Zivilcourage

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Peter Weber
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Verbunden: 23.09.2010 - 20:09
Zivilcourage
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Zivilcourage

Ein Artikel der Studiengesellschaft für Friedensforschung e.V. München mit dem Titel „Zivilcourage als Chance zur Veränderung unserer bedrohten Welt“ hatten wir im Kritischen Netzwerk vorgestellt und zum Nachlesen empfohlen. Er dient als Basis für die nachfolgenden Gedanken, deshalb hier bitte zunächst weiterlesen.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Konformität (⇒ auch Gruppen- oder Konformitätsdruck) einen großen Stellenwert besitzt. Es ist sicher nicht übertrieben zu behaupten, daß diese am Markt und dessen materiellen Werten ausgerichtete Gesellschaft nur aufgrund des Anpassungsverhaltens der Mehrheit überleben kann. Wenn sie, ihre Meinungsführer und die sie dominierenden Kreise tatsächlich Systemkritik und die damit unzertrennlich verbundene Zivilcourage ernst nehmen würden, dann wären unsere Lebensbedingungen schon längst ganz andere.

In Zeiten eines Kampfes um die besten Plätze werden diejenigen, der aus der Reihe tanzen und gegen den Strom schwimmen, ganz schnell gegen die fleißigsten Anpasser aussortiert. Der Geist der Konformität fordert vom einzelnen Opfer. Es wird eine Haltung erwartet, die vorgegebenen gesellschaftlichen und politischen Normen und Prinzipien bedingungslos zu akzeptieren und sie durch Gehorsam zu manifestieren. Wer gegen diese Regel verstößt, wird leicht zum Außenseiter und von den Trögen ausgesperrt. In der Warteschlange stehen genügend Bewerber an, die zur rückhaltlosen Unterwerfung bereit sind und die mit wenig oder keinem Skrupel ausgestattet sind.

Nun verhält es sich aber so, daß kaum einer ständig "NEIN" sagen und sich ausnahmslos gegen alles stellen möchte. Deshalb erhebt sich die grundlegende Frage, wie viel Anpassung als Kompromiß sinnvoll und wie viel Gegenwehr unter Einsatz von Zivilcourage erforderlich ist. Schließlich möchte sich niemand als Querulant, chronischer Verweigerer oder ewiger Pessimist beschimpfen lassen. Kompromisse lassen sich nun mal nicht völlig vermeiden, denn man kann nicht immer mit dem Kopf durch die Wand rennen: wichtige und nachhaltige Projekte erfordern nun mal viel Zeit und brauchen Geduld. Nur faule Kompromisse sind unter allen Umständen abzulehnen, während ein taktisches und vorübergehendes Eingeständnis der Zielverfolgung durchaus förderlich sein kann.

Die Beantwortung dieser Frage ist jedoch abhängig von der Qualität der Werte der jeweiligen Gesellschaft, in der man lebt. Im Idealfall, den es wahrscheinlich in der Realität nie geben wird, ist man mit einer human-solidarischen Gesellschaft konfrontiert, die das Leben und den Menschen zum Maß aller Dinge erklärt, wo das Gemeinwohl im Vordergrund steht und die dazu notwendigen politischen Vorgaben ehrlich umgesetzt werden. Im schlechtesten Fall muß man sich mit einem totalitären System herumschlagen und steht ständig vor Anpassungszwängen, die Angst auslösen, und denen man nachkommt, um nicht zu verlieren oder Nachteile zu erleiden. Im ersteren Fall wäre es sogar ratsam, mit dem System konform zu gehen, da es im Dienst des Bürgers steht. Im zweiten Fall wäre Gegenwehr mit viel Mut zur  Zivilcourage angebracht.

Da es die Regel ist, daß Gesellschaften widersprüchlich und unausgegoren sind, wäre es die Aufgabe eines verantwortungsvollen Menschen, in jedem Einzelfall abzuwägen, ob Anpassung oder Neinsagen angesagt ist. Hier einen guten Weg zu finden, ist  aber mit das Schwierigste im Leben und erfordert viel Kraft, Mut sowie Aufmerksamkeit. Eine tägliche Gratwanderung ist angesagt, die ermüdend sein kann. Als Richtlinie für das Erreichen der Grenze, ab der ein Einschreiten nötig ist, ist eine Aussage vom Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter äußerst hilfreich. Es handelt sich um „Bedenken gegen Anpassung“, (2003 neu erschienen unter dem Titel "Psychoanalyse und Politik") das Richters gleichnamigem Buch entnommen ist:

 
 „Es gibt eine kreisförmige Wechselbeziehung zwischen Machen und  Erkennen. Wenn man nicht macht, was man als notwendig, wenn auch mit persönlichen Unannehmlichkeiten behaftet, erkannt hat, dann kann man irgendwann auch nicht mehr erkennen, was zu machen ist!
 
