Der Fall Merkel & Sloterdijk - oder gibt es ein intellektuelles Lumpenproletariat?

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Franz Witsch
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Der Fall Merkel & Sloterdijk - oder gibt es ein intellektuelles Lumpenproletariat?
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Der Fall Merkel & Sloterdijk

. . . . oder gibt es ein intellektuelles Lumpenproletariat?

Liebe FreundeInnen des politischen Engagements,

Wir wissen so viel wie nie zuvor über die Welt, in der wir leben. Aber uns über sie verständigen können wir nicht mehr ( Artikel b. TELEPOLIS v. Stefan Schulz, ehemaliger FAZ-Journalist).

Mittlerweile ist unstrittig, dass Frau Merkel sich gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan regelrecht erniedrigt ( Artikel b. TELEPOLIS v. Florian R.), ein Vorgang, der zusätzlich seine übelriechende Note dadurch gewinnt, dass Erdoğan gönnerhaft ein regierungsamtliches Lob für Frau Merkel übrig hat, habe sie doch richtig gehandelt: den Weg für ein Strafgerichts-Verfahren gegen ZDF-Satiriker Jan Böhmermann freigemacht.

In dieses Lob stimmte die veröffentlichte Meinung nicht uneingeschränkt ein. Lob äußerten u.a. SZ, B.Z. und Kölner Stadt-Anzeiger, dazu der eine und andere öffentlich-rechtliche Kommentar. Man wolle, so lässt sich die Zustimmung zusammenfassen, die Prüfung des Falls Böhmermann, wie es sich für einen Rechtsstaat mit Gewaltenteilung gehört, den Gerichten überlassen.

Dabei scheren sich Medien und Regierung einen Dreck um den Rechtsstaat. Gelegenheiten, sich zu kümmern, ließ man haufenweise ungenutzt, u.a. was die zahllosen US-Drohnenmorde betrifft, die regelmäßig – bis heute – am Rechtsstaat vorbei erfolgen und von der Bundesregierung seit Jahren unterstützt werden.

Im Fall Böhmermann fällt Medien und Politik plötzlich – weil das Kleingeld nicht mehr stimmt – ein, dass wir in einem Rechtsstaat leben. Dieser verlange angeblich die ausdrückliche Ermächtigung der Bundesregierung, gegen Herrn Böhmermann strafrechtlich wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes vorzugehen, um eine Vorverurteilung Böhmermanns zu vermeiden. Schließlich müsse man es den Gerichten überlassen, über Schuld oder Unschuld zu befinden. Die Ermächtigung nicht zu erteilen, hieße, ihn für unschuldig zu erklären. Das sei allein Sache eines Gerichts.

Auf so einen Unsinn muss man erst einmal kommen: von hinten durch die Brust ins Auge argumentiert. Die Sache stellt sich einfacher dar: Die der Regierung untergeordneten Exekutiv-Instanzen „Polizei und Staatsanwaltschaft“ sind für Ermittlungen zuständig. Sie müssen sogar ermitteln, wenn eine Straftat vorliegt oder angezeigt wird. Eine Straftat anzuzeigen, steht jeder Privatperson zu, auch einem Herrn Erdoğan; dazu braucht es nicht die Ermächtigung einer Bundesregierung.

Der Justizminister kann indes als weisungsbefugte exekutiv-übergeordnete Instanz anordnen, gegen eine Straftat nicht weiter zu ermitteln; das geschieht für gewöhnlich ausdrücklich. Dagegen mutet es einigermaßen absurd an, eine Strafverfolgung ausdrücklich anzuordnen, auch wenn’s im Gesetz – gegen jegliche moderne Lesart geschriebenen Rechts – so steht.

Indes liest man dort viel, wenn der Tag lang ist!

Es steht zu befürchten, dass die Bundesregierung, namentlich die Bundeskanzlerin, immer offensichtlicher zu einem Fall von Real-Satire wird – wie damals Kohl. Gerade ließ Frau Merkel den DWN zufolge verlautbaren, dass sie die „Rente nicht als Thema im Wahlkampf haben“ wolle ( DWN-Artkel). Als würden Probleme nicht existieren, wenn man sie nicht diskutieren will oder beiseite schiebt, eine Art der Politik, die sogar unseren Star-Philosophen Sloterdijk nervt. Er vermisse eine gewisse „Härte beim Regieren“ ( Artikel b. TELEPOLIS v. Arno K.). Härte gegen was und wen? Egal – gegen wen auch immer, zur Zeit vermutlich gegen Flüchtlinge. Sollen sie doch im Mittelmeer absaufen. Jedenfalls möchte unser Philosoph notwendige Härten nicht den Dumpfbacken von der AfD überlassen. Dort bemerke „man nicht wenige gescheiterte Figuren, die vor dem Gerichtsvollzieher in die Politik geflohen sind“ (ebd).

