Vorkriegszeit

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Vorkriegszeit
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Vorkriegszeit


von Dr. Manfred Sohn


Hätte Druckerschwärze eine Stimme, hätten sich die Zeitungen der Springer-Presse zum 9. November mit sich selbst überschlagenen Tönen Gehör verschafft, als sie schrill und schreiend den 25. Jahrestag des Anfangs vom Ende der DDR und damit des ersten großen Anlaufs zum Sozialismus auf deutschem Boden feierten.

Das Nachgurgeln ihrer damaligen Sekt- und Siegerlaune sei ihnen und ihren Lesern gegönnt. Die Aufmerksamen unter ihnen werden bemerken, daß sie seitdem keinen Tag mehr aus politischen Gründen so ausgelassen gefeiert haben. Das hat einen düsteren Grund, der so langsam am Horizont heraufzieht wie Gewitterwolken, von denen niemand weiß, wann, von denen die Wetterkundigen aber wissen, daß sie sich entladen werden.

Die Sieger vom 9. November feierten das für sie siegreiche Ende des Kalten Krieges, der wiederum dem heißen 31jährigen Krieg von 1914 bis 1945 folgte. Dieser Kalte Krieg wurde von der in ihm lebenden Generation zu Recht als „Nachkriegszeit“ empfunden. Das Wort taucht an den Bier- und Kaffeetischen seit 1989 nicht mehr auf. Auch hier hat das sprachbildende Volk recht: Die Nachkriegszeit endete mit diesem Mauerfall.

Und nun? Ist das das Ende aller Kriege?

Nein, der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Gewitterwolke den Regen, den Sturm, den Donner und den Blitz. Das Jahr 1914 löste die Spannungen, die sich im Gefolge der großen Krise von 1873 aufgebaut hatten. Das Jahr 1939 löste die Spannungen, die sich im Gefolge der großen Krise von 1929 aufgebaut hatten. Beiden Donnerschlägen ging das Rumoren kleinerer Kriege und Scharmützel voraus. Seit 2008 nun erleben wir eine in Dauer, Tiefe und Breite über die damaligen Krisen hinausgehende große kapitalistische Krise.
 

Der Krieg ist die großzügigste und wirkungsvollste ‘Reinigungskrise zur Beseitigung der Überinvestition’, die es gibt.

Er eröffnet gewaltige Möglichkeiten neuer zusätzlicher Kapitalinvestitionen und sorgt für gründlichen Verbrauch und Verschleiß der angesammelten Vorräte an Waren und Kapitalien, wesentlich rascher und durchgreifender, als es in den gewöhnlichen Depressionsperioden auch bei stärkster künstlicher Nachhilfe möglich ist.

So ist der Krieg das beste Mittel,
um die endgültige Katastrophe des ganzen kapitalistischen Wirtschaftssystems immer wieder hinauszuschieben.
Ernst Winkler
Theorie der natürlichen Wirtschaftsordnung, 1952

 

Die im Kapitalismus, er 1989 endgültig Weltsystem geworden ist, strukturell bereits angelegten und mit kapitalistischen Bordmitteln nicht mehr wegzutherapierenden Verwerfungen werden zur Entladung drängen. Die früheren Entladungen nennen wir heute Weltkriege. Das Zeitalter der Weltkriege – erkannte Rosa Luxemburg vor hundert Jahren weitsichtig – ist solange nicht vorbei wie der Imperialismus nicht besiegt ist. Die Krise 2008 markiert das Ende der kurzen Zwischenkriegszeit mit ihren Illusionen von „Friedensdividende“ und was es an verträumtem Wortmüll damals noch so alles gab. Seit ihrem Ausbruch leben wir, so ungemütlich das klingt, in einer neuen Vorkriegszeit. Sie verbindet sich – wie die 14 Jahre vor dem August 1914 und das Jahrzehnt vor den Schüssen auf die polnische Westerplatte – mit den Hoffnungen, das noch abwenden zu können. Da ihre Gründe tief in den Strukturen des kapitalistischen Systems lagen und liegen, besteht bei nüchterner Betrachtung nicht viel Hoffnung, daß die gegenüber damals heute viel schwächeren Friedenskräfte die Entladung der Krisenfolgen in Form eines großen Krieges noch abwenden könnten. Es besteht lediglich die Hoffnung, den Verlauf dieses Dramas so zu nutzen wie es die revolutionären Kräfte nach 1914 und nach 1939 konnten: für einen neuen Anlauf zum Sozialismus, der durch Umwandlung des imperialistischen Krieges in eine sozialistische Bewegung dann 1917 und 1949 zumindest anfangs gelang.

Am Beginn all‘ dessen steht aber die völlige Illusionslosigkeit darüber, daß wir gemeinsam am Beginn des Strudels immer größerer Kriege stehen: Vorkriegszeit eben.

Manfred Sohn



 



Bild- und Grafikquellen:

Kabarettist VOLKER PISPERS: "Auf dem Grabstein des Kapitalismus wird später stehen: Zuviel war nicht genug." Originalfoto: Niko Bellgardt, Düren. Quelle: Flickr / Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 generisch“ (US-amerikanisch) lizenziert. Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.de