Natur des Bösen
Das Böse wird von jeher in Verbindung mit der Materie (hyle) gebracht, ergibt sich aus ihrer Dominanz über die Vernunft (logos, ratio), wie schon die Gnosis und der Manichäismus behaupteten. Die Materie ist das Unreine und Schmutzige, der Geist das Reine und Erhabene. Deshalb muss die physis bekämpft und unter die Kontrolle des Geistes (nous) gebracht werden. Diese Ansicht findet sich sowohl bei den Religionen wie bei allen Weltanschauungen, die der Spiritualität den Vorrang geben. Der deutsche Idealismus und insbesondere Kant stellen eines der letzten großen Beispiele dieser Tradition dar. Aber gerade Kant spricht vom »radikalen Bösen« und versäumt nicht, auf die irrationale Veranlagung des Menschen hinzuweisen. So erinnert er daran, dass aus dem krummen Holze, woraus der Mensch geschnitzt sei, schwerlich etwas Gerades gezimmert werden könne.
Wir fassen das Böse als das Inhumane schlechthin auf. Es besteht darin, unseren Mitmenschen wissentlich und absichtlich Wehzutun, sie zu demütigen oder auf ihren Schmerz und ihre Sorgen mit Gleichgültigkeit zu reagieren. Das war auch die Ansicht Schopenhauers, der das Böse als »die Verursachung des fremden Leidens« definierte.7 Diese Verhaltensweisen setzen die innere Verrohung des Menschen voraus und treten vor allem in Epochen auf, in denen der Egoismus und die Selbstsucht die Oberhand behalten, wie es in unseren Tagen der Fall ist. In diesem Sinne bedeutet es die höchste Stufe der Selbstentfremdung. Wer das Böse wählt, schadet nicht nur seinen Opfern, sondern sich selbst. Im Grunde ist das Böse Selbststrafe, und zwar, weil es bewusst oder unbewusst mit der Vernichtung des eigenen Menschseins endet – dem schlimmsten Verlust, den ein Mensch erleiden kann.
Das Böse tritt nicht nur auf einzelpersönlicher, sondern auch auf kollektiver Ebene auf. Letztere ist sogar eine seiner häufigsten Erscheinungsformen. Ihr extremster Fall ist der Faschismus und überhaupt die Anwendung von Gewalt und Krieg. Aber das Böse kann auch in Gesellschaften verankert sein – sogar tief verankert sein –, die sich für friedlich, demokratisch, sozial gerecht und emanzipiert halten. Hier meine ich vor allem das kapitalistische System und die verheerenden Folgen, die seine weltweite Herrschaft für Milliarden Menschen hat. Aus Profitgier und Willen zur Macht Menschen zum chronischen Elend und zum sicheren Tod kaltblütig zu verurteilen, gehört für mich zum Bereich des Bösen, auch wenn die Verantwortlichen behaupten, dem Allgemeinwohl zu dienen. Dies kann auch nicht überraschen. Denn zur Strategie des Bösen gehört, sich als der Inbegriff des Guten zu tarnen. Seine Herrschaft geht stets mit einer Umwertung aller Werte einher, sie ist zugleich Verführung und Irreführung.
Das ist tatsächlich, was das Böse tut, um die Menschen zu täuschen und sie vom Licht der Wahrheit abzubringen. Zu Recht definierte Dorothee Sölle das kapitalistische System als »eine dämonische Mischung aus Zwang und Verführung«.8 Nur dadurch gelingt es dem Bösen, sich Gefolgschaft zu verschaffen und eine Massenerscheinung zu werden. Die Legitimierung von Götzen und falschen Idealen als das eigentliche summum bonum ist eine immer wiederkehrende Erscheinung der Weltgeschichte. Das Böse besteht heute nicht nur, aber an erster Stelle darin, das Geld zum höchsten Wert zu erheben und alles zu opfern, was diesem Mammonkult im Wege steht.