Heißt das vielleicht, dass „Härte zeigen“ in rechtschaffende Hände gehöre? Nun, Peter Sloterdijk war schon immer ein Meister bedeutungsschwangerer Halbwahrheiten gewesen. Henryk M. Broder sagte früher einmal, ein Meister der Blase ( DER SPIEGEL). Ich würde sagen, er ist einer, der seine Analysen – übrigens genau wie Broder – nicht zu Ende formuliert und sehr wahrscheinlich auch nicht zu Ende denkt angesichts des Umstandes, dass Gedanken ihren Weg nie eins-zu-eins in Formulierungen hinein finden. Diese also der Interpretation bzw. Überprüfung bedürfen. Und das bedeutet, darüber zu sprechen, was Härten in der sozialen Praxis konkret bedeuten. Zum Beispiel ggf. auf Demonstranten einzuprügeln, Flüchtlinge absaufen zu lassen, kriegerische Flächenbrände auszulösen, zu inszenieren u.s.w.

Nichts zu Ende denken – dazu werden sprachgewaltige Meister verführt, wenn sie sich an der sprachlichen Einkleidung ihrer Gedanken allzu sehr ergötzen können. Begriffe (kommt von „begreifen“) werden wie Worte (suggerieren eindeutige Identifizierung ihres Gegenstandes) in die Debatte geworfen, als würden sie einen Sachverhalt per se in sich stimmig oder eindeutig repräsentieren.

Nehmen wir z.B. den von Sloterdijk verwendeten Begriff des „Verlierers“, den es als „gefühlte“ Tatsache, eine Angelegenheit des Innenlebens, gibt, aber eben auch als analysierbaren (zu begreifenden) sozialen Sachverhalt, auf den jenes Gefühl verweist, das damit eingebettet ist in einen umfassenden sozial-ökonomischen Kontext. Zusammengenommen für Herrn Sloterdijk – lässt man seine Aufsätze über sich ergehen – zu viel: Er verwendet den Begriff des Verlierers buchstäblich wie ein Elefant im Porzellanladen, freilich mit großem Talent, diese seine analytische Grobheit hinter wohlklingenden Formulierungen und Vielwisserei zu verbergen.

In einer Ständegesellschaft wisse jeder Mensch, so der ehemalige Bhagwan-Anbeter Sloterdijk, wohin er gehöre, so dass es keine oder doch kaum Gründe gebe, sich als Verlierer zu fühlen. „Das Spektrum der Aufstiegschancen habe sich in der Moderne (...) verzwanzigfacht, aber eben deswegen produziere die heutige Gesellschaft so viele Verlierer.“ Das sei für einen Verlierer umso bitterer, wenn er seine Chancen nicht zu nutzen verstehe.

Dass es Verlierer gibt, ist unstrittig. Insofern ist der Begriff von den Tatsachen her gerechtfertigt. Doch dann stellt Sloterdijk das Denken ein, obwohl die Probleme mit der Tatsachenfeststellung erst beginnen, nämlich diese eingelassen in einem umfassenden Kontext zu analysieren. Andernfalls setzte man sich dem Verdacht aus, als ginge es nur darum, Verlierer systemkonform zu diskriminieren; im Volksmund: alle Verlierer über einen Kamm zu scheren, weil für Sloterdijk „Verlierer“ sich so anfühlen. Kurzum: er mag sie nicht. Also verdienen sie in Anlehnung einer uneingestandenen „Schwarzen Pädagogik“ irgendwie Härte.

Das ist vermutlich – seelisch gesehen – das, was Peter Sloterdijk will: zunächst dem Verlierer klipp und klar sagen, dass er einer ist, er dies begreift, um ihn dann zu „erziehen“ durch Härte,– etwa mit Militär- oder Polizeieinsätzen gegen Flüchtlinge, die nach Europa wollen? Und dann ist der Flüchtlingsdeal mit Erdoğan für Sloterdijk ein „Pakt mit dem Teufel“, der ganz offensichtlich „die nötige Grobheit“ aufbringt, „um die europäischen Sensibilitäten zu schonen“, eine Grobheit, die er ganz offensichtlich nicht einfach an Erdoğan delegiert sehen möchte.

