Zum Anspruch Israels "die einzige Demokratie im Nahen Osten" zu sein

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Verbunden: 18.06.2012 - 19:17
Zum Anspruch Israels "die einzige Demokratie im Nahen Osten" zu sein
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Zum Anspruch Israels "die einzige Demokratie im Nahen Osten" zu sein

Offener Brief an den Bundespräsidenten

Von Evelyn Hecht-Galinski


Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck,

Ihr bevorstehender Staatsbesuch in Israel Ende Mai veranlasst mich, Ihnen zu schreiben. Ich bitte Sie ganz herzlich, diesen Besuch, der Sie auch in die besetzten Gebiete führen soll, dazu zu nutzen, für die Menschenwürde auch in Israel und Palästina einzutreten.
 
Die gleichen hohen Maßstäbe, die Sie gegenüber der Ukraine anlegten, sollten genauso für Israel gelten, das gegen jedes geltende Recht immer noch Palästina besetzt hält. Gewiss ist die Ukraine wie viele andere uns nahe stehende Staaten ein zu kritisierendes, nicht unseren demokratischen Gepflogenheiten entsprechendes Land, aber auch Saudi-Arabien, Bahrain, China oder Weißrussland - um nur ein paar aufzuzählen.
 
Auf Ihrer Reise nach Israel und in die besetzten palästinensischen Gebiete (Gaza?) sollten Sie ihre israelischen Gesprächspartner ermahnen, sich nicht nur immer und überall als "einzige Demokratie im Nahen Osten“ zu bezeichnen, sondern dies nun endlich auch in die Tat umzusetzen!
 
Verehrter Herr Präsident Gauck, können Sie es mit Ihren vielen Reden zum Thema Freiheit und Gerechtigkeit vereinbaren, dieses Thema nur in Israel nicht ansprechen?
 
Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde wird dem palästinensischen Volk von Beginn an - seit Gründung des Staates Israel - vorenthalten. Können Sie mir ein anderes Land auf der Welt nennen, das sich selbst als Demokratie bezeichnet, aber als Land ohne Verfassung und feste Grenzen von Beginn an, also seit Gründung, ein anderes Volk vertrieb und enteignete und das unter den Augen der Weltöffentlichkeit? Gerade als Präsident der Bundesrepublik Deutschland, sollten Sie es als besondere Verpflichtung sehen, nicht nur des Holocaust und der Schuld gegenüber der sechs Millionen jüdischen Opfer zu gedenken, sondern auch der anderen Opfer des Holocaust und damit der gemeinsamen Vergangenheit zu gedenken und endlich auch Gerechtigkeit und Freiheit für die Palästinenser einzufordern!
 
Wenn sie in Yad Vaschem sind, der Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust, sollten Sie im Gedächtnis haben, dass Sie direkt "Vis a Vis" nach Deir Yassin schauen, auf den Ort des Massakers, das israelische Terroristen in diesem Dorf verübten und mit dem die Nakba, die Katastrophe des palästinensischen Volkes begann.
 
Seien Sie ein mutiger Präsident und treten Sie ein für Freiheit und Gerechtigkeit für die Palästinenser, auch in Israel!
 
Gerade als Deutsche sollten wir uns gemeinsam zur Solidarität gegen das Unrecht, das man an den Palästinensern begeht, bekennen. Derzeit sind in israelischen Gefängnissen an die 5.000 Palästinenser/innen inhaftiert - unter ihnen Frauen, Kinder und gewählte (!) Parlamentsabgeordnete, und seit vierzehn Tagen befinden sich nahezu 2.000 Häftlinge im Nafha-, Ashkelon-, Gilboa- und anderen Gefängnissen in Israel im Hungerstreik, unter ihnen vier Gefangene in akuter Lebensgefahr! Da braucht Israel Druck, gerade auch von deutscher Seite, um diese Praktiken zu beenden.
 
Setzen Sie ein kraftvolles Zeichen für Freiheit und Gerechtigkeit und nehmen Sie den Chef der Charité, Prof. Einhäupl, mit einem Notfall-Team zu diesen Häftlingen mit nach Israel! Warum nur in die Ukraine zu einer prominenten Oligarchin, nur weil sie die besseren Beziehungen zu Deutschland hat? Das entspricht sicher nicht Ihrem Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit.
 
Die meisten von diesen palästinensischen Gefangenen sitzen in sogenannter „Administrativhaft“. Damit erlaubt sich Israel, die inhaftierten Palästinenser praktisch unbegrenzt und ohne Anklageerhebung festzuhalten. Viele von ihnen - besonders die aus dem Gazastreifen - dürfen keinen Besuch empfangen und haben schon seit Jahren ihre Familien nicht gesehen.
 
So wie ich meinte, es nach Ihren Reden von Freiheit und Gerechtigkeit verstanden zu haben, können Sie das sicher nicht mit Ihrem Gewissen und Ihrem Amt vereinbaren. Sie als evangelischer Theologe und ehemaliger DDR Bürgerrechtler und mit so vielen Posten in Institutionen, die immer so klingende Namen haben, wie "Gegen Vergessen - für Demokratie", "Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit", und in der sogar nach Ihnen benannten "Gauck Behörde". Man bezeichnet Sie doch als Mahner und eine Art gesamtdeutscher Instanz.
 
Hier können Sie als Instanz ein Zeichen setzten, wenn schon die "normalen" Politiker in dieser Hinsicht völlig versagen und die Menschenrechte mit zweierlei Maß messen, wenn es um den jüdischen Staat geht. Sie sollten Israel eindringlich darauf hinweisen, dass es mit unserer Unterstützung nur einen „demokratischen“ Staat Israel geben kann für alle seine Bürger, ob Juden, Christen, Muslime!
 
Auch wäre es eine schöne Geste, wenn Sie das mutige Gedicht des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass stolz im Reisegepäck hätten und die unterwürfigen Stimmen ignorieren, die aus Feigheit „Gras darüber wachsen“ lassen möchten.
 
Ihre Stimme wird bei Ihrem anstehenden Besuch in Israel bis in die gesamte arabische Welt und auch in Washington gehört werden, wenn Sie für Freiheit für das palästinensische Volk eintreten – vergleichbar der Rede des israelischen Ministerpräsidenten in Washington vor den Kongress-Abgeordneten: "Ihren Applaus hört man bis in das ewig ungeteilte Jerusalem". Ihre Rede in Israel wird dann bis in das ewig wiedervereinigte Berlin zu hören sein, wenn Sie für die Freiheit für das inhaftierte, besetzte und gedemütigte palästinensische Volk eintreten.

 

Mit vorzüglicher Hochachtung
 
Evelyn Hecht-Galinski