Wer Anpassungszwängen taktisch nachgibt - wohl wissend - dass er ihnen mit vertretbarem Risiko widerstehen könnte und auch sollte, wird nach und nach die Unzumutbarkeit von Anpassungsforderungen  gar nicht mehr wahrnehmen, das heißt, die eigene Gefügigkeit auch nicht mehr als Fluchtreaktion durchschauen.
 
Alles erscheint normal: die Verhältnisse, denen er sich ergibt, und der Verzicht auf Gegenwehr, den er eben gar nicht mehr als Verzicht erlebt !“
 
Wer sich an diesen  Inhalt immer wieder ins Bewußtsein ruft, der wird nicht Gefahr laufen, aus Angst vor persönlichen Nachteilen auf Zivilcourage verzichten zu müssen. Wenn man stets das Prinzip „Wehret den Anfängen“ hochhält, wird man niemals in die Verlegenheit geraten, von unerwünschten Prozessen überrollt zu werden. Man kann nämlich im Anfangsstadium einer bedrohlichen Entwicklung stets Einhalt gebieten, ohne gleich ein Märtyrer zu werden und viel zu riskieren.
 

Nur wenn man sein persönliches Verhalten kritisch dahingehend überprüft, ob Denken, Wollen und Tun wirklich der Förderung seiner physischen, psychischen, seelischen Gesundheit und Entfaltung sowie der unserer Mitmenschen dient, kann man sicher sein, selbstbestimmt zu leben. Wenn man jedoch bemerkt, daß man sein Verhalten vorwiegend auf gesellschaftliche Normen und Reglementierungen oder fremde Interessenlagen abstimmt, dann ist es höchste Zeit, halt zu machen und die Richtung zu wechseln.

Solange man sein Bewußtsein trainiert, wird sofort ein Unbehagen auftreten, wenn man sich zu sehr von der Erwartungshaltung anderer bzw. der Gesellschaft leiten läßt und die gesunden Eigeninteressen vernachlässigt. Es gibt kaum ein besseres und wohltuenderes Gefühl, wenn man eigenständiges Handeln und Zivilcourage immer wieder trainiert und merkt, wie die Angst langsam schwindet und das Selbstbewußtsein von Mal zu Mal anwächst.

 
Nur auf diese Weise, wenn wir bei uns selbst beginnen und ein Vorbild für andere abgeben, sind wir in der Lage, die Gesellschaft zu reformieren und die eingerissene allgemeine Verantwortungslosigkeit zu beenden. Die Erkenntnis der Zusammenhänge, die ständige Bewußtwerdung des Geschehens um uns herum und das Wissen um die eigene Stärke, besonders wenn sie in Gemeinschaft mit anderen ausgelebt wird, ist der einzige Weg, dem bisher akzeptierten täglichen Irrsinn die Stirn zu bieten.
 
Zivilcourage muß nicht zwangsläufig ausarten in heldenhaftem Mut. Solange mit geringen Mitteln ein Gegensteuern möglich ist, kann sich selbst ein Angsthase mit dem Ausüben von Zivilcourage anfreunden. Wenn jedoch das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, müssen größere Geschütze aufgefahren werden. Aber wir haben es in der Hand, daß es nicht dazu kommt …!
 
 
MfG Peter A. Weber
 


Bild- und Grafikquellen:
 
1. DIE GUTEN DEUTSCHEN: Anpassung an gesellschaftliche Normen und Erwartungen. Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress

2. Horst-Eberhard Richter (* 28. April 1923 in Berlin; † 19. Dezember 2011 in Gießen war ein deutscher Psychoanalytiker, Psychosomatiker und Sozialphilosoph. Der Autor zahlreicher Bücher galt vielen als der „große alte Mann“ der bundesdeutschen Friedensbewegung. Coverfoto: Bedenken gegen Anpassung. Psychoanalyse und Politik. 1995. 2003 neu erschienen unter dem Titel Psychoanalyse und Politik. Psychosozial-Verlag, ISBN-13: 978-3-8980-6243-5.

3. "Tu was! Zeig´ Zivilcourage!" Quelle: zeig-courage.de/‎