Sollen wir uns vielleicht ein Beispiel an Erdoğan nehmen, weniger sensibel sein gegen Verlierer? Fragen über Fragen, die sich in schönen Formulierungen leider von selbst beantworten.

Doch was genau ist an Sloterdijks Halbwahrheit so widerlich, und warum ist dieser Begriff für mich gerechtfertigt, wo ich doch auch glaube, dass es eine menschenwürdige Lösung des Flüchtlingsproblems nicht gebe. ( KN-Artikel).

Der Fehler Sloterdijks besteht darin, dass er nicht sieht, dass es eine Lösung im Kapitalismus, also von „Menschen gemacht“, sehr wahrscheinlich nicht gibt, sodass es sich lohne, jene These zu diskutieren ( KN-Artikel). Davon ist Sloterdijk weit entfernt. Das macht ihn für mich nicht weniger gefährlich als die AfD und die gesamte Politik, „Die Linke“ eingeschlossen, selbst wenn es innerhalb der Linken Politiker wie Lafontaine gibt, die Kriege uneingeschränkt ablehnen, weil sie ganz richtig der Meinung sind, Konflikte ließen sich grundsätzlich nicht mit Gewalt lösen (Spiegel vom 18.04.2016).

Nur haben „richtige Auffassungen“ in einer Partei wie Die Linke keine Chance, sich durchzusetzen – aus strukturellen Gründen, die im Kern darin bestehen, dass Linke vornehmlich auf mehr Macht schielen bzw. darauf, mit Hilfe der Politik ihren Lebensunterhalt zu verdienen, nicht zuletzt Lafontaine. Sehen Politiker ihre Macht in Gefahr, neigen sie zu Härte und Realitätsverlusten, zuweilen mit vagen Überzeugungen, hinter denen sie ihr systemkonformes politisches Engagements verstecken, wie z.B. der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, der sagte, man müsse, um etwas zu erreichen, auch Umwege gehen. Dieser Satz rechtfertigt unappetitliche politische Karrieren genauso wie damals die fatale Aufforderung Dutschkes nach einem „Marsch durch die Institutionen“. Heute würde er solch einen Scheiß vermutlich nicht mehr sagen, sondern Enttäuschungen ertragen, um sie in eine umfassende Analyse (Gefühle kontrollierend) einzubringen.

Heute sind ehemals sozial Engagierte reif für Koalitionen mit der CDU, selbst Die Linke (Gysi: Pakt gegen die AfD). Widerlicher geht’s kaum. Warum nicht auch gegen Erdoğan? Warum diese Passivität noch gegen große Teile der veröffentlichten Meinung? Jedenfalls setzt sich Telepolis zufolge die Auffassung langsam durch, die Türkei befinde sich mit Erdoğan auf dem Weg in einen „islamischen Faschismus“ ( Artikel b. TELEPOLIS von R.S.).
 

Frau Merkel hat, wie sie im Ukraine-Konflikt schon zeigte, mit Faschisten ganz offensichtlich keine Probleme, meines Erachtens wie Sloterdijk ein ganz massives Gewaltproblem. Deshalb wohl auch keine Probleme, mit einer Änderung des GG den Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu ermöglichen ( DWN-Artikel). Sie meint, man könne mit einem politischen Gewalttäter wie Erdoğan ein Flüchtlings-Abkommen vereinbaren und erwarten, dass er dieses einhält. Dass dem so ist, glauben nur die wenigsten Bürger. Tatsächlich kann man kaum einfältig genug sein, um sich nicht die Augen zu reiben und zu fragen, wie es angehen kann, einer Bundeskanzlerin mit dem Wahlzettel so lange die Stange gehalten zu haben.

Die Beliebtheit von Merkel bröckelt in der Tat ( Artikel b. RT-Deutsch). Heißt das, der Bürger wacht endlich auf? Das kann man vielleicht so sagen; nur ist das ohne Bedeutung oder bedeutet sogar wachsende Gewalt, wenn man es damit bewenden lässt; der Bürger hätte schon in der Ukraine-Krise und nach den Russland-Sanktionen aufwachen können. Ja und dann hat’s in der Tat nicht mehr gebracht außer Wut, Hass und AfD. Und das vermutlich nur, weil dem Bürger das Flüchtlingsproblem arg unter den Nägeln brennt, während die Ukraine zu weit weg war, um richtig aufzuwachen.

Nunmehr ist das Flüchtlingsproblem und der Deal mit Semi-Faschist Erdoğan zu nah; das kann der Bürger nicht mehr verdrängen, jetzt, wo immer mehr Flüchtlinge „überall herumlungern“, und er seinen Schrebergarten in Gefahr sieht. Derart ist der Bürger geradezu prädestiniert für die AfD, aber auch für die wolkigen Halbwahrheiten von Sloterdijk, dazu geeignet, einem offenen Faschismus auch in Deutschland den Weg zu ebnen.

 

Dem setzt der Bürger nichts entgegen. Vor allem weil sein Blick zu ängstlich nach innen gerichtet ist, und zwar schichtübergreifend (Sloterdijk eingeschlossen) darauf, wie er sich fühlt, auf eigene Bestandsregungen bzw. unmittelbare (Bestands-)Interessen fixiert. Sind diese bedroht, wacht er – natürlich – auf. Allein das reicht nicht für eine umfassendere Analyse, die mehr als nur das unmittelbare (Tatsachen-)Interesse berücksichtigen muss, nicht zuletzt um Gefühle im analytischen Kontext zu kontrollieren, z.B. Wut, Hass und Gewaltausbrüche zu verhindern.

Der Bürger sieht im Einklang mit Sloterdijk – für mich in Anlehnung an den Marxschen Begriff „Lumpenproletariat“ ein intellektueller Lumpenproletarier – nicht, dass der Erdoğan-Deal und das Flüchtlingsproblem nicht vom Himmel fallen, vielmehr eine Vorgeschichte haben, die sich über Jahrzehnte aufgebaut hat. Bezieht man diese ein, verbietet sich jede Härte. Auf diese bleibt man, auch der sozial Engagierte, fixiert (siehe Fischer, Kretschmann, Grüne und Linke ganz generell), solange der Kapitalismus nicht umfassend in die Kritik gerät. Selbst bei Rudi Dutschke geriet er nicht zureichend in die Kritik. Sein Spruch „Marsch durch die Institutionen“ deutet darauf hin. Er zeigt an, dass er nicht in der Lage war, konsequent das „Ganze als das Unwahre" (Adorno) zu kritisieren.

Dieses Ganze darf und sollte zur Disposition stehen, nicht der Bürger und auch nicht das Leben der Flüchtlinge, die gerade wieder massenhaft im Mittelmeer absaufen. Man lässt es zu. Etwa um sie abzuschrecken? Eine Härte, und das verkennen sozial Engagierte, die der Kapitalismus braucht, um davon abzulenken, dass er, ganzheitlich betrachtet, das Problem darstellt. Allein der Bürger ist – wie Sloterdijk – weit entfernt zu wissen, dass er in einer solchen Gesellschaft lebt, nämlich in einer, die u.a. Kriege, Flüchtlinge und ein – selbst in den Augen einfältiger Bürger vollkommen absurdes – Flüchtlings-Abkommen mit einer Islam-faschistischen Türkei produziert.
 

Bürger verkennen schichtübergreifend, dass der Kapitalismus ihre Verelendung braucht und es viele Wege gibt, diese „Härte“, wenn's sein muss, auch „knall“-hart durchzusetzen, u.a. mit Hilfe von Kriegen, die, wie sollten sie nicht, Europa immer mehr auf die Pelle rücken, u.a. weil sie – im Vorfeld bürgerkriegsähnlicher Zustände – Massen von Flüchtlingen produzieren, die vermutlich über kurz oder lang aus anderen Gründen nicht mehr abreißen werden – z.B. weil die wirtschaftliche Not wächst.

Die Wirtschaft will die Flüchtlinge, wenn auch zum Leidwesen der Wirtschaft nicht gänzlich im Einklang mit der veröffentlichten Meinung; u.a. weil sie schon jetzt extrem fühlbare Wohnungs- und Arbeitsplatzknappheit erzeugen, Löhne drücken, den Wert der Immobilien hochschnellen lassen; da kam der Wirtschaft der Gefühls-Rausch von Frau Merkel gerade recht, als sie ein weinendes Flüchtlingsmädchen aus einem unwiderstehlichen Impuls heraus streichelte ( siehe SZ-Artikel).

Frau Merkel weiß vermutlich nicht, dass ihre Gefühle hier im Sinne herrschender Wirtschaftsinteressen instrumentalisiert werden. Sie spürt ihr Gefühl und lebt es aus, indem sie es nicht nur in eine Lösung für das weinende Flüchtlingsmädchen projiziert, sondern auf alle Flüchtlinge zusammengenommen überträgt. Auf diese Weise spuken ohne jede umfassende Analyse umfassende Lösungen allein in ihrer Fantasie herum, die es im herrschenden Wirtschaftssystem, es sei denn auf Kosten von immer mehr Bürgern (wachsende Verelendung), gar nicht geben kann. Dagegen wehren sich die Bürger – indes mit unlauteren Mitteln, indem sie ihre Wut ungebremst an Armen und Flüchtlingen abreagieren. So lernen sie es von Kindes Beinen an, d.h. der Bürger mag aufwachen, freilich ohne dass – im Kontext wachsender Wut, blinden Hasses und bloßer Abreaktionen – seine analytischen Fähigkeiten sich merklich entwickeln.
 

