«Der Staat ist eine Institution, die von Banden geführt wird, die aus Mördern, Plünderern und Dieben besteht, umgeben von willfährigen Handlangern, Propagandisten, Speichelleckern, Gaunern, Lügnern, Clowns, Scharlatanen, Blendern und nützlichen Idioten - eine Institution, die alles verdreckt und verdunkelt, was sie berührt.» (– Prof. Hans-Hermann Hoppe).
FragDenStaat

Gesetzentwurf zur Grundsicherung: Jetzt kommt Hartz V
Die schwarz-rote Koalition will das Bürgergeld-System grundlegend ändern und Menschen härter sanktionieren. Wer einmal eine Arbeit ablehnt, soll kein Geld mehr bekommen. Wir veröffentlichen den Referentenentwurf des Arbeitsministeriums.
„Wer mitmacht, hat nichts zu befürchten“, drohte Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas bei der Vorstellung der neuen Grundsicherung. Damit will die schwarz-rote Regierung das Bürgergeld ersetzen. Mit weiteren Verschärfungen in diesem Bereich wolle Ministerin Bas „bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist“ gehen.
Auf welcher Seite dieser Grenze die Bundesregierung stehen wird, blieb dabei allerdings offen. Der erste Gesetzentwurf des Arbeitsministeriums, den wir veröffentlichen, zeigt: Die SPD plant zahlreiche bislang unbekannte Verschärfungen für die Grundsicherung.
Unternehmen gestärkt, Arbeitnehmer*innen geschwächtSo soll es beispielsweise Totalsanktionen geben, wenn Menschen in der Grundsicherung eine einzige „zumutbare Arbeit“ ablehnen. Als zumutbar gelten auch befristete und ungenügend bezahlte Arbeitsstellen und auch Tätigkeiten, für die die Betroffenen keine Ausbildung absolviert haben. Da das Ministerium der „Vermittlung in Arbeit“ Priorität einräumt, haben Betroffene kaum noch Verhandlungsspielraum gegenüber Chefs – sie müssen auch schlechte Arbeitsangebote annehmen.
Dies betrifft künftig einen noch größeren Personenkreis: So müssen Erziehende etwa künftig schon zwei Jahre früher „zumutbare Arbeit“ annehmen, also bereits, wenn ihr Kind ein Jahr alt geworden ist. Totalsanktionen dürften nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrig sein. Es ist anzunehmen, dass das Gericht zu den vorgesehenen Regelungen angerufen werden wird.
Insbesondere in Fällen, in denen Betroffene Gespräche beim Jobcenter nicht wahrnehmen, sollen diese künftig schneller sanktioniert werden. Zahlreiche Organisationen hatten in den vergangenen Wochen darauf hingewiesen, dass insbesondere Menschen in psychischen Krisen dadurch benachteiligt werden. Dies soll zwar durch Härtefallregelungen im neuen Gesetz abgefedert werden – aber wenn Betroffene etwa auf Post nicht antworten können, dürften sich diese Regelungen als nutzlos erweisen.
Aber auch wer neu in die Grundsicherung kommt, soll künftig schärfer angegangen werden. Menschen, die vor dem Bezug von Sozialleistungen Geld gespart haben, dürfen künftig kein Schonvermögen mehr behalten, sondern müssen es direkt aufbrauchen.
von Arne Semsrott
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Teure Symbolpolitik: Charter-Abschiebeflüge
Deutschland mietet ganze Flugzeuge, um Menschen abzuschieben. Das soll Härte in der Asylpolitik demonstrieren – und bringt enorme Ausgaben mit sich. Weil der Staat Details geheim hält, verklagen wir ihn.
Am Düsseldorfer Flughafen hebt im Februar 2025 ein Flugzeug mit 45 Sitzen ab. Das Ziel ist die bulgarische Hauptstadt Sofia. An Bord sind sieben Menschen aus Syrien und Afghanistan, begleitet von doppelt so vielen Bundespolizist*innen. Sie fliegen allerdings nicht in den Urlaub, sondern werden abgeschoben – mit einem eigens dafür gecharterten Flugzeug. Allein die Miete des Fliegers beträgt 63.000 Euro, Personalkosten nicht eingerechnet.
Die Bundesregierung predigt Sparsamkeit und Bürokratieabbau, doch in der Migrationspolitik scheint beides nicht zu gelten. Seit letztem Jahr hat sich der Ton verschärft: Der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte wurde ausgesetzt, die Abschiebehaft ausgeweitet und Grenzkontrollen ausgedehnt. Selbst nach Afghanistan wird wieder abgeschoben und dafür mit den Taliban verhandelt. Diese Härte soll Entschlossenheit zeigen, doch diese Symbolpolitik ist teuer. Während über Kürzungen beim Bürgergeld gestritten wird, steigen die Ausgaben für Abschiebungen. Immer häufiger werden ganze Maschinen gechartert, um Asylsuchende außer Landes zu bringen.
Die Kosten pro Charter-Abschiebeflug gehen schätzungsweise in die Hunderttausende – bezahlt aus Steuergeldern. Wie teuer ein Flug insgesamt ist, ist derzeit unklar: Das Bundesinnenministerium und die Bundespolizei weigern sich, Zahlen zu den Personalkosten zu nennen. Diese Intransparenz erschwert öffentliche Kontrolle – deshalb ziehen wir vor Gericht.
Kosten steigenEine Abschiebung per Charterflug ist organisatorisch aufwändig, teuer und personalintensiver als per Linienflug. Nicht nur das Flugzeug muss gemietet werden, auch das Bodenpersonal, Dolmetscher*innen, Sanitäter*innen und Bundespolizist*innen müssen organisiert und bezahlt werden.
Laut kleinen Anfragen der Linken gab die Bundesregierung im ersten Halbjahr 2024 rund 12,7 Millionen Euro allein für die Miete von Flugzeugen aus. Ein Jahr später waren es für denselben Zeitraum fast 15 Millionen. Hinzu kommen Personalkosten für Dolmetscher*innen, Sanitäter*innen, Bodenpersonal und vor allem für die Bundespolizei. Teilweise sind es doppelt bis dreimal so viele Polizist*innen wie Abgeschobene, die mitfliegen.
Im Haushaltsjahr 2024 hat das Innenministerium 7,25 Millionen Euro Personalkosten für die Begleitung von Abschiebungen durch Polizist*innen vorgesehen, tatsächlich beliefen sich die Kosten auf knapp 9 Millionen. Für 2026 sind 10,25 Millionen eingeplant – ein erneuter Sprung nach oben. Wie hoch die Kosten für die Beamt*innen pro Flug sind, dazu gibt die Bundespolizei keine Auskunft. Deshalb haben wir eine Klage auf Basis des Presserechts eingereicht.
Juristisch fragwürdigDoch es geht nicht nur ums Geld: Es geht auch um die Länder, in die abgeschoben wird – wie im Fall von Düsseldorf nach Bulgarien. In Behördensprache handelt es sich hierbei um eine „Rückführung“. Es greift also die Dublin-Verordnung. Somit ist jener EU-Staat für einen Asylsuchenden zuständig, in dem er als erstes registriert wurde. Doch das Dublin-System ist umstritten, nicht nur wegen der ungleichen Lastenverteilung, sondern auch wegen der Zustände an den EU-Außengrenzen.
Ein aktueller Bericht eines Netzwerks kirchlicher Asylorganisationen vom Januar 2025 wirft Bulgarien vor, Geflüchtete nicht menschenrechtskonform zu versorgen. Es gebe keine ausreichende Grundversorgung, wie Wohnraum und Arbeitsplätze, dafür systematische Inhaftierung und Gewalt durch Behörden.
Das nordrhein-westfälische Flüchtlingsministerium verweist auf Nachfrage zu dieser Einschätzung an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Von dort heißt es auf Anfrage, man dürfe „darauf vertrauen“, dass Geflüchtete in jedem EU-Mitgliedstaat nach entsprechenden menschenrechtlichen Standards behandelt werden. Auch Bulgarien erfülle aus Sicht des BAMF europarechtliche Standards, die materielle und medizinische Versorgung sei gewährleistet.
So prallen zwei Erzählungen aufeinander: Auf dem Papier gilt Bulgarien als sicherer EU-Staat. Vor Ort aber berichten Hilfsorganisationen von Gewalt, Haft und fehlender Versorgung. Dass ausgerechnet dorthin nun teure Charterflüge starten, macht die Symbolpolitik kostspielig – und juristisch fragwürdig.
von Vera Deleja-Hotko
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Misstrauen gegenüber Zivilgesellschaft: Geheimdienst schnüffelt bei NGOs
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat in den vergangenen Jahren 1.200 zivilgesellschaftliche Organisationen überpüft. In vielen Fällen könnte das zum Entzug von Fördermitteln geführt haben. Die Initiativen werden über die Prüfungen nicht informiert und können dazu keine Stellung nehmen.
Angebliche „Schattenstrukturen“ und ein herbeifabulierter „NGO-Komplex“ – zivilgesellschaftliche Organisationen werden seit einigen Jahren vermehrt von rechts angegriffen. Eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion, die wir veröffentlichen, zeigt: In ihrem Misstrauen gegenüber der Zivilgesellschaft setzt die Bundesregierung auch den Inlandsgeheimdienst ein.
Demnach ließen Bundesministerien seit 2020 im sogenannten „Haber-Verfahren“ etwa 1.200 zivilgesellschaftliche Organisationen und 1.300 natürliche Personen, die Fördermittel beim Bund beantragt hatten, vom Bundesamt für Verfassungsschutz überprüfen. Der RND hatte zunächst über die Anfrage berichtet.
Geheime AblehnungenBetroffene Vereine und Personen – etwa Antragsteller*innen beim Bundesprogramm „Demokratie leben!“ – erfahren nichts von den Prüfungen. Sie haben daher auch keine Möglichkeit, zu Vorwürfen des Geheimdienstes Stellung zu nehmen. Was die Behörde an die Ministerien meldet, ist nicht bekannt. Ob die Überprüfungen seriös sind, kann daher nicht unabhängig beurteilt werden.
