Zur ökonomischen Globalisierung

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Peter Kern
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Zur ökonomischen Globalisierung
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Zur ökonomischen Globalisierung:

Die terrestrische Globalisierung wird noch überboten

«Endstation Globalisierung» heisst ein ziegelsteindickes Buch von William Greider, einem der profiliertesten Journalisten der USA. Die Originalausgabe erschien 1997 bei Simon & Schuster in New York, die deutsche Übersetzung 1998 im Heyne Verlag in München. Der Titel trägt kein Fragezeichen, im Gegenteil, der Untertitel verstärkt noch die Aussage:

„Der Kapitalismus frisst seine Kinder», eine gezielte Anspielung auf einen Slogan vergangener Tage, dessen Prophezeiung mittlerweile Wirklichkeit mit erschreckenden Folgen wurde. Greider urteilt: „Der moderne Kapitalismus ist eine grosse, technisch perfekte Maschine, die alle Grenzen einreisst, zugleich erntet und zerstört, die ungeheure Energien, Kreativität und Möglichkeiten freisetzt, aber nicht gelenkt werden kann. Sie hält sich selbst in Gang und wird vorangetrieben von den Zwängen einer weltweiten industriellen Revolution, den Gesetzmässigkeiten der Globalisierung.“[1]

Diese Globalisierung wird in der Öffentlichkeit wahrgenommen durch die

  • Revolution der Mikroelektronik einschliesslich der Neuen Medien,
  • Deregulierungspolitik der 80er Jahre (Reaganism / Thatcherism),
  • nachholende Industrialisierung in Ost-/ Südostasien und China,
  • Aufhebung der Standortgebundenheit der Produktionsstätten,
  • weltweiten Ströme legaler und illegaler Arbeitsemigranten,
  • internationale Schattenwirtschaft (u.a. in den Bereichen Rüstung, Drogen).

Die Folgen dieser Globalisierung sind

  • die Verselbständigung der Finanzwelt von der Warenwelt,
  • der Kompetenzverlust der Nationalstaaten,
  • die Neue Weltformel 20:80, also wenige Globalisierungsgewinnler gegenüber der Masse der alten und neuen Armut, jetzt auch in den reichen Nationen,
  • die grossen Fusionen regionaler und überregionaler Firmen mit Arbeitsplätzeabbau. [2]

Hans-Peter Martin und Harald Schumann diagnostizieren angesichts dieser Merkmale den „Angriff auf Demokratie und Wohlstand“; sie sehen uns in der „Globalisierungsfalle“.[3] Der „Turbo-Kapitalismus“[4] „zerstört die Grundlagen seiner Existenz: den funktionsfähigen Staat und die demokratische Stabilität.“[5]

Und bei William Greider ist zu lesen: „Für die Demokratie stellt sich eine neue Frage: Wer hat George Soros gewählt? Oder IBM-Siemens-Toshiba? Wenn der Nationalstaat das materielle Wohl seiner eigenen Bürger nicht länger verteidigen will oder dazu keine militärische Macht verwenden kann, welchen Zweck hat er dann noch?“[6]

Im Blick auf die Menschen und die uns tragende Natur ist geurteilt worden, dass es zunehmend zu Prozessen der Entsolidarisierung der Menschen untereinander komme[7] und zur drastischen Vernachlässigung überlebensnotwendiger Globalstrategien[8]; man spricht vom Ende der Umwelt- und Zukunftsverantwortung unter dem Diktat des Neoliberalismus[9], auch wenn angesichts der neuen Klimaberichte die Umweltfrage erstmals wenigstens international auf der Agenda der Rhetorik der Etablierten steht.[10]

Als Ergebnis des Globalisierungsprozesses werden also individuelle Miseren und kollektive Katastrophen wahrgenommen und prognostiziert: „Der Kapitalismus frisst seine Kinder und die uns alle tragende Natur!“

Bereits 1975 sprach Carl Friedrich von Weizsäcker, der grosse Physiker und Philosoph, von der Notwendigkeit einer „gleichzeitigen Kapitalismuskritik und Sozialismuskritik“: „Die Versuchung des Kapitalismus ist der Zynismus, die Versuchung des Sozialismus der Zwang zur Lüge.“[11]

 

Der Sozialismus / Kommunismus ist gescheitert - und der Kapitalismus?

