Wohlstand ohne Wachstum

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Wohlstand ohne Wachstum
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Wohlstand ohne Wachstum 

 

Beitrag von Prof. Dr. Meinhard Miegel

 

Die Nachrichtenflut, die sich derzeit über uns ergießt, nährt den Eindruck, es gebe nichts Wichtigeres als die europäische Schuldenkrise. Denn sie - so die bedrohliche Argumentation - gefährdet den Euro. Und wenn der Euro zerbricht, zerbricht Europa. Und da das nicht hinnehmbar ist, so weiter, rechtfertigt die Überwindung der Schuldenkrise fast jedes Mittel.

Ein so dramatisches Szenario lässt die Frage nach den eigentlichen Gründen dieser Misere selbstredend verblassen. Dennoch ist diese Frage nicht müßig: Wie konnte es geschehen, dass sich nicht nur die Europäer, sondern faktisch die ganze westliche Welt innerhalb weniger Jahre oder allenfalls Jahrzehnte dermaßen verschuldeten, dass ihre Bonität über kurz oder lang bezweifelt werden musste? Und warum verfielen sie just dann in diesen Schuldenrausch, als sie zu einer menschheitsgeschichtlich beispiellosen Wohlhabenheit gelangt waren?

Die Beantwortung dieser  Fragen rührt an das Selbstverständnis westlicher Gesellschaften. Ihr Glücks- und Heilsversprechen war und ist nämlich die Dreieinigkeit von Wirtschaftswachstum, materieller Wohlstandsmehrung und individueller Lebenszufriedenheit. Die Wirtschaft muss wachsen, um den Wohlstand zu mehren und auf diese Weise die Zufriedenheit der Menschen zu steigern. Was also tun, wenn das Wachstum der Wirtschaft stockt und dadurch das ganze Räderwerk zum Stillstand kommt?

Das darf nicht geschehen, wenn diese Gesellschaften nicht ihre Fundierung gefährden wollen. Und wenn es doch geschieht, wird das Geschehen nach Kräften kaschiert. Es wird so getan, als wachse die Wirtschaft weiter und alles ginge seinen gewohnten Gang. Wachstum und Wohlstandsmehrung werden simuliert - seit Jahren und Jahrzehnten die Wirklichkeit in großen Teilen der westlichen Welt.

Schon 1978 vereinbarten die Staats- und Regierungschefs der seinerzeit wichtigsten Industrieländer, durch schuldenfinanzierte Konjunktur- und Subventionsprogramme das aus ihrer Sicht schleppende Wirtschaftswachstum zu beflügeln. Seitdem kamen Länder wie Deutschland und viele andere aus dem Schuldenmachen nicht mehr heraus. Stets war die Konjunktur zu lahm. Stets musste mit Steuermilliarden nachgeholfen werden, bis schließlich Wohlstandsgewinne und Schulden im Gleichschritt zunahmen. Damals begann, was heute Europa und nach und nach die ganze Welt beschwert: die Epoche schuldenfinanzierten Wachstums.

Was aber ließ, was lässt das eigendynamische, wohlstandsmehrende Wachstum stocken? Die Gründe sind vielfältig und nicht überall gleich. Doch ganz wesentlich ist, was in der ersten Regierungserklärung dieser Legislaturperiode anklingt, wo es heißt, es müsse in diesem Jahrzehnt gelingen, eine Art des Wirtschaftens zu finden, die nicht die Grundlagen ihres eigenen Erfolges zerstört. Denn das ist in der Tat das Problem: Die Art wie spätestens seit Beginn der Industrialisierung gewirtschaftet wird, ist tendenziell selbstzerstörerisch.

Anders gewendet: Die menschheitsgeschichtlich beispiellose Mehrung des materiellen Wohlstands, den die früh industrialisierten Länder seit Beginn des 19., insbesondere aber seit Mitte des 20. Jahrhunderts verzeichnen konnten, hat einen Preis, dessen Zahlung sich nicht länger umgehen lässt: knapper und teurer werdende Ressourcen, eine erschöpfte Umwelt, alt und mürbe gewordene Bevölkerungen und Berge von Schulden. Gingen die Kosten des Wachstums zutreffend in die Rechnung ein, bliebe für die Mehrung des materiellen Wohlstands - wenn überhaupt - kaum etwas übrig.

Was aber wird dann aus unserer Lebenszufriedenheit? Vielleicht erübrigt sich diese Frage, weil sich gerade in den früh industrialisierten Ländern Lebenszufriedenheit und materielle Wohlstandsmehrung immer mehr entkoppeln. Immer mehr Menschen erkennen, dass ihr Lebenssinn nicht in der unbegrenzten Steigerung materiellen Konsums liegt, sondern auch noch aus anderen Quellen gespeist wird. Und sobald diese Erkenntnis Allgemeingut geworden sein wird, wird die europäische und globale Schuldenkrise ihren Wurzelgrund verloren haben. (Quelle: Meinhard Miegel)


Die Tageszeitung taz.de veröffentlicht zurzeit eine Serie von Artikeln über die Grenzen des Wachstums. Unter anderem berichtet sie über Vordenker wie

die sich kritisch mit den Themen Wachstum und Wohlstand auseinandersetzen.

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Peter Weber
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Verbunden: 23.09.2010 - 20:09
eigene Anmerkungen zu Miegels "Wohlstand ohne Wachstum"

Ich war gerade dabei, mir ein Skript zu erstellen für den Fall, daß ich bei der Vortragsveranstaltung von Prof. Miegel einmal zu Wort kommen sollte, da bemerkte ich, daß Helmut eine Kurzfassung des Autors über seine Thesen gepostet hat. Deshalb gebe ich meine persönliche Anmerkungen im folgenden als Kritik und Anregung ungekürzt weiter:


Die Thematik „Wohlstand und Glück ohne quantitatives Wachstum und Konsummentalität“ geht mir sehr zu Herzen. Deshalb möchte ich hier dazu zwei Aussagen treffen:


•    Bekräftigung der Thematik und einige Erläuterungen dazu
•    Frage über den Modus der Umsetzung des Veränderungsprozesses innerhalb der Gesellschaft


Rückblick und Status

Zunächst einmal ist mir die Feststellung wichtig, daß mein geistiger Vater hinsichtlich individueller psychischer Daseinsvorstellungen sowie sozial- und wirtschaftspsychologischer Entwicklung Erich Fromm ist. Seine Formulierung des Seins und Haben und seine Kritik an der Wirtschaftsgesellschaft seit den 50er Jahren (!) trifft genau das Anliegen der heutigen Veranstaltung. Fromm war in dieser Denkweise seiner Zeit weit voraus. Auch in den 60/70 er Jahren gab es Kritiker wie E. F. Schumacher (Small Is Beautiful) oder Vance Packard, die das ausbeuterische Wirtschaftswachstum ins Visier nahmen und eine Abkehr von Konzentration und Zentralisierung hin zu Regionalisierung forderten.


Es ist zwar sehr erfreulich, daß wir uns heute – was diese Veranstaltung zeigt – auch in relativ konservativen Kreisen – konstruktiv über diese Problemstellungen unterhalten können. Aber die Vorarbeit dazu haben mutige Vordenker geleistet, die vor 40 oder gar 60 Jahren verständnislos ausgelacht wurden. Insofern ist es schon bedauerlich, daß es so lange Zeit dauern mußte, um einen Konsens für eine erbauliche Diskussion zu finden.


Nicht vom Brot allein

Ich spreche hier als ein Vertreter der Hartz-IV-Generation, der sich schon im 10. Jahr in der Arbeitslosigkeit befindet. Aber ich versuche, auch über diesen Tellerrand hinaus zu blicken und auch ein Verfechter der Interessen der Allgemeinheit pro Solidarität und Gerechtigkeit zu sein.


„Der Mensch lebt nicht vom Brot alleine“ heißt es schon so schön in der Bibel oder es gibt auch das bezeichnende Sprichwort „Geld allein macht nicht glücklich“. Dieses sind alles Ansichten, die ich nur unterstreichen kann, aber es gibt auch den konträren Spruch „von Luft und und Liebe kann man nicht leben“, der genau so zutreffend ist. Auf diesen werden sich alle Geringverdiener, Arbeitslose, Hartz-IV-Bezieher, Sozialhilfeempfänger und kleine Rentner beziehen, wenn sie feststellen, daß sie um ihre Existenz kämpfen müssen und sie eine geringere Lebenserwartung sowie ein höheres Krankheitsrisiko erwartet als die Bessergestellten.


Aus diesem Grunde komme ich zu der Erkenntnis, daß die Thesen von Meinhard Miegel zwar auf der richtigen Bahn liegen, sie jedoch zu kurz greifen, weil sie konkret weder auf die eigentlichen Ursachen der Misere eingehen noch erfolgversprechende konstruktive Lösungsansätze zeigen. Darüber, daß unsere gesellschaftlichen Wertvorstellungen hinsichtlich Wachstum, Konsum und Lebensqualität mit anderen Wohlfühlindikatoren als bisher gemessen werden müssen, sind wir uns einig. Aber diese Forderungen reichen bei weitem nicht aus, um Abhilfe zu schaffen – dazu ist es notwendig, sich mit den folgenden Faktoren auseinander zu setzen:


1. grundlegende Umgestaltung des neoliberal ausgerichteten Wirtschaftssystems, das die Basis unseres Zusammenlebens darstellt und uns in der vorliegenden Ausrichtung die Zukunft verbaut

2. Beseitigung der gravierenden Einkommens- und Vermögensunterschiede (Deutschland und global gesehen). Das Auseinanderdriften der materiellen existenziellen Lebensgrundlagen zerstört die Einheit der Gesellschaft, produziert Ungerechtigkeiten, physische und psychische Schäden und schadet letztlich sogar noch der Ökonomie. Denn ein Weitermachen auf der bisherigen Linie reduziert den Konsum und verunmöglicht eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung.

3. Wiedereinführung von regionalen und dezentralen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodellen. Nur auf diese Weise kann eine demokratische Struktur aufgebaut werden und der Mensch seine ihm eigenen produktiven Kräfte ausschöpfen

4. Privatisierung ist Diebstahl an der Öffentlichkeit. Das Gemeineigentum braucht Verfassungsrang, damit verhindert wird, daß unsere Politiker weiter hemmungslos einen Ausverkauf von Gemeineigentum und  Einrichtungen der Grundversorgung betreiben und sich Kapitalkreise damit bereichern.

 

Bzgl. Privatisierung ist darauf hinzuweisen, daß Prof. Miegel in der Vergangenheit neoliberale Parolen ausgegeben und sich als Lobbyist der Versicherungswirtschaft als Fürsprecher der Privat- und Riesterrente geoutet hat. In wie weit er diese Positionen heute noch vertritt, oder ob er vom Saulus zum Paulus geläutert ist, ist mir nicht bekannt.

 

Peter A. Weber
 

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