Das Sterben in Gaza geht weiter

1 Beitrag / 0 neu
Bild des Benutzers Helmut S. - ADMIN
Helmut S. - ADMIN
Offline
Verbunden: 21.09.2010 - 20:20
Das Sterben in Gaza geht weiter
DruckversionPDF version

Das Sterben in Gaza geht weiter




Von Karin Leukefeld


In der Nacht zum Freitag begann die israelische Armee eine Bodenoffensive und rückte von Norden, Osten und Süden auf den abgeriegelten Küstenstreifen vor.

Unterstützt wurde der Vormarsch von Raketenbeschuss aus der Luft und vom Meer. Ziel der Angriffe sind offiziell Tunnelanlagen und Raketenabschussrampen. Kampfhubschrauber griffen auch Gebäude in Gaza-Stadt und im Stadtteil Rimal an, wo verschiedene Medien ihre Büros haben. Mehrere Mitarbeiter eines lokalen Rundfunksenders und ein Fotoreporter wurden verletzt.

Die Bodenoffensive wurde von Unterstützern der israelischen Streitkräfte und von internationalen Medien von verschiedenen Hügeln unweit der Stadt Sderot aus beobachtet. Diana Magnay vom US-Sender CNN berichtete über eine vermutlich lasergesteuerte Rakete, deren Flug man gut am Horizont verfolgen konnte. Als die Rakete einschlug und explodierte, applaudierten die Zuschauer hinter ihr. Wenn sie ein „falsches Wort sagen würde, werde man das Auto des Filmteams zerstören“, hätten die Leute ihr gedroht, schrieb die Reporterin kurz darauf auf Twitter. 20 Minuten später war die Twitter- Meldung verschwunden.

Am Freitagmorgen berichtete die palästinensische Nachrichtenagentur Ma`an News von mindestens 21 Toten, darunter ein fünf Monate altes Baby. Drei Kinder waren bereits am Donnerstag getötet worden, als eine israelische Rakete das Dach ihres Hauses in Gaza Stadt zerschlug. Am Donnerstagmorgen hatten Israel und die Hamas auf Bitten der Vereinten Nationen eine mehrstündige Waffenruhe eingehalten, damit die Menschen sich versorgen, Wohnungen und Krankenhäuser evakuiert werden konnten. Auch danach war es zunächst noch relativ ruhig gewesen. Die Kinder, die Tage lang in Wohnungen eingesperrt waren, nutzten die Ruhe, um auf dem Dach zu spielen. Raed al-Kurdi, der mit seiner Familie auf dem Nachbardach gesessen hatte, sah plötzlich wie die Rakete nebenan einschlug. Die beiden Brüder Jihad (8) und Wissam (7) starben auf dem Weg ins Krankenhaus. Auch ihre 10jährige Kousine Afnan wurde getötet.

„Sie waren Kinder, eben haben sie noch auf dem Dach gespielt“, sagte ein Angestellter des Krankenhauses verzweifelt aber auch zornig zu den Journalisten, die vor der Leichenhalle warteten. „Und jetzt liegen sie tot vor uns.“ Der Verantwortliche der Leichenhalle fragte die Familienangehörigen, ob sie die Journalisten in den Raum lassen würden. „Wenn Sie der Welt zeigen wollen, was hier geschieht, lassen wir sie herein.“ Nachdem die Familie zugestimmt hat, schreiben die Kollegen auf, was sie in der Leichenhalle sehen: „Neben den drei toten Jungen liegt ein viertes Kind, das zuvor schon getötet worden war. Jihad und Wissam liegen je auf einer Seite von ihrer Kousine Afnan. Deren Haarlocken umrahmen das blutbefleckte Gesicht. Ihr weißes T-Shirt ist blutig. Die Kleidung ihrer kleinen Kousins sind von Raketensplittern zerrissen. Der siebenjährige Wissam hat seine Augen noch weit geöffnet.“

Mehr als 260 Palästinenser sind seit Beginn der Offensive am 8. Juli getötet worden, mindestens 2.000 wurden verletzt. Nach offiziellen Armeeangaben starb ein israelischer Soldat zu Beginn der Bodenoffensive in der Nacht zu Freitag. Anfang der Woche war ein israelischer Zivilist von einer Rakete aus dem Gazastreifen getötet worden. Die Zahl der israelischen Verletzten Zivilisten und Soldaten liegt bei (wie hoch?).

Nach Armeeangaben wurden bisher mehr als 2.000 Angriffe auf Gaza durchgeführt, aus dem Gazastreifen wurden etwa 1.400 Raketen auf Israel abgefeuert. Nach UN-Angaben wurden 1.370 Wohnungen in Gaza zerstört, etwa 20.000 Menschen wurden vertrieben.