► Das Gute
Das erste, was wir uns hier fragen müssen, ist, ob der Mensch von Natur aus die Fähigkeit zum Guten besitzt. Auf diese Frage haben sowohl das antike wie auch das neuzeitliche humanistische Denken mit einem klaren Ja geantwortet. Die ganze Philosophie der Griechen stützt sich auf den unbedingten Glauben an das Gute, agathon. Platon, Aristoteles oder die Stoa sind ohne diese Grundüberzeugung undenkbar. Nicht anders bei modernen Moralisten wie Shaftesbury, seinem Schüler Francis Hutcheson, Rousseau oder Kropotkin. So fragt Hutcheson an die Adresse von Bernhard de Mandeville – Verfasser der »Bienenfabel« und Apologet des Egoismus –, wie sich erkläre, dass seiner egoistischen Neigung zum Trotz der Mensch auch altruistisch und großzügig handeln kann. Entsprechend sagt er, dass »wir von der Natur gemacht worden sind (formed by nature), um uns gegenseitig zu dienen und nicht, um nur uns selbst zu dienen«.9 Hutcheson war von der moralischen Natur des Menschen so überzeugt, dass er so weit ging zu behaupten, dass auch böse Menschen fähig sind, »to assist the injured«.10 Auch Adam Smith verstand das Gute als eine natürliche Veranlagung: »Dass wir oft durch den Kummer anderer selbst Kummer empfinden, ist eine zu offenkundige Tatsache, als dass es irgendwelcher Beispiele bedürfte, um sie zu beweisen. «11 Noch stärker als bei den Engländern wird die ursächliche Entsprechung von Natur und Moral von den französischen Aufklärern betont. Für Diderot steht außer Zweifel, dass Menschenliebe zur natürlichen Anlage des Menschen gehört, genauso wie Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft. Rousseau geht ja, wie bekannt, von der ursprünglichen Güte des Menschen aus. Deshalb fragt er in seinem Werk über die Erziehung: »Aber glauben Sie, dass es auf der ganzen Erde einen einzigen Menschen gibt, der so verdorben wäre, um niemals die Versuchung empfunden zu haben, Gutes zu tun?«12 Nicht im Menschen, sondern in der Geschichte ist das Böse zu suchen, lautet seine Hauptthese, aus der er ja die erste moderne Theorie der Entfremdung entwickelt.
Wir gehen hier nicht auf die immer wiederkehrende Kontroverse ein, ob das moralische Verhalten sich nach der natürlichen Neigung oder nach der Pflicht richten muss, wie Kant und sonstige Vertreter der deontologischen Moralauffassung meinen. Wir beschränken uns auf die Bemerkung, dass die Grenzen zwischen einer spontanen und einer reflexiven Ethik oft sehr schwer zu ziehen sind; weiterhin, dass auch dann, wenn deontologisch motivierte sittliche Handlungen entstehen, sie ohne die Mitwirkung der Naturanlagen des Menschen schwer zustande kommen können. Eine Morallehre, die nur auf der Vernunft fußt und natürliche Affekte wie Sympathie, Mitgefühl oder emotionale Anteilnahme außer Acht lässt, scheint mir genauso abstrakt wie weltfremd, um nicht zu sagen: unvorstellbar.
Schon Aristoteles sagt uns im 9. Kapitel der Nikomachischen Ethik, dass sittliche Handlungen verbunden sind mit innerer Freude. Die vor allem auf Kant zurückgehende deontologische Ethik ist das Resultat eines reduktionistischen Konzepts der menschlichen Natur, die nicht nur aus Ratio besteht. Nicht zu Unrecht hat Ernst Bloch darauf hingewiesen, dass »mit seiner preußisch-kargen wie pietistisch-mönchischen Trennung von Neigung und Pflicht« Kant im Grunde einen Rückschlag in die späte Aufklärung brachte, die ja zur menschlichen Natur eine weitgehend positive Einstellung hatte.13 Eine praktische, tätige Moral kann kaum ausschließlich auf dem »Sollen« beruhen, sie bedarf des freiwilligen »Wollens«.
Das Gute kann die verschiedensten Formen einnehmen, aber sein wesentlicher Inhalt ist Dienst an den anderen. Das bedeutet: Das Gute speist sich aus dem subjektiven Bedürfnis oder Wunsch, unseren Mitmenschen zu helfen bzw. sie glücklich zu sehen. Oder wie Kant sagen würde, sie nicht für unsere Zwecke zu missbrauchen und sie in ihrer ganzen Würde anzuerkennen. Moral ist immer und konstitutiv auf die Mitmenschen bezogen, ist von Hause aus relationaler Natur. Es heißt Transzendierung der eigenen Interessensphäre und Schaffung eines Raumes, in dem sich jeder geborgen und sicher fühlt.
Das Humane als die Konkretisierung des Guten strebt spontan und wesensmäßig danach, sich zu universalisieren, sich Gehör zu verschaffen und sich gesellschaftlich durchzusetzen. In diesem Sinne bedeutet es tätigen Einsatz für eine gerechtere, bessere, sinnvollere Welt. Dieses Engagement kann sowohl auf zwischenmenschlichem wie auf gesellschaftspolitischem Wege erfolgen. Hierarchische Unterschiede zwischen beiden Verhaltensweisen festlegen zu wollen, scheint mir fehl am Platze. Welchen von beiden Wegen man wählt, hängt immer von der Veranlagung oder der Berufung des jeweiligen Einzelnen ab. Allein wichtig ist die Bereitschaft oder der Wille, den in Not geratenen Menschen die Hand zu reichen, die Verlassenen und Gedemütigten nicht im Stich zu lassen, sich bemühen, ihnen das Gefühl zu vermitteln, sie wären nicht ganz allein in der Welt.