Die Monetarisierung aller Lebensbereiche macht längst aus Werten nur noch Waren. Der Sinn von Sport, Politik, Recht, Wissenschaften, Künsten, ja Ethik und Religion ist unter das dominante Deutungsmuster der Ökonomie, und darin des Geldes, geraten. Die Abkoppelung der vernunftgeleiteten Sinn-Dimension in der Moderne als Leit-Mass-Stab aller Kulturobjektivationen hat im Zeitalter der ökonomischen Globalisierung auch noch die Macht der Politik getilgt.[12]

Selbstreferentielle Verdummungsstrategien, ausschliesslich im Dienste des Kapitals, lassen die Massen vergessen, was Not tut und möglich ist. Die Medien haben mehrheitlich ihre Aufklärungskraft verloren; ihre Journalisten haben sich vielfach hinabgestuft bzw. hinabstufen lassen zu blossen Unterhaltungsanimateuren.

Die globalisierte Wirtschaft bleibt öffentlich im Mainstream nahezu unkritisiert. In den Firmen jedoch geht die Angst um, und das auf allen Hierarchiestufen; auch «Top dogs» (Urs Widmer) fallen heute tief. Kants Maxime, den Mut aufzubringen, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, ist in Vergessenheit geraten. Man denkt nur noch in immer hastiger produzierten Trends und Moden. Die Zubringerdienste postmoderner Intellektueller verunmöglichen die Einsicht in die Lebensfeindlichkeit einer ausschliesslichen Shareholder-Value-Ideologie.

Man stösst sich nicht einmal mehr daran, dass die menschliche Arbeitskraft zusammengedrängt wird in die wenigen Jahre einer Kapitalverwertbarkeitsphase: Die ökonomisch globalisierte Welt braucht den jungen, hochausgebildeten, kerngesunden, vollflexibilisierten und international jederzeit und überall einsetzbaren Karrieristen, der nur wenige Jahre im Dienste des Kapitals reibungslos zu funktionieren hat, bis man ihn, physisch, psychisch und geistig ausgebrannt, mal üppig, mal weniger hoch „abfindet“ und vorpensioniert.[13]

Doch bevor er monetär abgefunden wird, hat er sich in seinem Berufsleben längst damit abgefunden, dass er darin nicht menschlich zu existieren vermag. Richard Sennett, einer der bekanntesten Theoretiker unserer Zeit, in New York und London lehrend, beschreibt die Kultur des neuen Kapitalismus: „Der flexible Mensch“.[14] Darin zeigt er, wie die Flexibilität dieses neuen Kapitalismus Auswirkungen auf den persönlichen Charakter hat. Das neue Persönlichkeits- und Partnerideal bezeichnet er als „driften“.[15] Was diese neue Form der Orientierung für die Familie und das Privatleben bedeutet, kennzeichnet Sennett so: „Bleib in Bewegung, geh keine Bindungen ein und bring keine Opfer“ - ausser dem nicht oder kaum bewussten Opfer der eigenen Lebensqualität. Diese Haltung „löst die Bindungen von Vertrauen und Verpflichtung und untergräbt die wichtigsten Elemente der Selbstachtung“.[16]

An anderer Stelle liest man bei Sennett: Wie aber können „langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man im Rahmen einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie lebt? Wie können Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden, die ständig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden? Wie bestimmen wir, was in uns von bleibendem Wert ist, wenn wir in einer ungeduldigen Gesellschaft leben, die sich nur auf den unmittelbaren Moment konzentriert? Dies sind Fragen zum menschlichen Charakter, die der neue flexible Kapitalismus stellt“.[17]

Gilt insgesamt nicht doch das vernichtende Urteil, dass der Kapitalismus letztlich kriminell sei, dass der durch ihn erwirkte Wohlstand freudlos sei und dass das Wachstum selbst längst zu einem Fetisch geworden sei?

Die Heerschar von geschmeidigen Wirtschaftsberatern hat ihre Antwort auf solche Fragen. Ein Consultant, der eine Entlassungswelle bei IBM moderierte, erklärt, sobald Angestellte „verstehen, dass sie sich nicht auf die Firma verlassen können, sind sie marktgängig.“[18] Sennett schlussfolgert: „Distanz und oberflächliche Kooperationsbereitschaft sind ein besserer Panzer im Kampf mit den gegenwärtig herrschenden Bedingungen als ein Verhalten, das auf Loyalität und Dienstbereitschaft beruht.“[19] ( Solche Trainer dürfen verstärkt im Zuge der Bolognareform an den Hochschulen arbeiten – damit die Praxisnähe gewährleistet wird...)