In vielen Fällen davon könnten Meldungen des Geheimdienstes dazu geführt haben, dass Organisationen keine Fördermittel erhalten haben. Damit entscheidet die Behörde de facto über Projektförderungen, ohne dies öffentlich zu begründen. Genauere Informationen dazu gibt die Bundesregierung allerdings nicht heraus.
Wie wir vor einigen Jahren enthüllt haben, führt die Bundesregierung bereits seit 2004 das „Haber-Verfahren“ durch. Eine gesetzliche Grundlage für dieses Verfahren gibt es nicht. Das hatte auch der Bundesdatenschutzbeauftragte mehrfach als rechtswidrig kritisiert. Das Vorgehen der Bundesregierung ist laut einem zivilgesellschaftlichen Gutachten verfassungsrechtlich bedenklich.
Wie sich Betroffene wehren könnenUnsere Transparenzklage zu Details der Überprüfungen hatte das Berliner Verwaltungsgericht 2019 mit Verweis auf eine angebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit abgelehnt. Da das Familienministerium eine massenhafte Überprüfung von Demokratie-Projekten angekündigt hat, ist mehr Transparenz und Kontrolle notwendig.
Wir prüfen derzeit, welche Möglichkeiten Betroffene haben, sich gegen das Herumschnüffeln des Geheimdienstes zu wehren. Dies könnte unter Berufung auf das Verwaltungsverfahrens-, das Datenschutz- und das Bundesverfassungsschutzgesetz möglich sein.
Wenn ihr keine Fördermittel erhalten habt oder welche beantragen wollt und mehr Transparenz dazu durchsetzen wollt, meldet euch bei uns!
von Arne Semsrott
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Wirtschaftsministerium: Reiche berät Reiche
Bei Treffen mit der Stiftung Familienunternehmen gaben Ministerin Reiche und ihr Staatssekretär Tipps, wie die Superreichen-Lobby Steuersenkungen erreichen könne. Das zeigen interne Unterlagen.
Nur zehn Tage nach ihrem Amtsantritt stand Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) zum ersten Mal auf der Bühne der Superreichen. Beim sogenannten „Tag des Familienunternehmens“ hielt sie eine Rede, die ganz im Sinne der 400 anwesenden Wirtschaftsbosse war: weniger Regeln für Unternehmen, mehr Wachstum. „Comeback made in Germany“ nennt Reiche das. Der „Tag des Familienunternehmens“ ist ein zentrales Lobby-Event der Stiftung Familienunternehmen, hinter der zahlreiche deutsche Milliardenkonzerne stehen.
Was bislang nicht bekannt war: Katherina Reiche suchte im Anschluss offenbar engen Kontakt zur Milliardärs-Lobby. Das zeigen Dokumente, die wir durch das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) befreit haben. Allein im Juli 2025 gab es drei weitere Treffen von Top-Beamt*innen des Wirtschaftsministeriums mit Vertreter*innen der Stiftung Familienunternehmen. Darunter ein Kennenlerngespräch des Vorstands der Stiftung mit Ministerin Reiche selbst.
Besonders heikel: Das Ministerium nutzte die Treffen offenbar für Parteipolitik – und beriet die Stiftung Familienunternehmen. Ein Staatssekretär empfahl einer Runde von Familienunternehmern laut einem Redemanuskript, für schnellere Steuersenkungen Druck bei der SPD zu machen. Und Ministerin Reiche schlug den Stiftungs-Chefs beim Kennenlern-Treffen vor, eine Lobby-Kampagne über die Unionsfraktion zu lancieren.
Das Ministerium könnte damit gegen das Neutralitätsgebot verstoßen haben. Kern des rechtlichen Konzepts: Staatliche Stellen dürfen nicht in den Parteienwettbewerb eingreifen.
Reiche will einschlägige Initiativen „flankieren“Vor zwei Wochen deckten Greenpeace Investigativ und NDR Panorama auf, dass die Stiftung im Gegensatz zu ihrem mittelständischen Image vor allem die Interessen superreicher Familien und Konzerne vertritt. Dokumente, die wir erstmals veröffentlichen, zeigen: Dem Ministerium war das bereits vorher klar. Die Beamt*innen wiesen die Ministerin vor ihrem Treffen darauf hin, dass die Stiftung nicht dem Mittelstand zuzurechnen sei. Das „nicht“ wurde in dem Vermerk dick unterstrichen.
Kein Mittelstand Aus einem Dokument für Ministerin Reiche zur Vorbereitung auf das Gespräch mit der Stiftung Familienunternehmen am 1.7.2025.Das hielt Reiche allerdings nicht davon ab, Vertreter der Stiftung zu treffen. Im Gegenteil. Laut Gesprächsvermerken plauderte Reiche in dem 20-minütigen Treffen mit der Stiftung über verschiedene Themen, etwa über den Abbau von Bürokratie oder das Lieferkettengesetz.
Besonders wichtig für die Familienunternehmer: Eine Reform der Wegzugbesteuerung, die Kapitalflucht verhindern soll. Insbesondere für Superreiche ist es durch die Steuer unattraktiver, ihr Vermögen ins Ausland zu bringen. Reiches Antwort: Die Stiftung möge sich mit dem Thema an die zuständigen Stellen in der Unionsfraktion wenden. Ihr Ministerium könne eine „einschlägige Initiative“ von dort dann „flankieren“.
Initiative der Unionsfraktion "flankieren" Aus einer internen Mail, die die Inhalte des Gesprächs zwischen Ministerin Reiche und der Stiftung Familienunternehmen am 1.7.2025 zusammenfasst.Möglicherweise hat die Stiftung Familienunternehmen damit gegen das Lobbyregister-Gesetz verstoßen. Denn sie hat das Thema Wegzugbesteuerung nicht im Lobbyregister angegeben. Dort müssen Interessenverbände alle Vorhaben eintragen, auf die sie Einfluss nehmen wollen. Die für das Lobbyregister verantwortliche Bundestagsverwaltung prüft diesen möglichen Verstoß aktuell.
Laut dem Verein Lobbycontrol zeigen die Dokumente, wie eng sich Ministerin Reiche mit der Stiftung Familienunternehmen abstimme. „Als Ministerin Lobbyarbeit gegenüber dem Bundestag ausgerechnet mit der Lobby der Superreichen zu planen, ist ein absolutes Unding“, sagt Christina Lange, Campaignerin bei LobbyControl. „Während die Regierung Merz reihenweise Sozialleistungen zusammenstreichen will, verspricht die Wirtschaftsministerin zugleich Unterstützung bei Steuersenkungen für Superreiche.“
Staatssekretär: Druck auf die SPDWie eng die Beziehungen zwischen Wirtschaftsministerium und Reichenlobby ist, zeigt ein weiterer Auftritt des Ministeriums bei einer Veranstaltung der Stiftung Familienunternehmen. Eine Woche nach dem Treffen mit Wirtschaftsministerin Reiche war Staatssekretär Stefan Rouenhoff zu Gast bei einem nicht-öffentlichen Treffen mit 16 Vertreter*innen großer deutscher Familienunternehmen. Darunter die Schwarz-Gruppe, zu der unter anderem Lidl und Kaufland gehören, die Gips-Firma Knauf, der Schrauben-Hersteller Würth, die Pharmafirma Roche und Haribo. Die Dokumente dazu veröffentlichen wir erstmals.
In seinem Redemanuskript nennt der Staatssekretär einen Punkt, für den sich die Stiftung Familienunternehmen seit Langem einsetzt: die Senkung der Körperschaftssteuer. Das ist eine Steuer, die viele Unternehmen auf ihr Einkommen zahlen.
Die Bundesregierung hat vor, sie ab 2028 von 15 auf zehn Prozent abzusenken. Doch dem Wirtschaftsministerium geht das offenbar nicht schnell genug. Rouenhoffs Lösung: Druck auf den Koalitionspartner SPD, durch die Stiftung Familienunternehmen.
Druck auf die SPD Aus einem Redemanuskript von Staatsekretär Rouenhoff für ein Treffen mit Hauptstadtleiter*innen großer Familienunternehmen am 9.7.2025Das Wirtschaftsministerium schreibt auf unsere Nachfrage, dass Rouenhoff bei dem Treffen keine Rede gehalten habe. Stattdessen habe er eine „offene Diskussion mit wenigen Worten eingeleitet“. Die Worte wurden laut Ministerium nicht protokolliert. Das Wirtschaftsministerium hat uns allerdings ein stichwortartiges Protokoll des Treffens geschickt. Laut dem Dokument hat Rouenhoff einen 15-minütigen Impuls gehalten, in dem er auch das Thema Körperschaftssteuer ansprach. Weiter schreibt das Ministerium, es sei Aufgabe von Regierungsvertreter*innen für ihre Politik zu werben. Kennenlerngespräche seien üblich und würden mit vielen Verbänden gepflegt.
Für den Steuer-Experten Gerhard Schick sprechen die Dokumente eine klare Sprache. „Spätestens seit der Erbschaftsteuerreform 2016 wissen wir, wie stark die Stiftung Familienunternehmen Gesetze beeinflusst“, sagt Schick, Vorstand des Vereines Finanzwende, der sich für ein gerechtes Finanzsystem einsetzt. „Wenn aber eine Ministerin und ihr Staatssekretär Tipps geben, wie noch effektiver lobbyiert werden kann, dann ist das ein Skandal. Das ist keine Politik für die Bürgerinnen und Bürger, sondern ganz offensichtlich eine Politik für Milliardärsfamilien.“
Die SPD wollte sich zur Angelegenheit auf Anfrage von FragDenStaat nicht äußern.
von Jonas Seufert , Arne Semsrott❤️ Hilf mit! Stärke die Informationsfreiheit mit Deiner Spende.
EU-Agrarpolitik: Millionen-Zuschüsse für Ausbeuter
Landwirt*innen bekommen viel Geld von der EU, obwohl sie die Rechte ihrer Arbeiter*innen missachten – sogar wenn sie deshalb im Gefängnis sitzen. Weil uns der Zoll entscheidende Informationen nicht geben will, ziehen wir vor Gericht.
Da ist ein Geflügelzüchter aus Norditalien. Er zahlte Löhne nicht und tauschte sich in einer Whatsapp-Gruppe aus, wie er seine Arbeiter*innen am besten kontrollieren könne. 2022 wurde er zu einer Haftstrafe verurteilt. Im selben Jahr bekam er 90.000 Euro Agrarsubventionen von der Europäischen Union (EU). Als er 2023 seine Strafe im Gefängnis absaß, waren es sogar 110.000 Euro.