► Bewährungsprobe
Der ethisch engagierte Mensch erfährt das gesellschaftliche Umfeld grundsätzlich als Negation seines Strebens nach einer menschenwürdigen Ordnung. Und weil es so ist, bedeutet ein solches Engagement, im Konflikt mit dem zwischenmenschlichen und kollektiven Sein zu leben, damit aber auch im Konflikt mit dem eigenen Gewissen. Sich diesem Konflikt zu stellen, erfordert eine große seelische Kraft; deshalb gehen die meisten Menschen ihm aus dem Weg und ziehen es vor, sich in ihren privaten Raum zurückzuziehen. Man wählt die Unterwerfung, weil für den Durchschnittsmenschen das nackte, rein animalische Dasein mehr zählt als Wahrheit, Selbstachtung, Recht, Freiheit, Selbstbestimmung und andere höhere Werte. Da man aber von der organisierten Macht nur Ablehnung oder Feindschaft erwarten kann, bleibt dem Menschen nichts anderes übrig, als sich zur Wehr zu setzen. Er tut dies nicht, weil er unbedingt den Kampf liebt oder besonders mutig wäre, sondern weil die Verhältnisse ihn zwingen, Widerstand zu leisten. Man darf in diesem Zusammenhang nicht aus den Augen verlieren, dass die Zwietracht nicht von dem Humanen, sondern von dem Inhumanen in der Welt eingeführt wird. Es ist letzteres, in dem der genetische Moment des Konflikts liegt. Es ist aber auch ein ungleicher Kampf, bei dem in der Regel das Humane – also das Gute – unterliegt. Dies erklärt, warum die Weltgeschichte im Ganzen die nie endende Chronik des triumphierenden Bösen ist.
Sich für ein edles, selbstloses und unegoistisches Anliegen einzusetzen, fasse ich als die höchste Form der Selbstverwirklichung auf. Dass ein solcher Einsatz fast immer eine schwere Herausforderung ist, habe ich soeben unterstrichen. Das schwierigste ist allerdings nicht, nach dem Guten zu streben, sondern unsere Ohnmacht gegenüber dem Weltelend ertragen zu müssen und mit dem Bewusstsein unserer eigenen Nichtigkeit konfrontiert zu werden. Deshalb lauert stets im Hintergrund der Selbstzweifel – und damit auch die Versuchung, aufzugeben und wie die anderen zu werden. Mit den anderen sind diejenigen gemeint, die prinzipiell nur an sich selbst denken.
Eines glaube ich sagen zu können: Für die Menschen, die für das Gute Partei genommen haben, ist das Sein zugleich Nichtsein, letzteres gleichbedeutend für innere Agonie. Selbst und gerade die Heiligen und Mystiker kennen die »dunkle Nacht der Seele«, über die San Juan de la Cruz so eindringlich klagte, sind mit der Erfahrung der acedia und der derelictio eng vertraut, ein Seelenzustand, den jeder Idealist und jeder Revolutionär auch kennt.