Ministerpräsident Benjamin Netanyahu erklärte am Freitag bei einer live im Fernsehen übertragenen Sitzung der israelischen Regierung, dass die Offensive noch ausgeweitet werden könne. Ziel des Einmarsches sei es, die „Terrortunnel“ der Hamas zu zerstören, die aus dem Gazastreifen in israelisches Territorium hinein gebaut worden seien. Man habe ein Kommando von einem Dutzend Kämpfer gefasst, die durch einen Tunnel nach Israel gelangt seien. Außerdem seien bei der Bodenoffensive bereits 20 verdeckte Raketenabschussrampen und neun Tunnel zerstört worden. Zwei Mal habe Israel in der vergangenen Woche einer Waffenruhe zugestimmt, beide Male hätte „die Hamas weiter gefeuert“, so Netanyahu. Insgesamt hat Israel nun 65.000 Reservisten mobilisiert. Es ist die vierte Bodenoffensive seit 2006.

Bisher hat das israelische Raketenabwehrsystem „Eiserne Kuppel“ Hunderte von Raketen aus dem Gazastreifen abgefangen. Dennoch müssen israelische Bürger immer wieder Schutzräume und Bunker aufsuchen. Im Gazastreifen gibt es weder Bunker noch ein Raketenabwehrsystem. Die israelische Armee gibt allerdings an, dass die Kämpfer in Gaza und die Führung der Hamas sich in Tunneln und Betonbunkern versteckt hielten. Die UN protestierte gegen die Lagerung von 20 Raketen in einem Krankenhaus in Gaza.

In Kairo wurden derweil Gespräche für einen Waffenstillstand fortgesetzt. Verhandlungsführer auf palästinensischer Seite ist Präsident Mahmud Abbas, auch eine Delegation der Hamas und Vertreter anderer palästinensischer Kampfverbände in Gaza sind in Kairo. Israel hat eine Verhandlungsdelegation entsandt. Abbas wurde am Freitag zu Gesprächen mit der türkischen Regierung in Istanbul erwartet. Die türkische AKP-Regierung sieht in der Hamas eine Verbündete der Muslim-Bruderschaft.

Die Türkei forderte eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats und ein Dringlichkeitstreffen des UN-Menschenrechtsrates. Auch die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) solle zusammentreffen, erklärte der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu. Türkische Medien berichteten, dass die Polizei in Istanbul Demonstranten mit Wasserwerfern und Tränengas daran gehindert habe, in das israelische Konsulat einzudringen. In Ankara hätten Demonstranten die Residenz des israelischen Botschafters mit Steinen beworfen, Fensterscheiben seien zu Bruch gegangen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte Verständnis für die israelischen Angriffe auf Gaza, forderte allerdings, die Offensive müsse „angemessen durchgeführt werden“. Israel habe ein Recht auf Selbstverteidigung und Deutschland stehe in dieser Frage an der Seite Israels. Diese Erklärung gilt vermutlich nur für die Bundesregierung. In vielen Städten Deutschlands werden am heutigen Samstag Kundgebungen gegen den Krieg in Gaza stattfinden.

Karin Leukefeld
 



Quelle:  AG-Friedensforschung > Artikel



Die AG Friedensforschung (AGF) ist eine interdisziplinär angelegte Arbeitsgruppe. Ihre Mitglieder gehören verschiedenen Fachbereichen der Universität Kassel an und vertreten unterschiedliche Fachrichtungen. Die Mitglieder der AGF leiten ihr wissenschaftliches Selbstverständnis von der Entstehung der Teildisziplin "Internationale Beziehungen" innerhalb der angelsächsischen und amerikanischen Politischen Wissenschaft ab, die nach den entsetzlichen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs einen Beitrag zur Ächtung und Abschaffung jeglichen Krieges leisten wollte. Sie treten ein für Gewaltfreiheit, Einhaltung der Prinzipien des Völkerrechts, insbesondere der Charta der Vereinten Nationen, der Menschenrechtskonventionen und der Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts, für eine Politik ziviler Konfliktprävention und -bearbeitung sowie für die Ächtung aller Arten von Massenvernichtungswaffen und für weltweite Abrüstung.

Bild- und Grafikquellen:


1. Die palästinensische Bevölkerung kann weder in Schutzbunkern Zuflucht suchen noch das Land verlassen. Unschuldige Kinder sind den israelischen Raketen und den Bodentruppen schutzlos augeliefert. Foto / Quelle: MIDDLE EAST EYE (MEE) - http://www.middleeasteye.net/

2. Plakat: "Freiheit für Palästina = Frieden für Israel". Grafik: Wolfgang Blaschka (WOB)

3. Plakat: "Bomben auf Gaza - ist das die deutsche Staatsräson?" Grafik: Wolfgang Blaschka (WOB)