Oder ein Landwirt und Lokalpolitiker aus Spanien. 2024 wurde er wegen schwerer Ausbeutung von zwei migrantischen Arbeitern zu neun Monaten Haft verurteilt. Außerdem muss er 44.000 Euro zahlen. Die Strafe hätte er fast vollständig mit den Subventionen begleichen können, die er im selben Jahr bekommen hat: 41.000€.
Die EU unterstützt Landwirt*innen jedes Jahr mit über 50 Milliarden Euro Subventionen. Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) macht etwa ein Viertel des gesamten EU-Haushalts aus. Das Geld soll Landwirt*innen unterstützen und Lebensmittel bezahlbar halten.
In einer internationale Recherche gemeinsam mit DeSmog, L’Humanité, L’Espresso, Profil, El Salto Diario und der Taz haben wir herausgefunden: Von diesem Geld profitieren auch landwirtschaftliche Betriebe, die nachweislich gegen Arbeitsrechte verstoßen oder gegen die Ermittlungen laufen. Manche der Landwirt*innen sind sogar strafrechtlich verurteilt, häufig wegen Arbeitsausbeutung.
Monatelang haben wir Medienberichte, Gerichtsdokumente und Aussagen von Arbeiter*innen in Deutschland, Österreich, Frankreich, Spanien und Italien ausgewertet und sie mit EU-Agrarzahlungen aus den vergangenen zehn Jahren abgeglichen. In 30 Fällen haben landwirtschaftliche Betriebe trotz Verurteilungen oder während laufender Ermittlungen weiterhin Subventionen in Millionenhöhe erhalten.
Farmsubsidy.org - Wer bekommt wie viele Agrarsubventionen?
Landwirt*innen in Europa bekommen jedes Jahr mehr als 50 Milliarden Euro Subventionen von der Europäischen Union - etwa ein Viertel des gesamten EU-Budgets. Dabei gilt das Prinzip: Je mehr Fläche, desto mehr Geld. Wer wie viel bekommt, veröffentlichen Behörden in den einzelnen Ländern meist jedoch nur für die vergangenen zwei Jahre. Wir haben die Agrarzahlungen aus allen EU-Ländern seit 2014 gescrapet und auf der Plattform farmsubsidy.org veröffentlicht. Die Angaben können nach Namen von Landwirt*innen, Betrieben oder Regionen gefiltert werden.
Auch in Deutschland profitieren Landwirt*innenAls Levani Idadze 2021 in das Flugzeug von Georgien nach Deutschland stieg, um Erdbeeren zu pflücken, schien in seinem Vertrag alles klar geregelt: Drei Monate Arbeit, maximal 48 Stunden pro Woche, 9,50 Euro pro Stunde, damals deutscher Mindestlohn.
Doch Idadze und rund 20 weitere Saisonarbeiter*innen aus Georgien erlebten das Gegenteil. Akkordarbeit, eine verschimmelte Unterkunft und vor allem: zu wenig Lohn. „Die zwei Monate in Deutschland waren für uns eine Beleidigung“, sagt Idadze heute. Der erste Betrieb in Süddeutschland, auf dem Idadze mehrere Wochen arbeitete, zahlte ihm nur rund die Hälfte von dem, was er selbst berechnet hatte. Auf dem zweiten Betrieb wurde er gar nicht bezahlt, nach knapp drei Wochen streikte Idadze mit einem Schild am Hoftor. Bis heute wartet er auf seinen Lohn.
Gemeinsam mit seinen Kolleg*innen hat Idadze gegen beide Betriebe geklagt. Im Sommer 2023 haben sie mit dem ersten Betrieb einen Vergleich geschlossen, das zweite Verfahren dauert bis heute an. Seit Idadze und seine Kolleg*innen für ihren Lohn kämpfen, haben die beiden Landwirte insgesamt 63.000 Euro von der EU erhalten.
Unsere Ergebnisse haben wir dem Völkerrechtler Didier de Schutter gezeigt. Er ist UN-Sonderberichterstatter zu extremer Armut und Menschenrechten und Co-Vorsitzender des Thinktanks IPES-Food, der sich für nachhaltige Ernährungssysteme einsetzt.
Die Ausbeutung von Landarbeiter*innen sei in Europa weit verbreitet, sagt er. „Noch skandalöser ist, dass die EU große Summen öffentlicher Geldern in landwirtschaftliche Betriebe fließen lässt, denen Arbeitsrechtsverletzungen vorgeworfen werden – und die sogar verurteilt wurden.“ Die Menschen in Europa wollten Lebensmittel, die unter fairen Bedingungen hergestellt seien. „Die Gemeinsame Agrarpolitik sollte dafür ein Instrument sein.“
Wir streiten uns mit dem Zoll vor GerichtDie Fälle, die wir zusammengetragen haben, zeigen vermutlich nur einen kleinen Ausschnitt des Problems. Denn häufig bleiben entscheidende Daten unter Verschluss. Arbeitsbehörden stellen in den unterschiedlichen Ländern jährlich Tausende Verstöße fest, verweigern jedoch die Auskunft über die Namen der Betriebe. Auch in Medienberichten oder Datenbanken zu Gerichtsurteilen sind Betriebsnamen häufig anonymisiert.
In Deutschland kontrolliert die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) beim Zoll landwirtschaftliche Betriebe und überprüft etwa die Einhaltung des Mindestlohns. Zwischen 2019 und 2023 hat die FKS wegen möglicher Mindestlohnverstöße mehr als 200 Verfahren eingeleitet. In derselben Zeit verhängte sie Bußgelder von knapp neun Millionen Euro gegen landwirtschaftliche Betriebe.
Doch die Namen der sanktionierten Betriebe nennt die Finanzkontrolle Schwarzarbeit nicht. Deshalb sind wir vor Gericht gezogen und haben in erster Instanz teilweise Recht bekommen. Das öffentliche Interesse an den Informationen sei höher zu gewichten als der Datenschutz, entschied das Verwaltungsgericht Karlsruhe. Weil sowohl wir als auch der Zoll Beschwerde eingelegt haben, befasst sich nun der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit der Angelegenheit. Wir sind überzeugt: Wenn ein Betrieb gegen Gesetze verstößt, darf eine Behörde den Namen nicht geheim halten.
Eine Reform, die wenig ändertEigentlich gibt es eine Regel, die verhindern soll, dass verurteilte Landwirt*innen ungehindert Subventionen erhalten: die „soziale Konditionalität“. Das Prinzip: Wer gegen bestimmte Arbeitsrechte verstößt, dem werden Subventionen gekürzt. Seit 2025 gilt sie in der gesamten EU, auch in Deutschland. Frankreich, Österreich und Italien haben sie aber schon 2023 eingeführt, Spanien im Jahr 2024.
Unsere Auswertung in diesen Ländern zeigt: Landwirt*innen haben wenig zu befürchten, denn bislang gab es kaum Kürzungen.
- Frankreich hat in zwei Jahren keine Sanktion ausgesprochen.
- Österreich hat nur bei einem Landwirt Subventionen gekürzt. In zwei aufeinanderfolgenden Jahren musste er insgesamt 3.000 Euro zurückzahlen - etwa vier Prozent des Geldes, das er in derselben Zeit bekommen hat.
- In Spanien gab es im Jahr 2024 insgesamt 227 Subventionskürzungen, im Schnitt wurden drei Prozent der erhaltenen Subventionen abgezogen. Nicht viele Fälle, wenn man bedenkt, dass spanische Behörden 2023 über 7000 Arbeitsrechtsverstöße festgestellt haben.
- Deutschland hat die Regel 2025 eingeführt. Bislang wurden noch keine Sanktionen ausgesprochen.
Enrico Somaglia, Generalsekretär des europäischen Gewerkschaftsbunds EFFAT sagt: „Bislang hat die Gemeinsame Agrarpolitik arbeitenden Menschen nicht geholfen.“ Die soziale Konditionalität könne ein mächtiges Werkzeug sein. „Aber sie muss richtig umgesetzt und gestärkt werden.“
Somaglia und EFFAT haben jahrelang für die Einführung der sozialen Konditionalität gekämpft. EFFAT fordert höhere Strafen und eine Ausweitung auf weitere Verstöße, etwa gegen den Mindestlohn. Die Regeln beziehen sich bislang nur auf sehr grundlegende Dinge: Es muss einen schriftlichen Arbeitsvertrag geben und es müssen gewisse Standards beim Arbeits- und Gesundheitsschutz eingehalten werden.
Ausnahme für 70 Prozent der BetriebeGerade verhandeln Politiker*innen in Brüssel die Gemeinsame Agrarpolitik für die kommenden sieben Jahre. Statt jedoch auf den Schutz von Arbeitsrechten zu pochen, möchte die EU-Kommission die Regel aufweichen. Die Kommission hat vorgeschlagen, Betriebe unter einer Größe von 10 Hektar von der Regel auszunehmen. Das wären laut EFFAT 70 Prozent der Betriebe in der EU.
Der Georgier Levani Idadze lebt mittlerweile in Deutschland. Am 30. Oktober findet der Gerichtstermin gegen den Landwirt aus Norddeutschland statt, der ihn bislang gar nicht bezahlt hat. In erster Instanz haben er und seine Kolleg*innen Recht bekommen, aber der Landwirt ging in Berufung. Idadze wird stellvertretend für alle nach Hannover fahren und erneut aussagen. „Wir haben gute Chancen zu gewinnen“, sagt Idadze, die Arbeitszeiten seien gut dokumentiert. Nach vier Jahren vor deutschen Gerichten könnte die Gruppe endlich Recht bekommen.
→ Zur erstinstanzlichen Entscheidung
Diese Recherche wurde von JournalismFund Europe unterstützt. Sie ist auch erschienen bei:
- DeSmog (Großbritannien)
- El Salto Diario (Spanien)
- profil (Österreich)
- L’Humanité (Frankreich)
- taz (Deutschland)
- L’Espresso (Italien).
von Jonas Seufert , Pascale Müller
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Internationaler Tag der Informationsfreiheit 2025: Neue FragDenStaat-Kunstedition
Heute ist internationaler Tag der Informationsfreiheit – und wir feiern mit unserer neuen limitierten Kunstedition! Die Edition stammt dieses Mal aus dem geschwärzten Sudhof-Bericht zur Maskenaffäre rund um Jens Spahn. Jetzt auf 000000.limited erhältlich!
Spahns Maskenbericht, but make it artsy!
Dass wir anlässlich des Tages der Informationsfreiheit in diesem Jahr ein geleaktes Dokument zur Kunstedition küren, spiegelt den desolaten Zustand der Informationsfreiheit aktuell ziemlich gut wider. Wir erinnern uns: Anfang des Jahres wollte die CDU, allen voran Philipp Amthor, das Informationsfreiheitsgesetz noch abschaffen.
Das käme ihm und seinen Parteikolleg*innen, insbesondere dem ehemaligen Gesundheitsminister Jens Spahn, ganz recht. Schließlich ist ihm nicht nur die Aufarbeitung der Maskenaffäre ein Dorn im Auge. Lange hielt das Gesundheitsministerium den Bericht der Sachverständigen Sudhof geheim, in dem die Beschaffung von Corona-Schutzmasken aufgearbeitet und die Verschwendung von mehreren Milliarden Euro an Steuergeldern dokumentiert wurde. Das Argument? Verschlusssache.
Weil die Masken-Affäre vollständig aufgeklärt werden muss und die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, zu erfahren, ob die Vorwürfe der Milliardenverschwendung begründet sind oder nicht, haben wir den Bericht veröffentlicht. Die Überraschung: Auch wir stehen mit drin. Denn Frau Dr. Sudhof bediente sich bei der Aufarbeitung auch veröffentlichter IFG-Anfragen von unserer Plattform.
Spahn soll dafür gesorgt haben, dass das Gesundheitsministerium Masken zu stark überhöhten Preisen von bis zu sieben Euro pro Stück bestellt hat. Die Preise der Masken soll er selbst hochgesetzt haben. Der Schaden: Mehrere Hundert Millionen Euro. Obwohl die Firma Emix massenhaft fehlerhafte Masken geliefert hat, zeigte sich Spahn nachgiebig. Denn „Vergleiche sind durch gegenseitiges Entgegenkommen geprägt“, wie es – für immer verewigt auf der „Masken-Edition 2025“ – so schön heißt.
Die „Masken“-Edition 2025 ist limitiert auf 50 Kunstdrucke. Also sichere dir jetzt einen Kunstdruck in unserem Shop und unterstütze so unsere Arbeit.
→ Zur FragDenStaat-Kunstedition 2025: „Maske“
von Judith Doleschal❤️ Hilf mit! Stärke die Informationsfreiheit mit Deiner Spende.
Verbrauch der Schlachtindustrie: Schnitzel statt Trinkwasser
Schlachtkonzerne verbrauchen so viel Wasser wie eine mittelgroße Stadt. Doch genaue Zahlen dazu verweigern Wasserversorger und Behörden. Deshalb klagen wir.
Die wichtigsten Punkte in Kürze- In Deutschland wird das Wasser knapper.
- Industrielle Schlachtkonzerne wie Tönnies, Wiesenhof, Westfleisch oder Danish Crown sind enorme Wasserverbraucher.
- Mindestens 11 Milliarden Liter pro Jahr verbrauchen die 45 größten Schlachtanlagen. Das haben wir erstmals erfasst.
- Oft zahlen Schlachtkonzerne wenig für das Grundwasser.
- Weil viele Behörden und Wasserversorger mauern, haben wir geklagt.
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Es dröhnt und rauscht. Hunderte tote Schweine hängen dicht an dicht, die Hinterbeine nach oben, den Kopf nach unten. Langsam fahren die Tierkörper an den Arbeiter*innen vorbei, die sie mit Sägen und Messern zerlegen. In Deutschland werden täglich rund 120.000 Schweine, 8.000 Rinder und 1,7 Millionen Masthühner geschlachtet. Die meisten davon in riesigen, industriellen Schlachtanlagen.
In fast jedem Produktionsschritt wird Wasser eingesetzt. Jeder Tiertransporter wird nach dem Abladen ausgespült. Die Sägen und Messer werden nach jedem Kontakt mit einem neuen Tierkörper gereinigt. 16 Stunden am Tag wird in den größten Betrieben geschlachtet. Die Nachtschicht macht acht Stunden lang sauber. Für all das wird Wasser benötigt.
Wir haben gemeinsam mit Correctiv erstmals systematisch den Wasserverbrauch der zwölf größten Schlachtkonzerne in insgesamt 45 Schlachtanlagen in Deutschland erfasst. Bei der Auswahl der Anlagen hat uns der Verein Faba Konzepte unterstützt, der sich für eine pflanzenbasierte Ernährungsweise einsetzt. Wir haben die zuständigen Behörden und Wasserversorger auf Basis des Presserechts und der Umweltinformationsgesetze gefragt: Wie viel Wasser verbrauchen die Schlachtbetriebe jährlich – und wie viel Geld zahlen sie dafür?
Unsere Zahlen zeigen: Industrielle Schlachter wie Tönnies, die PHW-Gruppe mit ihrer Marke Wiesenhof, Westfleisch oder Danish Crown sind große Wasserschlucker. Sie nutzen enorme Mengen an Grundwasser – und zahlen dafür oft wenig Geld.
So viel Wasser wie 250.000 MenschenDie 45 industriellen Schlachtbetriebe nutzen laut unserer Recherche jährlich mindestens 11,6 Milliarden Liter Wasser. Das entspricht dem Wasserverbrauch von rund 250.000 Menschen – oder der Einwohner*innenzahl von Kiel.
Das meiste Wasser nutzt der Tönnies-Betrieb am Standort Rheda-Wiedenbrück – rund zwei Milliarden Liter pro Jahr. Das ist etwa so viel wie alle Haushalte im Ort Rheda-Wiedenbrück zusammen. Sechs der größten deutschen Schlachthöfe verbrauchen jeweils mehr Wasser als die Tesla-Gigafactory in Grünheide, die immer wieder wegen ihres hohen Wasserverbrauchs in der Kritik steht.
Und das ist nur das Wasser, das für das Schlachten der Tiere verbraucht wird. Für die gesamte Fleischproduktion wird noch mehr Wasser benötigt, etwa für das Mästen oder die Herstellung von Futtermitteln.
Unsere Ergebnisse haben wir Claudia Pahl-Wostl gezeigt, Professorin für Ressourcenmanagement an der Universität Osnabrück. „Der Wasserverbrauch industrieller Schlachtbetriebe ist erheblich“, sagt sie. Besonders problematisch sei die räumliche Ballung der Schlachthöfe. „Da kann es regional zu Wassernutzungskonflikten kommen.“
Filter − Lade... Wassernutzung: Beide Quellen Nur eigene Brunnen Nur Trinkwasser Alle Preisinformationen: Alle Auskunft verweigert Legende − 🏭 Schlachtbetriebe Grundwasserstress Kein Grundwasserstress ℹ️ Struktureller Grundwasserstress ℹ️ Akuter Grundwasserstress ℹ️ Akuter UND struktureller Grundwasserstress ℹ️ Wassernutzung Nur eigene Grundwasserbrunnen Nur öffentliche Trinkwasserversorgung Beide Quellen Lade Daten...
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Es gibt keine wissenschaftlich belegbare Kausalität zwischen den Wasserentnahmen von Schlachtbetrieben und dem Grundwasserstress in einem Landkreis. Grundwassersysteme sind komplex, neben großen Entnahmen spielen etwa Niederschläge oder die Bodenversiegelung wichtige Rollen. Die Karte soll verdeutlichen, dass Schlachtbetriebe mit großem Wasserverbrauch auch in Landkreisen angesiedelt sind, in denen jetzt schon Wasserstress herrscht. Mehr Infos in der Grundwasserstress-Studie des BUND
Standortdetails × Hotspots: Niedersachsen und Nordrhein-WestfalenJahrzehntelang gab es in Mitteleuropa scheinbar unbegrenzt Wasser. Doch das hat sich geändert. Europas Gewässer und das Grundwasser seien unter Druck wie nie zuvor, warnt die Umweltagentur der EU. Laut dem kanadischen Water Security Institute ist die Lage in Deutschland besonders bedrohlich: In den vergangenen zwanzig Jahren sei Wasser in der Dimension des Bodensees verloren gegangen. Deutschland ist damit eines der Länder mit dem weltweit größten Wasserverlust.
Einige der größten Schlachtbetriebe Deutschlands liegen in Regionen, in denen es jetzt schon immer weniger Wasser gibt – wie im sogenannten Schweinegürtel in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Im Herzen der deutschen Fleischproduktion leben mehr Masttiere als Menschen und die Schlachtbetriebe liegen dicht beieinander. Die PHW-Gruppe etwa schlachtet in Lohne täglich rund 180.000 Masthähnchen, unter anderem für die Marke Wiesenhof. Knapp hundert Kilometer weiter südlich werden in der Tönnies-Schlachtanlage in Rheda-Wiedenbrück täglich bis zu 30.000 Schweine getötet.
Eine Studie der Naturschutzorganisation BUND zeigt, dass viele Grundwasserpegel in der Region rund um den sogenannten Schweinegürtel in den vergangenen Jahren signifikant gesunken sind. Dieser akute Wasserstress herrscht etwa in den Landkreisen Cloppenburg, Vechta und Diepholz, wo insgesamt sechs große Schlachtanlagen stehen.
Grundwassersysteme sind komplex, dass allein die Schlachthöfe schuld an der Wasserknappheit sind, kann man so nicht sagen. Eine wichtige Rolle spielen auch Niederschläge, die Bodenversiegelung oder die Entnahmen der Landwirtschaft. Die von uns recherchierten Daten zeigen jedoch, wo die Situation besonders angespannt ist. Und an einigen Orten wächst auch der Widerstand.
In Lohne etwa klagt die Naturschutzorganisation Nabu, weil sie durch die Wasserentnahmen des Geflügelschlachtbetriebs der PHW-Gruppe die Artenvielfalt in der Region bedroht sieht. In Kellinghusen nördlich von Hamburg fordern Bürger*innen, dass der Schlachtbetrieb von Tönnies mehr Geld für die Abwasserreinigung in der örtlichen Kläranlage zahlt. In Königs Wusterhausen in Brandenburg versucht eine Bürgerinitiative aktuell zu verhindern, dass ein weiteres Wiesenhof-Schlachtwerk die Produktion erhöht.
Grundwasser gratisRund die Hälfte der Schlachtbetriebe sind an die öffentliche Trinkwasserversorgung angeschlossen, ähnlich wie ein Privathaushalt. Dafür zahlen sie Gebühren an den lokalen Wasserversorger, der das Grundwasser fördert, aufbereitet und über Rohre verteilt. Andere Schlachtbetriebe fördern selbst Grundwasser in eigenen Brunnen und bereiten es auf. Für die Entnahme von Grundwasser aus den Brunnen wird in den meisten Bundesländern ein Entgelt fällig, das im Vergleich zu den Gebühren des Wasserversorgers viel geringer ist. Meist sind es wenige Cent pro Kubikmeter. In Bayern, Hessen und Thüringen dürfen Brunnenbesitzer*innen sogar umsonst Trinkwasser fördern.
Unsere Recherche zeigt: Schlachtbetriebe zahlen oft günstige Preise für ihr Wasser: Die PHW-Gruppe hat im niedersächsischen Lohne eigene Brunnen und zahlt rund 5 Cent pro Kubikmeter. Wie hoch die Kosten für die Förderung und Aufbereitung sind, darüber schweigt PHW. Zum Vergleich: Die Bürger*innen in der Region, die ihr Trinkwasser vom örtlichen Wasserversorger beziehen, zahlen 1,56 Euro pro Kubikmeter – mehr als das Dreißigfache.
Die Betriebe, die an die örtliche Wasserversorgung angeschlossen sind, zahlen in vielen Fällen dieselben Preise wie Privathaushalte. Es gibt jedoch Ausnahmen. In mindestens drei Fällen haben Schlachtbetriebe Sonderverträge mit dem örtlichen Wasserversorger geschlossen, das zeigt unsere Recherche. Über den genauen Preis geben jedoch weder die Schlachtbetriebe noch die Wasserversorger Auskunft.
So gehst du vor, wenn du herausfinden willst, wie viel Wasser Unternehmen bei dir vor Ort verbrauchen- Trinkwasser oder Grundwasser?
Einige Unternehmen sind an die öffentliche Trinkwasserversorgung angeschlossen, ähnlich wie Privathaushalte. Andere zapfen mit eigenen Brunnen das Grundwasser an oder entnehmen Oberflächenwasser aus Flüssen und Seen. Für beide Bereiche sind unterschiedliche Stellen zuständig. Die Zahlen kannst du am Ende addieren.
- Trinkwasser: Wasserversorger finden
Frag bei deinem zuständigen Wasserversorger nach dem Verbrauch und den gezahlten Preisen des Betriebs. Der Wasserversorger ist in der Regel nach dem Umweltinformationsgesetz (UIG) auskunftspflichtig. Journalist*innen können sich auch auf das Presserecht berufen. Am einfachsten stellst du Anfragen über FragDenStaat.de. Bei Fragen oder Beratungsbedarf zu Umweltinformationsanfragen kannst du dich gerne an den FragDenStaat Climate Helpdesk wenden.
- Grundwasser: Zuständige Aufsichtsbehörde finden
Die Bundesländer überwachen die Entnahme von Grund- und Oberflächenwasser und geben Auskunft über die maximalen und tatsächlichen Entnahmemengen großer Betriebe und die dafür fälligen Entgelte. Meist sind die Umweltministerien zuständig, doch es gibt Ausnahmen. In Bayern oder in Mecklenburg-Vorpommern haben wir Auskunft von den Kreisverwaltungen bekommen. Es ist nicht schlimm, wenn du unsicher bist: Die Umweltministerien müssen deine Anfrage weiterleiten, wenn sie nicht zuständig sind, oder dir sagen, wer zuständig ist. Auch hier kannst du Anfragen über FragDenStaat.de stellen.
- Widerspruch formulieren und klagen
Behörden haben laut Umweltinformationsgesetz (UIG) einen Monat Zeit, um deine Anfrage zu beantworten. In einem Bescheid steht, ob sie die erfragten Informationen zusenden oder auf welcher rechtlichen Grundlage sie die Auskunft verweigern. Wenn du mit der Entscheidung nicht einverstanden bist, kannst du gegen diesen Bescheid innerhalb von vier Wochen Widerspruch einlegen und gegebenenfalls klagen. Der Climate Helpdesk von FragDenStaat berät auch bei rechtlichen Fragen.
Und nicht nur diese drei Wasserwerke mauern. Mehr als ein Dutzend Behörden und Wasserversorger wollen auch nach zahlreichen E-Mails keine Auskunft über Verbräuche oder Preise geben. Der tatsächliche Wasserverbrauch der Schlachtindustrie liegt also vermutlich noch höher als die von uns berechneten 11,6 Milliarden Liter jährlich.
Wasser ist ein Allgemeingut und für uns alle lebensnotwendig. Wir haben ein Recht darauf zu erfahren, wer die großen Wassernutzer in Deutschland sind. Deshalb haben wir gegen den Oldenburgisch-Ostfriesischen Wasserverband geklagt, der im Schweinegürtel das Zentrum der deutschen Fleischindustrie mit Wasser versorgt.
Die Recherche wurde unterstützt durch das Olin-Stipendium von Netzwerk Recherche e.V.
von Jonas Seufert , Marie Bröckling
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Professor der Bundespolizei: "Ausgewiesener Extremist an zentraler Stelle"
Ein Politikwissenschaftler mit rechter Vergangenheit unterrichtet Polizist*innen in Sicherheitsfragen. Jetzt weist ein neues Gutachten zentrale Denkmuster der Neuen Rechten in seinen Texten nach. Wir veröffentlichen es.
Mehrmals pro Woche unterrichtet Stephan Maninger junge Bundespolizist*innen zu Fragen der Sicherheitspolitik. Dass er an der Bundespolizeiakademie in Lübeck lehrt, sorgt jedoch für Aufruhr unter den Studierenden. Denn Maninger hat eine umfangreiche rechte Vergangenheit: Er hat die wichtigste Denkfabrik der Neuen Rechten mitgegründet, Dutzende Texte in neurechten Publikationen veröffentlicht und sich in Südafrika für einen „Volksstaat für Weiße“ engagiert. Und er sprach als Redner auf einer Veranstaltung, bei der auch Personen teilnahmen, die zum engsten Unterstützerkreis der späteren rechtsextremen Terrorgruppe NSU gehörten.
Seit Maningers Vergangenheit 2021 öffentlich wurde, ringen Bundespolizei und Innenministerium um den weiteren Umgang mit dem Fall. Mehrere Jahre lang wurde der Professor von der Lehre ausgeschlossen, doch seit Jahresbeginn unterrichtet er wieder. Jetzt liegt ein neues Gutachten vor, das zu einem harschen Urteil über Maningers Texte kommt: Er habe über Jahrzehnte hinweg zentrale Denkmuster der Neuen Rechten vertreten und Argumentationen rechtsextremer Weltdeutungen verwendet. Nun fordert die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in einem Schreiben Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) zum Handeln auf. Wir veröffentlichen erstmals das Gutachten und den Brief an den Innenminister.
Polizeiprofessor mit rechter VergangenheitSeit 2009 unterrichtet Stephan Maninger an der Bundespolizeiakademie und am Fachbereich Bundespolizei der Hochschule des Bundes. 2019 wurde er dort zum Professor für Sicherheitspolitik berufen. Im Sommer 2021 wurde durch eine bei Buzzfeed veröffentlichte Recherche die umfangreiche rechte Vergangenheit von Maninger bekannt, der damals innerhalb der Bundespolizei als Experte für Sicherheitsfragen galt und auch Mitglieder von Spezialeinheiten wie der GSG 9 unterrichtete:
- Maninger war eines von sieben Gründungsmitgliedern des Trägervereins hinter dem „Institut für Staatspolitik“ (IfS) und leitete 2001 dessen Gründungsversammlung. Das IfS um den Rechtsextremisten Götz Kubitschek gilt seit etlichen Jahren als wichtigster Thinktank der Neuen Rechten. 2024 kam das IfS einem möglichen Verbot zuvor und löste sich selbst auf, nachdem es von mehreren Verfassungsschutzbehörden als rechtsextremer Verdachtsfall beziehungsweise gesichert rechtsextrem beobachtet wurde.
- Um die Jahrtausendwende veröffentlichte Maninger Dutzende Texte in neurechten Publikationen, wie der Jungen Freiheit und dem Ostpreußenblatt. Er schrieb von einem „Zeitalter der ethnischen Konflikte“, von einem drohenden „Ethnosuizid“ und warnte, die Bundeswehr müsse sich auf die Lösung von ethnischen Konfliktszenarien auch im Inneren einstellen. Die künftigen Herausforderungen lägen, so Maninger, in „verschwommenen ,Frontlinien‘ in multiethnischen Städten“.
- Mitte der Neunziger Jahre engagierte sich Maninger in Südafrika, wo er aufgewachsen war, als Sprecher in der Afrikaans Volksfront. Die separatistische Bewegung forderte einen eigenen Volksstaat für Weiße und war in Teilen auch bereit, diesen mit Gewalt zu erstreiten.
- 1998 trat Stephan Maninger in Deutschland bei einer Veranstaltung des rechtsextremen Vereins „Hilfskomitee Südliches Afrika“ auf. Auf der Rednerliste des Abends standen neben ihm mehrere seit Jahrzehnten aktive Rechtsextreme. Im Publikum war der engste Kreis um die spätere Terrorgruppe NSU vertreten, darunter bekannte Namen wie Ralf Wohlleben oder Tino Brandt. Aus diesem Grund findet sich Maningers Name auch in den Ermittlungsakten zum NSU.
Maninger ließ 2021 über seinen Anwalt – den bekannten Medienrechtler Ralf Höcker, dessen Kanzlei die AfD im Streit mit dem Verfassungsschutz vertritt und bei der zeitweise der ehemalige Verfassungsschutzpräsident und nun selbst von diesem beobachtete Hans-Georg Maaßen als sogenannter Of Counsel arbeitete – mitteilen, dass er sich in vielen Prognosen seiner früheren Texte bestätigt sehe, andere heute jedoch kritischer betrachte. Rassistische Konzepte teile er nicht. In seinem Unterricht würde er zudem auch positive Aspekte von Migration erwähnen. Privat habe er mitunter andere Ansichten gehabt als die Partei, für die er sich in Südafrika engagiert hatte. Aus dem Verein, der hinter dem Institut für Staatspolitik steht, sei er recht schnell wieder ausgetreten. Er habe zwar Arbeitsgruppen des IfS zugearbeitet, das sei jedoch lange vor der Beobachtung des Instituts durch den Verfassungsschutz gewesen. Die Veranstaltung, bei der er als Redner auch vor späteren NSU-Unterstützern auftrat, habe er mit der Absicht, sich von den Teilnehmern zu distanzieren, vorzeitig verlassen.
Ausgrenzender Nationalismus und rechtsextreme WeltdeutungenIm August 2025 legte nun der Politikwissenschaftler Fabian Virchow ein rund 110 Seiten starkes Gutachten über die Texte vor, die Maninger in den letzten 30 Jahren veröffentlicht hat. Virchow ist Professor an der Hochschule Düsseldorf und leitet dort den Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus. Sein Fazit: In Maningers Texten fänden sich Denk- und Argumentationsmuster, „die für rechtsextreme Weltdeutungen konstitutiv” seien. Vor allem habe Maninger über einen langen Zeitraum ethnopluralistische Positionen vertreten. Ethnopluralismus ist ein zentrales Denkkonzept der Neuen Rechten. Die Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt Ethnopluralismus als ausgrenzenden Nationalismus, der „den für Rechtsextreme typischen Rassismus neu und weniger angreifbar begründen soll“.
Virchow führt in seinem Gutachten zahlreiche Belege für seine Bewertung an. Er untersuchte sowohl Maningers Dissertation und Master-Thesis als auch Texte in Fachzeitschriften sowie Veröffentlichungen in rechten Medien wie der Jungen Freiheit oder dem Ostpreußenblatt. In seinen Texten gehe Maninger davon aus, dass es Rassen mit spezifischen Charakteristika gebe und Menschen instinktiv wie „Herdentiere” getrieben handeln würden. Vielfach greife Maninger auf ethnopluralistische Erklärungsmuster zurück, um vergangene Konflikte zu erklären oder drohende Konflikte im Zusammenhang mit Migration zu prophezeien. In seinem Werk führe Maninger Positionen an, die zur Rechtfertigung von Apartheid dienen. Er adele rassistische Gewaltakteure zu „Aufständischen“, stelle sich parteiisch auf die Seite der Vertreter des Apartheid-Regimes in Südafrika und verwende die Erzählung des „Kulturmarxismus“, der sich auch in rechtsterroristischen Manifesten findet.
Mit dieser klaren Bewertung widerspricht Virchow zwei früheren Gutachten, die Maningers Texte als unproblematisch eingestuft hatten. Diese beiden Gutachten wurden im Auftrag der Bundespolizei erstellt und sind bisher nicht öffentlich. Innerhalb des Fachbereichsrats der Bundespolizeiakademie wurde bereits vor mehr als einem Jahr kritisiert, die beiden dafür ausgewählten Gutachter könnten befangen sein. Zudem gab es intern Kritik an der fachlichen Expertise der Gutachter, da diese bisher nicht zu den Themen Rassismus und Neue Rechte forschen oder jemals dazu veröffentlicht haben. Das Bundesinnenministerium wies diese Kritik an den entlastenden Gutachten zurück. Auf die Frage einer Bundestagsabgeordneten sprach das Bundesinnenministerium im Februar 2025 von „eindeutigen Gutachten“, die festgehalten hätten, dass die Kritik an Maninger „nicht nachvollziehbar” sei.
Polizeigewerkschaft fordert Eingreifen von DobrindtIn Auftrag gegeben hat das neue Gutachten die Gewerkschaft der Polizei (GdP). Die Gewerkschaft hatte sich bereits in der Vergangenheit kritisch zu Maningers Position in der Polizei-Ausbildung geäußert und ein entsprechendes Gutachten von der Bundesregierung gefordert. Angesichts des nun vorliegenden Gutachtens hat sich GdP-Bundesvorstand Jochen Kopelke an Bundesinnenminister Alexander Dobrindt gewandt und fordert ihn zum Handeln auf. In dem Schreiben, das wir ebenfalls veröffentlichen, schreibt Kopelke, er sei in tiefer Sorge, ob die politische Bildung im Fachbereich Bundespolizei von extremistischen Einflüssen noch freigehalten werde. Die Gewerkschaft habe „Bedenken, dass hier ein ausgewiesener Extremist an zentraler Stelle der Werteorientierung des Führungsnachwuchses der Bundespolizei tätig ist“, heißt es weiter in dem Schreiben. Die Frage nach dem weiteren Umgang mit Maninger ist aktuell besonders brisant: Seine Professorenstelle war zunächst auf sechs Jahre befristet. Diesen Herbst steht die Entscheidung darüber an, ob er auf Lebenszeit an die Hochschule des Bundes berufen wird, um weiter Polizist*innen auszubilden.
Das Bundesinnenministerium bestätigt auf Nachfrage, dass das Schreiben der Gewerkschaft Dobrindt erreicht hat. Auf konkrete Nachfragen zu dem neuen Gutachten und möglichen Konsequenzen will sich das Ministerium jedoch nicht äußern. Ein Sprecher verweist auf Datenschutz.
Deutlicher äußert sich hingegen Maningers Anwalt: Gutachter Virchow sei ein „knallharter Linksradikaler”, da er in „linksextremen Kampfschriften publiziert” habe. Auch die Gewerkschaft der Polizei – die mit mehr als 200.000 Mitgliedern größte Interessenvertretung von Polizist*innen weltweit – hatte der Anwalt in der Vergangenheit bereits als „traditionell politisch links“ bezeichnet. Bei der Kritik an Maninger handele es sich laut Rechtsanwalt Höcker um wiedergekäute Vorwürfe, die längst ausgeräumt seien. Das neue Gutachten zu Maningers Texten liege weder Maninger noch seinem Anwalt vor. Höcker verweist stattdessen auf die zwei von der Bundespolizei bezahlten Gutachten, die er auch auszugsweise auf dem Internetauftritt seiner Kanzlei zitiert.
Die Bundespolizei hatte die beiden Gutachten beauftragt, nachdem zwei Politikwissenschaftler und frühere Kollegen von Maninger eine erste Studie veröffentlicht hatten. Sie hatten neurechte Positionen und ihre Verbreitungsstrategie in den Schriften des Bundespolizeiprofessors seziert. Veröffentlicht wurde diese Studie 2023 in der renommierten Fachpublikation „Jahrbuch Öffentliche Sicherheit”. Maninger hatte jüngst den Verlag und die Herausgeber der Buchreihe verklagt. Seine Argumentationshilfe: die von der Bundespolizei bezahlten Gutachten zu seinem Werk. Ein Urteil in diesem Fall soll Ende September fallen.
Transparenzhinweis:
Professor Fabian Virchow ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des „Gegenrechtsschutz“, ein Projekt in Trägerschaft von Verfassungsblog, Gesellschaft für Freiheitsrechte und FragDenStaat. Es gab weder im Zusammenhang mit diesem Text noch in anderen Kontexten einen Austausch zwischen dem Investigativ-Team von FragDenStaat und Virchow.