Man übersieht oft, dass gerade die Menschen, die das spontane Bedürfnis empfinden, den anderen Trost zu spenden, oft die ersten sind, die selbst Trost nötig haben. Denn nicht stark sind sie, sondern zerbrechlich, wahrscheinlich zerbrechlicher als die meisten Menschen, schon allein deshalb, weil sie empfindsamer und verletzbarer sind. Deshalb ist es für sie so wichtig, Verständnis und Anerkennung für ihr Tun und Walten zu finden. Ja, vielleicht wählen sie das Gute, weil sie es selbst so dringend brauchen. Wer nur selbstbezogen lebt, kann leicht auf die Zuwendung seiner Nebenmenschen verzichten; er ist daran gewöhnt, auch ohne sie zufrieden zu sein. Ganz anders steht es mit jenen, die Selbstverwirklichung in ursächlichen Zusammenhang mit dem Los ihrer Nächsten bringen. Oder mit den schönen Worten von Pier Paolo Pasolini: »Wer Leidenschaft und Stolz in sich trägt, ist im innersten gespalten und verletzt; er hat auf dem Grunde seiner Seele ein ihm selbst unbekanntes Zittern, das ihn schwach macht, denn hart sind die, denen Leidenschaft und Stolz abgehen.«14
Davon abgesehen: Wer hat gesagt, dass man stark sein muss? Und was wäre genau unter Stärke zu verstehen? Was man unter diesem Begriff versteht, besteht meistens aus Härte und Rücksichtslosigkeit, den Attributen also, die in der enthumanisierten und verdinglichten Welt unserer Tage Geltung haben, weil sie Erfolg im üblichen, instrumentellen Sinn versprechen. Nein, dies ist nicht die Stärke, aus der das Gute entsteht. Die Entschlossenheit, treu zu bestimmten Grundsätzen und Verhaltensweisen zu bleiben, verlangt andere Charaktereigenschaften. Eines steht fest, zumindest für mich: Je tiefer und wahrhaftiger die Parteinahme für das Gute ist, desto erbarmungsloser ist die Bewährungsprobe, die man durchlaufen und durchstehen muss. Und nicht unbedingt Belohnung bringt die Wahl des Guten, sondern auch Strafe. Ja, gerade die Menschen, die sich dem Humanen verpflichtet fühlen, werden am meisten bestraft. Zu dieser Strafe gehört in erster Linie das Gefühl, dass man umsonst versucht hat, selbstlos und hilfsbereit zu sein. Das sind die Momente – die sehr lange dauern können – in denen alles sinnlos erscheint: unsere Ohnmacht, die Verlogenheit des Ganzen, die Gedankenlosigkeit des großen Haufens, die blinde Automatik der Destruktivität und der Rücksichtslosigkeit der Herrschenden und Mächtigen. Und dennoch: Man kann in tieferem Sinn nur von Siegen sprechen, wenn unsere Handlungen dem Guten dienen. Alles andere ist Niederlage.
Quelle: Zeitschrift UTOPIE Kreativ - monatliche Publikation, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung - Nr. 176, Juni 2005, Seite 483-490
http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/176Sana.pdf
Fußnoten:
1 Leo Schestow: Auf Hiobs Waage, Berlin 1929, S. 371.
2 Gottfried Wilhelm Leibniz: Essais de Theodicée, Paris 1969, p. 71.
3 Louis Dumont: Essai sur l'individualisme, Paris 1983, p. 243.
4 Friedrich Wilhelm Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Stuttgart 1983, S. 85.
5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 265.
6 Ebenda, S. 298.
7 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzig 1819, S. 507.
8 Dorothee Sölle: Wählt das Leben, Stuttgart 1980, S. 65.
9 Francis Hutcheson: A System of Moral Philosophy, Collected Works, Vol. 6, p. 105; hier zitiert nach der Reprint-Ausgabe, Hildesheim/Zürich/New York 1990.
10 Ebenda, S. 137.
11 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Frankfurt a. M. 1949, S. 25-26.
12 Jean Jacques Rousseau: Emile ou de l'éducation, Paris 1966, p. 379.
13 Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde, in: Gesamtausgabe, Band 6, Frankfurt a. M. 1961, S. 338.
14 Pier Paolo Pasolini: Ich bin eine Kraft des Vergangenen, Briefe 1940-1975, Berlin 1971, S. 267.
Informationen zum Autor:
Heleno Saña, 1930 in Barcelona geboren, entstammt einer libertär-antifaschistischen Familie. Seine Jugend war geprägt durch die wiederholten Verhaftungen seines Vaters (Juan Saña) und den Untergrundkampf gegen das Franco-Regime. Nach seiner Ausbildung als Journalist in Madrid übersiedelte er 1959 nach Deutschland und arbeitet als freier Schriftsteller und Sozialphilosoph.
Saña verbindet seine schriftstellerische Tätigkeit mit seinem Interesse für historische, sozialgeschichtliche und philosophische Themen. Er hat über 30 gesellschaftskritische und kulturgeschichtliche Bücher in spanischer und deutscher Sprache verfasst, u.a.:
- "Die Zivilisation frißt ihre Kinder. Die abendländische Weltherrschaft und ihre Folgen" (1977)
- "Die verlorene Menschlichkeit. Wege aus einem Ausnahmezustand" (1994)
- "Das Elend des Politischen" (1998)
- "Die libertäre Revolution. Die Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg" (2001)
- "Macht ohne Moral. Die Herrschaft des Westens und ihre Grundlagen" (2003)
- "Würde und Widerstand. Menschlichkeit in einer unmenschlichen Welt" (PapyRossa Verlag, ISBN 978-3-89438-367-1, Köln 2007)
Destruktivität oder die Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz