Zwangsernährung Hungerstreik im Folterlager Guantánamo Bay
Unendliche Feinde
von Robert C. Koehler
Du bist auf einen Metalltisch geschnallt und kannst dich nicht bewegen. Sie fahren mit einem 60 cm langen Plastikschlauch in deine Nase und dann durch die Kehle hinab in deinen Magen. Sie spritzen das flüssige Protein hinein. Du würgst, blutest, erbrichst. Es tut unerträglich weh.
Die Praxis der Zwangsernährung wird von den meisten medizinischen Organisationen verurteilt, einschließlich der AMA (American Medical Association). Sie wird von den meisten Regierungen verboten. Sie ist Folter.
Als ich über diesen Vorgang las, durch den die Behörden den Hungerstreik im Folterlager Guantánamo Bay brechen – nebenbei erwähnt eine Methode, die auch regelmäßig in Bundesgefängnissen der Vereinigten Staaten von Amerika zur Anwendung kommt – war ich beeindruckt über dessen äußerste Effizienz. Die „Nahrung“ wird direkt von der Bürokratie in das Verdauungssystem eingebracht, vorbei am Bewusstseit des jeweiligen Hungerstreikenden. Das menschliche Wesen, das in dessen Körper wohnt, ist völlig bedeutungslos; es stirbt nur, wenn wir das sagen.
Denk nur, wie mächtig wir sind. Denk nur, wie sicher wir sind.
Im gesamten Zusammenhang mit dem Krieg gegen den Terror und dem Elend, das dieser über die Welt gebracht hat, ist der Hungerstreik in Guantánamo, an dem sich 100 der 166 Gefangenen beteiligen, die dort noch immer eingesperrt werden – von denen etwa zwei Dutzend zwangsweise ernährt werden – vielleicht eine ziemlich unbedeutende Angelegenheit. Die symbolische Bedeutung lässt sich hingegen kaum ermessen, nicht nur wegen des Hasses, den sie gegen die Vereinigten Staaten von Amerika und die HiWis, die diese rekrutieren, schürt, sondern wegen des offenkundigen Zustands von Anstand und Gemeinsinn, den sie offen zur Schau stellt.
Könnte etwas offensichtlicher sein? Der herrschende Konsens der Vereinigten Staaten von Amerika hechelt nach einem Feind, jedem Feind. Da gibt es nicht den leisesten Funken von Selbstreflexion.
„Es gibt keinen Grund, diese Terroristen in die Vereinigten Staaten von Amerika zu bringen. Keinen Grund, die Bedrohung hier zu steigern,” proklamierte der Minderheitsführer im Repräsentantenhaus John Boehner als Reaktion auf einen von Präsident Obamas lauwarmen Versuchen, Gitmo zu schließen, schon vor Jahren. Diese Worte triefen vor widerlicher Verachtung für diese in Käfigen gehaltenen menschlichen Wesen – wobei viele von ihnen, wie sich herausgestellt hat, an keinerlei terroristischen Aktivitäten welcher Art auch immer beteiligt waren. Sie wurden gegen Kopfgeld ausgeliefert, aufgrund von Verwechslungen verhaftet. Macht nichts. Diese gebrochenen Männer, gefangen in der Hölle unbefristeter Anhaltung, sind Amerikas Feinde und deshalb unfassbar gefährlich, zumindest nach dem Verständnis derjenigen, die den Sicherheitsstaat anführen.
Menschen „schaffen Feinde, um ein stabiles, kohärentes, klares Bild von der Welt aufrecht zu halten,“ schrieb Nathan A. Heflick 2011 in einem Artikel in Psychology Today. „Das liegt daran, dass sie das Negative der Welt (das sich ja nicht vermeiden lässt) diesen Feinden zuschreiben können ... Feinde zu haben gibt Menschen anscheinend sogar paradoxerweise das Gefühl größerer Sicherheit.“
Soweit ich sagen kann, haben große Institutionen das Ich-Bewusstsein von unreifen Kindern. Tom Engelhardt sinniert zum Beispiel in einem vor kurzem erschienen Beitrag auf TomDispatch über den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und das abrupte Ende des Kalten Kriegs, das der Welt nur mehr eine einzige dominierende Supermacht hinterließ: „Und hier kam es zu der merkwürdigen Sache nach Jahrzehnten des Wettrüstens,“ schreibt er: „Als niemand mehr übrig war zum Wettrüsten, setzten die Vereinigten Staaten von Amerika das Wettrüsten allein fort.“
Und ein paar Billionen Dollars später geht´s noch immer weiter. Wir können die Welt hundertmal zerstören, so Engelhardt, aber wir können „keinen Krieg gegen minimal bewaffnete Guerillas gewinnen.“
Wir können jedenfalls ihre Häuser überfallen, ihre Anführer mit Drohnenangriffen eliminieren, störrischen Staatsführern gegenüber mit unseren Säbeln rasseln und einen Gulag mit bösen, bösen Leuten betreiben, die praktisch null Rechte haben. Die Einrichtung in Guantánamo kostet das Budget etwa eine Million Dollar pro Häftling und Jahr, und die Amerikaner haben in Wirklichkeit mehr von Fünfjährigen mit Schusswaffen zu befürchten als von angeblichen Terroristen, aber darum geht es nicht. Wir brauchen Feinde. Die Heimatlandsicherheit ist eine Sache der Psychologie.
Daher ist Schuld oder Unschuld der Gefangenen in Guantánamo und aller unserer anderen Gefangenen irrelevant. Es spielt nicht einmal eine Rolle, dass die meisten Amerikaner wahrscheinlich lieber die Schliessung dieser Einrichtung sehen würden und mit großer Mehrheit einen Präsidenten gewählt haben, der einmal versprochen hat, das zu tun. Nach dem Verständnis des herrschenden Konsenses und der gefügigen Medien befinden sich Terroristen nicht nur „da draußen“ und planen den Umsturz unseres Lebensstandards, gerade wie damals die sowjetischen Generäle, sondern sie sind auch „hier bei uns,“ in Käfigen, abgeschlossen, ihre Bösartigkeit unserer absoluten Kontrolle unterworfen. Sie können sich nicht einmal zu Tode hungern als letzten Akt des Protests gegen ihre Anhaltung. Sie haben kein Recht, als menschliche Wesen zu handeln, weil wir sie zu Terroristen erklärt haben.
In einer Welt des „wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“ sind wir natürlich keineswegs sicher – schon gar nicht, wenn wir unsere höchsten Werte über Bord werfen und einen großen Teil der Welt dehumanisieren. Die meisten von uns verstehen das, zumindest als Individuen. Aber wie bringen wir ein Land dazu, erwachsen zu werden, besonders nachdem seine wichtigsten Aktionäre so viel Geld in seine anhaltende Unreife investiert haben?
Das Beste, was ich tun kann, ist James Carroll zu wiederholen, der diese Woche im Boston Globe schrieb, dass „der Weg, auf ihre Todesdrohung durch selbst auferlegtes Verhungern zu reagieren, nicht der ist, sie mit in die Nase eingeführten Schläuchen zu foltern, sondern die Berechtigung ihrer Forderungen anzusprechen.“
Anders gesagt, schau auf ihr Menschsein. Wenn wir das erst einmal tun, werden wir nie mehr die Selben sein.
► Quelle:
Robert C. Koehler ist ein in Chicago lebender Journalist und Autor. Seine Artikel erscheinen auf seiner Website COMMONWONDERS.COM, in HUFFINGTON POST und vielen weiteren Websites und Zeitungen.
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