Diese Fragen gleichsam aufnehmend, steht bei William Greider: „Die Würde des Menschen ist unteilbar, überall auf der Welt. Das Eigentum am Produktionskapital muss auf die ganze Gesellschaft verteilt werden, um echte Demokratie und einen allgemeinen Wohlstand zu schaffen. Wir müssen das industrielle System neu erfinden, um die Erde zu retten. Jene sozialen Werte, die den meisten Menschen etwas bedeuten, müssen von den Einschränkungen der wirtschaftlichen Zwänge befreit werden und breitere Entfaltungsmöglichkeiten finden. Diese Ideen sind keine utopischen Plattitüden, sondern beschreiben die schwierigen praktischen Aufgaben der Zukunft.“[20]

In Europa entfacht Pierre Bourdieu das überlebensnotwendige „Gegenfeuer“[21]. Er formuliert „Wortmeldungen im Dienste des Widerstandes gegen die neoliberale Invasion“. Auf Europa bezogen, notiert er: „Dieses Europa hat keine andere Utopie als jene, die sich zwangsläufig aus Unternehmerbilanzen und Buchführungen ergibt, kein positives Projekt, nur das der shareholders, denen es nur noch um maximale Renditen geht, denen Bildung und Kultur nur noch als Produktionsfaktor in den Sinn kommen“.[22]

So wird kritisch von der McDonaldisierung der Weltkultur gesprochen, vom Kulturkolonialismus der multinationalen Konzerne. Ökonomische Globalisierung ist zugleich Zentralisierung und Hierarchisierung. Die Gespenster diktatorischer Staaten erscheinen wie Schatten an der Wand des neuen Kapitalismus. Dessen Gigantismus baut sich freiwillig seine eigene Falle. Es kommt zum Zerfall des Anderen. Der demokratische und humane Ruf nach „Freiheit für den Widerspruch“ (H.L.Goldschmidt) wird unter den Bedingungen von ökonomischer Globalisierung erstickt.[23]

Was entsteht, ist eine Kultur ohne Haftung, und das im doppelten Sinne: Im Fortriss der Zeit und in der Flucht der globalisierten Menschen vor sich selbst, bleibt nichts mehr dauerhaft – und die Globalplayer selbst, sie haften für nichts. Die Bankenkrise mit ihren Managern ist ein anschauliches Beispiel dafür.

Aus dieser Sicht erscheint Bourdieus Forderung mehr als notwendig: „Es ist höchste Zeit, die Voraussetzungen für den kollektiven Entwurf einer sozialen Utopie zu schaffen, die in gemeinsamen historischen Traditionen und zivilisatorischen Werten wurzelt.“[24]

Wer immer noch urteilt, solche uns alle bindenden Werte seien doch längst zersetzt worden durch Historismus, Relativismus, durch den linguistic turn und durch die Dekonstruktionen der post­modernen Meisterdenker, der übersieht mindestens dies: Indem er argumentiert, es gäbe keine verbindlichen Werte, hat er sich selbst bereits in einem performativen Selbstwiderspruch gefangen; sein Satz erhebt genau jenen Allgemeingültigkeitsanspruch, den er doch gerade negieren wollte.[25]

Angesichts der Globalisierung tut also philosophisch-ethische Besinnung Not - sofern wir wirklich in Würde leben und überleben wollen, als Einzelne wie auch als Gattung. Das zur Herrschaft gelangte berechnende Denken einer nur noch furchtgetriebenen und verstandgesteuerten Machtkonkurrenz ist zu zügeln durch besinnendes Denken und Handeln, in dem eine vernunftgeleitete Solidarität die ökonomische Globalisierung zum blossen Instrument eines wirklich gelingenden Lebens werden lässt.

Die Dialektik von global und lokal wird zu einem neuen Paradigma führen müssen: „glokal“. Solche selbständigen Reflexionen werden dann zum Ausgang aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit; ihre Ergebnisse geben uns wieder humane Ziele, konkret und ganz praktisch, die zu verwirklichen all un­seren Mut und unsere Zivilcourage fordern werden.[26]

Die ökonomische Globalisierung und ihre weltweiten gesellschaftlichen Degradationen sind, wollen wir zukunftsfähig werden, in eine ökologische Globalisierung zu transferieren.