→ Zum Brief an den Innenminister
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Gutachten im Auftrag der Gewerkschaft der Polizei Prof. Dr. Fabian Virchow Düsseldorf, August 2025 2 INHALTSVERZEICHNIS Kontext S. 3 Ziel des Gutachtens S. 4 Vorgehensweise & Struktur S. 5 Material S. 6 Grundlegungen S. 7 Ergebnisdarstellung S. 11 Zusammenfassende Bewertung S. 98 Quellen & Literatur S. 102 Angaben zum Verfasser S. 112 3 KONTEXT Prof. Dr. Stephan Rainer Maninger ist seit 2020 als W3-Professor für Sicherheitspolitik an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundespolizei, am Standort Lübeck tätig. Seit 2021 sieht er sich nach einer Recherche von Ippen Investigativ , einem Rechercheteam von Ippen.Media, der fünftgrößten Zeitungsgruppe in Deutschland, zu der auch die Frankfurter Rundschau, der Münchner Merkur oder die tz gehören, unter anderem dem Vorwurf ausgesetzt, er sei einer der Gründer des im Jahr 2000 ins Leben gerufenen und seit etwa 2020 vom Bundesamt für Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuften Instituts für Staatspolitik (IfS), er sei Autor in mehreren rechten Publikationen, darunter der Wochenzeitung Junge Freiheit (JF), er habe sich in Südafrika bei einer Bewegung engagiert, die einen eigenen Staat für Weiße in dem afrikanischen Land forderte und sei bei einer Veranstaltung als Redner aufgetreten, der auch Unterstützer aus dem Umfeld der rechtsterroristischen Vereinigung Nationalsozialistischer Widerstand beiwohnten (Kempen/Engert 2021). Zu den Aktivitäten Stephan Maningers gehörten neben seiner Lehrtätigkeit in der Vergangen- heit u.a. Vortragstätigkeiten – so etwa am 10. Juli 1998 bei den Karlsruher Freitagsgesprächen zum Thema „‘Kampf der Kulturen‘ – Ausblick auf die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts“ , bei der Jungen Union Niedersachsen Ende 2001 im Rahmen eines Kongresses zum Thema „Globaler Terrorismus – Gefahr für die Demokratie“ –, insbesondere in den Jahren 1996 und 1997 eine intensive Publikationstätigkeit in der Wochenzeitung Junge Freiheit 1sowie Aufsätze in militäri- schen Fachzeitschriften, insbesondere in der Österreichischen Militärischen Zeitschrift. Der Vorgang hat inzwischen wiederholt medial Niederschlag gefunden (exemplarisch: Dahl- kamp/Ziegler 2021a, 2021b; Grabitz 2025; ), wurde in parlamentarischen Vorgängen aufgeru- fen (exemplarisch: Deutscher Bundestag 2021: 23; 2023) und hat zu juristischen Auseinander- setzungen geführt, zuletzt im Juli 2025 vor dem Landgericht in Lübeck. 1 So erschienen 1996 insbesondere in der zweiten Jahreshälfte mehrere Beiträge in der Wochenzeitung Junge Frei- heit, darunter „Überbevölkerung und Rohstoffverknappung werden oft heruntergespielt. Die brutale Logik der Gewalt“ (28/1996, S. 6); „‘Volkstaat‘ der Buren nimmt Konturen an“ (37/1996, S. 8); „Der Palme -Mord und die Gerüchteküche internationaler Medien“ (43/1996, S. 8); „Rassenunruhen an burisch dominierter Hochschule. ‚Afrikanisierung‘ der Unis“ (43/1996, S. 9); „Ethnische Oppositionsbewegungen sprengen koloniale Staatsgren- zen in Afrika. Ruanda und Zaire nur der Anfang“ (47/1996, S. 9); „Trinkwasserknappheit und Kriege werden das kommende Jahrhundert prägen. Die Arche Noah läuft auf Grund (48/1996, S. 10); „Empörung über ethni- sche Vereinheitlichung des Schulwesens in Südafrika. Identität der Buren ist gefährdet“ (49/1996, S. 9) sowie „Südafrika stellt diplomatische Beziehungen zu Taiwan ein. Schwerer Schlag für Taipeh“ (50/1996, S. 8). 4 ZIEL DES GUTACHTENS Angesichts der öffentlichen Kontroverse und der großen Bedeutung, die eine grundgesetzkon- forme Ausbildung von Angehörigen der Polizei hat, ist der Verfasser des Gutachtens von der Gewerkschaft der Polizei beauftragt worden, ein Gutachten anzufertigen. Das Gutachten geht der Frage nach, ob sich in den Publikationen von Prof. Dr. Stephan Maninger Aussagen, Posi- tionierungen und Denkfiguren finden, die ethnopluralistischen Konzeptionen entsprechen. Das Ergebnis kann für eine Beurteilung genutzt werden, ob und inwiefern diese möglicherweise im Widerspruch zu zentralen Setzungen des Grundgesetzes stehen. Es ist nicht Aufgabe des Gutachtens zu prüfen, ob die Ausführungen von Prof. Dr. Maninger im Lichte wissenschaftlicher Erkenntnisse haltbar sind oder nicht; Ziel ist das Erkennen und Einordnen insbesondere der zentralen und wiederkehrenden Deutungsmuster in den Veröf- fentlichungen von Prof. Dr. Maninger bezogen auf ethnopluralistische Weltbilder und -deu- tungen. Eine juristische bzw. dienstrechtliche Bewertung wird nicht vorgenommen. 5 VORGEHENSWEISE & STRUKTUR Die Sozialwissenschaften unterscheiden grundsätzlich zwischen quantitativen und qualitativen Methoden; geht es bei den quantitativen Methoden vornehmlich um die Ermittlung von Häu- figkeiten und die statistische Auswertung der erhobenen Daten mit dem Ziel der Überprüfung von Hypothesen, widmet sich die qualitative Forschung der Untersuchung von Einzelfällen oder kleinen n; dabei hat die qualitative Forschung insbesondere rekonstruierenden und inter- pretierenden Charakter, d.h. es geht ihr um das Erkennen und Verstehen von subjektiven Sinn- strukturen. Je nach Erkenntnisinteresse ist auch eine Kombination der Methoden im Rahmen eines Mixed-Methods-Ansatzes denkbar. Im Rahmen eines q ualitative Forschungsansatzes zielt das vorliegende Gutachten darauf, die öffentlichen Positionierungen von Prof. Dr. Maninger zunächst weitgehend vollständig in die Analyse einzubeziehen und in einem ersten Schritt die Texte dicht zu beschreiben , d.h. zu pa- raphrasieren und zusammenzufassen, um darin die zentralen Deutungsmuster zu identifizieren. Unter Deutungsmustern soll in diesem Gutachten verstanden werden, ob es Muster in der Darstellung und Interpretation der von Prof. Dr. Maninger in seinen Publikationen bearbeite- ten Fragestellungen und Themen gibt. Für die dabei sichtbar werdenden Sinnzusammenhänge bzw. Handlungsorientierungen sind insbesondere die diagnostischen Aussagen (darunter: Was ist die Lage? Wer ist verantwortlich?) und die prognostischen Positionierungen (darunter: Wie sieht eine Lösung aus? Was ist zu tun?) bedeutsam. Diese werden im Gutachten systematisiert und eingeordnet. Bei dieser Analyse sind manifeste wie latente Kommunikationsinhalte bedeut- sam. Erstere können sich beispielsweise in der Häufigkeit der Verwendung bestimmter Begriffe oder Argumentationsfiguren zeigen, letztere stärker in zwischen den Zeilen liegenden Sinn- strukturen. Die Veröffentlichungen Prof. Dr. Maningers werden chronologisch vorgestellt, um gegebenen- falls Veränderungen und Kontinuitäten, Brüche und Widersprüche in den Positionen nachvoll- ziehen zu können. Der analytische Zugriff auf die jeweiligen Texte erfolgt strukturell nach dem Muster: Bibliografische Angabe – Zusammenfassung und Paraphrase – Denk- und Argumen- tationsfiguren mit Fokus auf den Untersuchungsauftrag und Bewertung. 6 MATERIAL Grundlage der Begutachtung sind als primäre Quellen die Veröffentlichungen von Prof. Dr. Stefan Maninger; diese wurden insbesondere erhoben über den Katalog der Verbundzentrale des Gemeinsamen Bibliotheksverbundes (GBV) sowie über die Suche im Katalog der Deutschen National- bibliothek Frankfurt/Main. Weitere Texte wurden im Rahmen zusätzlicher Recherchen erhoben. Das Gutachten erhebt den Anspruch, die Veröffentlichungen weitgehend zu berücksichtigen. Die an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Randse Afrikaanse Universiteit entstandenen Doktorarbeit besteht laut Inhaltsverzeichnis aus acht Kapiteln sowie eine Bibliographie (ab Seite 289) und einem Anhang. Zugänglich für dieses Gutachten waren lediglich die Kapitel eins bis fünf (Seiten I-XI; 1-193). Nicht berücksichtigt wurden insbesondere mehrere kleinere Arbeiten, die in den Jahren 2008- 2010 im GRIN -Verlag erschienen, einem Verlag, der auf die Publikation von studentischen Seminar-, Haus- und Abschlussarbeiten spezialisiert hat. Die dem Gutachten zugrundeliegenden Arbeiten können unterschieden werden in a) Qualifi- kationsarbeiten, also die MA -Thesis und die Dissertation, bei denen aufgrund ihres Umfangs und ihres Charakters als wissenschaftliche Texte im engeren Sinne eine strenge Beweisführung zu erwarten ist, in b) die Texte in Fachzeitschriften u. ä., in denen – schon aus Platzgründen – stärker mit bereits gesetzten Begriffen gearbeitet wird, um eine spezifische Fragestellung zu bearbeiten, und in c) im engeren Sinne politisch-weltanschauliche Publikationen, in denen viel- fach auch mit Fahnenwörtern (Böke 1996) gearbeitet wird. Insgesamt ist der Umfang der öffentlich zugänglichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen überschaubar; insbesondere einige in der Österreichischen Militärischen Zeitschrift publizierte Texte wurden später erneut als Sammelband herausgegeben. Sollten weitere Schriften unter Pseudonym publiziert worden sein, so wurden diese nicht be- rücksichtigt, da ein solches Pseudonym dem Gutachtenden nicht bekannt ist. 7 GRUNDLEGUNGEN Im Folgenden wird auf der Grundlage politikwissenschaftlicher Forschung zunächst abgebil- det, worin Kernelemente rechtsextremer Weltanschauung und -deutung zu finden sind; im An- schluss wird dezidiert auf den Ethnopluralismus eingegangen, der ein zentrales Element dar- stellt. Extrem rechte Weltanschauung basiert in der Tradition des Sozialbiologismus (Merten 1983) auf der Vorstellung, dass Gesetze der Natur, insbesondere der Identitätstrieb (Teil einer ethnisch oder kulturell definierten Gemeinschaft zu sein), der Territorialtrieb (als Gruppe Kontrolle über ein Territorium zu beanspruchen), der Aggressionstrieb (funktional im permanenten Kampf ums Überleben), der Fortpflanzungstrieb sowie Hierarchien als vorsozial und überhistorisch auch für gesellschaftliche Gemeinschaften hand lungsleitend sind und sein sollten (Bott 1969; Bachem 1999). Anhand programmatischer Texte der extremen Rechten hat Feit (1987) gezeigt, dass die extreme Rechte in einem ausgeprägten ‚Territorialtrieb‘ einen Selektionsvorteil sieht, der zudem gesteigert werden könne, wenn zugleich der sogenannte ‚Sozietätstrieb‘ stark ausgeprägt sei. Die Vorstellung von ‚Kampf als Lebensprinzip‘ ist in die Annahme einer umfassenden Triebs- teuerung des Menschen eingebunden; der auch in der extremen Rechten Deutschlands einfluss- reiche französische Rechtsextremist Alain de Benoist behauptet etwa, dass „die europäische Weltanschauung […] einen polemologischen Grundzug“ (Benoist 1988: 12, Hervorhebung im Ori- ginal) aufweise, der nicht abgelehnt oder abgewehrt werden dürfe, sondern anzunehmen sei. Krieg und Gewalt werden insofern als natürlich und notwendig im fortwährend stattfindenden Kampf ums Dasein angesehen. Apodiktisch findet sich diese Konstruktion auch in den Worten eines jungen Neonazis: „Unsere Weltanschauung ist allgemein kämpferisch. […] Unsere Welt- anschauung beruht auf Stärke. Stärke ist Natur. Der Starke setzt sich in der Natur durch. Wir sind sehr naturbezogen, und unsere Weltanschauung beruft sich auf‘s Natürliche“ (zit. nach Hennig 1984: 72). Zentraler Bezugspunkt politischen Denkens im Rechtsextremismus ist nicht die Idee der einen Menschheit, in der alle Menschen qua Geburt dieselben Rechte haben, sondern – je nach Va- riante und nicht notwendig einander exkludierend – das Denken in Völkern , in Rassen oder in Ethnien. „An die Stelle der rationalistischen, in der Tradition naturrechtlicher Argumentation stehende Gleichsetzung von Einzelwille und gemeinschaftlichem Willen tritt die Identifizierung von Ich und Nation über die ursprungsmythische Konstruktion der Vermittlungsinstanz ‚Volk‘“, dessen Kern eine „Abstammungsbeziehung“ ist, „auf die sich die einzelnen Glieder der Nation insgesamt beziehen“ (Kellershohn 1998: 27, Hervorhebung im Original). Die Völker (bzw. Eth- nien) werden als Subjekte der Weltgeschichte angesehen. Ihnen werden in organizistischer Per- spektive und als Kollektivsubjekt spezifische Eigenschaften zugeschrieben; die Überzeugung von der natürlichen Ungleichheit der Menschen gilt für die Kollektivsubjekte wie für die Indi- viduen. Die Idee allgemeiner Menschenrechte wird als Mythos geschmäht. Extrem rechtes 8 Denken und Handeln zielt insofern auf die Etablierung einer sozialen Ordnung, die den Egali- tarismus des Christentums (Gleichheit vor Gott) (Backes 2020: 46/7), des Liberalismus (Gleichheit vor dem Gesetz) sowie des Sozialismus (Gleichheit der politischen Partizipation und der Lebenschancen) zurückweist, in der das Volk bzw. die Ethnie hinsichtlich der Abstam- mung, Sprache und kulturellen Ausdrucksformen möglichst homogen sein soll und in der des- sen Angehörige ihr Handeln maßgeblich am Ziel des biologischen Erhalts und der Stärkung des Kollektivs ausrichten. Politische Gewalt richtet sich damit potenziell und als legitim beur- teilt gegen diejenigen, die als Feinde einer solchen Ordnung bestimmt werden und sich den biopolitischen, territorialen und machtpolitischen Maximen verweigern. Der Prozess der Kategorisierung, Klassifikation und hierarchisierenden Bewertung (Luft 2024) einer solchen Ordnung der naturalisierten Ungleichheit kennt in der extremen und populisti- schen Rechten verschiedene Auslegungen und – in internationaler Perspektive – unterschiedli- che Erzählungen, in denen die Ideologeme anhand aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen oder politischer Ereignisse konkretisiert ausbuchstabiert werden, um derart Plausibilität zu be- anspruchen und handlungslegitimierend wirken zu können. In Teilen wird dabei auf den histo- rischen Überlegenheitsrassismus Bezug genommen, wie er beispielsweise im Kolonialismus und im Nationalsozialismus eine tragende Rolle gespielt hat. Andere verweisen auf Kultur als zentrale Dimension der Differenz, wobei kulturelle Differenzen verabsolutiert, als unaufhebbar und unüberbrückbar dargestellt werden. Die Vorstellung von Kultur wird als mit je spezifisch und von anderen Kulturen wesensmäßig abgrenzbaren Lebensweisen und Traditionen zu einer statischen und homogenen Kulturvorstellung verdichtet und zum vorherrschenden Unter- scheidungs- und Abgrenzungsmerkmal erklärt. Auch bei diesem kultura listischen bzw. diffe- rentialistischen Rassismus (Balibar/Wallerstein 1992) werden „soziale Eigenschaften und Verhal- tensweisen von Menschen als natürlich und unveränderbar angesehen, mit anderen Worten: sie werden natu- ralisiert“ (Jäger/Jäger 1999: 78, Hervorhebung im Original). Hinsichtlich der Handlungsoptio- nen und der Struktur von Gesellschaft sind insofern nur randständige Differenzen zu rassisti- schen Ordnungsvorstellungen gegeben. Dass es keine mit unterschiedlichen physischen oder psychischen Eigenschaften versehenen menschlichen Rassen gibt, ist inzwischen evident (vgl. u.a. die Jenaer Erklärung von 2019). Nicht zuletzt aufgrund der rassistisch und antisemitisch begründeten Vernichtungspolitik des NS-Regimes werden rassistische Äußerungen im Sinne des Überlegenheitsrassismus, wie er vielfach auch für die Kolonialregime typisch war, heute in vielen gesellschaftlichen Kontexten nur zurückhaltend kommuniziert. Offensiv überlegenheitsrassistische Positionen im politi- schen Meinungsstreit zu vertreten, gilt weithin als unangemessen und wird im Einzelfall auch rechtlich sanktioniert. In der extremen Rechten hat insbesondere die diskursorientiere Strömung, in der Literatur viel- fach mit der Eigenbezeichnung Nouvelle Droite/Neue Rechte belegt, unter selektivem Rückbezug auf Vertreter der sogenannten Konservativen Revolution (Mohler 1950; Lenk et al. 1997) das 9 Projekt einer Modifizierung von Programmatik und Sprache der sogenannten alten Rechten verfolgt. Teil dieses Vorhabens war auch die Distanzierung vom Neonazismus und von expli- ziten Bezügen auf Organisationen und Personal des Nazismus sowie die Hinwendung zum Ethnopluralismus, wie er nicht zuletzt unter dem Einfluss von Alain de Benoist (Camus 2019; Rueda 2021; Jorek 2022) in der lange durch Henning Eichberg (Pfahl-Traughber 1997) gepräg- ten Zeitschrift wir selbst zum Ausdruck kam. Dort zeigte er sich beispielsweise in der Partei- nahme für autonomistische und separatistische Projekte der Ir:innen, der Kurd:innen oder der Bask:innen, die nicht nur staatliche Repression durch die zentralstaatlichen Strukturen anführte, sondern auch auf die jeweils eigene/spezifische kulturelle Identität rekurrierte und mit Katego- rien wie antikolonialistisch oder antiimperialistisch belegte. Hingegen wurden Bestrebungen je- ner antikolonialen Bewegungen im südlichen Afrika, die auf eine Beendigung des Systems der weißen Vorherrschaft abzielten, rundweg abgelehnt. Früh benutzte Henning Eichberg den Begriff des Ethnopluralismus (Eichberg 1973: 668) , in- dem er ihn vom Eurozentrismus abgrenzte und als kulturrelativistische Errungenschaft präsen- tierte. Der Begriff setzt sich aus den Wörtern ethnos (griechisch) und pluralis (lateinisch) zusam- men; als sprachlicher Hybrid meint er das Nebeneinander von ethnonationalistisch verfassten Einheiten als normatives Paradigma – oder, wie es Hans -Gerd Jaschke (1992: 7) formuliert: „Der Begriff ‚Ethnopluralismus‘ behauptet die anthropologisch angeblich erwiesene Homoge- nität der Völker und die Unverantwortlichkeit der ethnischen ‚melting pots‘, wie etwa in den USA, ohne auf plumpe ausländerfeindliche Parolen zurückgreifen zu müssen.“ Auch Uwe Ba- ckes verweist darauf, dass „der ‚Ethnopluralismus‘ die Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder eth- nokulturellen Gemeinschaft als unüberbrückbare qualitative Differenz [betont], die es zu res- pektieren, zu schützen und zu erhalten gelte “ (Backes 2020: 47) . Thomas Pfeiffer (2018: 25) verweist darauf, dass der Ethnopluralismus von „einer Idee nationalrevolutionärer Splittergrup- pen […] schließlich zum vorherrschenden Nationalismuskonzept“ im Rechtsextremismus ge- worden sei. Er bezeichnet als „Dreh- und Angelpunkte des ethnopluralistischen Diskurses im Rechtsextremismus […] Differenz und Homogenität – der scheinbar natürliche, unüberwind- bare Unterschied von ethnisch und/oder kulturell definierten Menschengruppen, die mal Völ- ker oder Nationen, mal nach wie vor auch Rassen heißen – sowie das Ziel der inneren Homo- genität dieser Gruppen, da nur so ihre Vielfalt, ihr Bestand und ihre Qualität gesichert seien “ (2018: 37). Patrick Moreau sieht im Ethnopluralismus, der „Stimulierung eines Rassismus der Differenz“ (2000: 18), einen Beleg für antidemokratische Tendenzen. Uwe Backes hebt auch den antipluralistischen Impetus des Ethnopluralismus (und Fundamen- talismus) hervor, da dieser „all jene Individuen und Gruppen/Minderheiten unter Anpassungs- druck setze[.] und letztlich in ihrer Existenz bedrohe[.], die sich dem ethnischen/religiösen Ho- mogenitätspostulat widersetzen. Der Antipluralismus aber ist das zentrale Bindeglied zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus.“ (Backes 2020: 48) 10 Anders als die Vorstellung einer soziale n Ordnung, die das Zusammenleben von Individuen und die gemeinsame (wenn auch nicht immer konfliktfreie) Gestaltung von Gesellschaft auf der Anerkennung individueller Menschenrechte aufsetzt, sieht der Ethnopluralismus im Ne- beneinander von ethnisch homogenen Kollektiven das Versprechen einer sozialen Ordnung eingelöst, die der Natur von Menschen angemessen Rechnung tr age. Vennmann, der davon ausgeht, dass „sich Ethnopluralismus kaum ohne antisemitische Momente begreifen“ (2018: 8) lasse, argumentiert, dass dem Ethnopluralismus ein Antisemitismus inhärent zu eigen sei, weil in der „dichotomen Differenz von Wir/Sie“ (ebd.) das Judentum als nicht -identisches Drittes keinen legitimen Ort haben könne. Hansen (2023) sieht im Ethnopluralismus eine Form der Identitätspolitik, während es sich für Armin Pfahl-Traughber, der an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung lehrt, beim Ethnopluralismus letztlich um den traditionellen Rassegedanken handelt ( Pfahl-Traugh- ber 1997: 236). In der Summe der Forschungsperspektiven wird dem Ethnopluralismus ein zentraler Ort in extrem rechter Weltdeutung zugewiesen, der in einem erkennbar deutlichen Spannungsverhält- nis zu den Grundlagen demokratischer Gesellschaften mit ihre r normativen Verankerung in der Idee allgemeiner individueller Menschenrechte steht. Zur nächsten Seite von Aiko Kempen❤️ Hilf mit! 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