Wut und Hass sind Ausdruck von Ohnmacht(sgefühlen), unvereinbar mit der Entwicklung analytischer Fähigkeiten. Dort, wo der Bürger ganz realistisch spürt, dass die Politik nicht ansprechbar ist, verfällt er entweder in Depressionen und Rückzug (Gewalt nach innen) oder eben in wachsenden Hass auf alles, was sich seinen unmittelbaren Interessen in den Weg stellt. So wie 1844 im Schlesischen Weber-Aufstand das Lumpenproletariat kleiner Heimwerkstätten gegen das Proletariat der großer Industrie.

Übrigens, wird man vielleicht einwenden, so wie ich schreibe und mich ausdrücke, zuweilen ehrverletzend kritisch, mache ich nicht weniger den Eindruck unbändiger Wut. Dazu möchte ich das folgende einwenden: (positive) Gefühle der Hoffnung und (negative) Gefühle der Enttäuschung sind nicht nur legitim, sondern unvermeidlich; nur dürfen sie nicht in besinnungslose Wut oder Hass übergehen.

Das wäre unvereinbar mit Lebensfreude und dem Bedürfnis, soziale Bindungen einzugehen, zu entwickeln; das geht unter der Voraussetzung, wenn Gefühle kontrollierbar bleiben: weder allzu sehr und schon gar nicht nachhaltig nach oben oder nach unten ausbrechen oder – noch schlimmer – abgetrieben oder abgespalten werden. Nur dann bleibt der Blick auf soziale Strukturen frei, um sie analysieren zu können, wenn auch nie uneingeschränkt oder absolut, aber doch so, dass man in der Lage ist, sich um die Sichtweisen anderer Menschen zu bemühen, zu wissen, dass es sie gibt.

Das erfordert Respekt. Dieser gilt dem Wutbürger, AfD-Wähler, AfD-Politiker und Frau Merkel, ja sogar dem Straftäter. Freilich unter der Bedingung, dass sich Frau Merkel sagen lässt, dass man sie zwar nicht besinnungslos, aber doch aus guten Gründen für eine dumme Nuss halten könnte. Da sie das als „bewusst ehrverletzend“ empfindet, wird es eine produktive Verbindung zu ihr sehr wahrscheinlich nie geben.

Frau Merkel glaubt nämlich, dass sie sich vor Erdoğan verbeugen, sich im vorauseilenden Gehorsam für unsere Sicht auf die Welt entschuldigen muss: Herr Böhmermann habe „bewusst verletzen“ wollen. Offensichtlich findet sie es in Ordnung, wenn es irgendwann keine Satiren mehr gibt, die dem Gemüt ein wenig Entlastung verschaffen, gleichwohl vollkommen harmlos und tatsächlich keineswegs „ehrverletzend“ sind (siehe Videobeitrag!). Es sei denn im Hinblick auf empfindliche (ausländische) Politiker, für die „Ehre“ ein politischer Begriff ist, die der Meinung sind, dass die Familie dem gesellschaftlichen Kontext die Form vorgeben müsse (Erdoğan als Oberhaupt), was darauf hinausläuft, den gesellschaftlichen Kontext auf ein Gefühl (Ehre) zu reduzieren. Das macht politische Debatten unerträglich, auch für den Bürger, ohne dass dieser schichtübergreifend begreift, warum dem so ist.


Der Bürger begreift nicht, dass in Debatten (Gefühls-) Verletzungen nicht ausbleiben, wenn es in ihnen denn um „etwas“ gehen soll, sie also nicht substanzlos oder belanglos sein sollen. Dass sie es sind, spüren die Bürger, nur eben Frau Merkel, unsere FDJ-Drohne, nicht (deshalb ist sie eine dumme Nuss), was nicht bedeutet, dass man mit dem Gespür, einem bloßen Gefühl, schon begreift, um was es geht bzw. den sozialen Sachverhalt, auf den das Gefühl (um real zu sein) verweist, hinreichend zu analysieren vermag.

Ich verwende das Wort „FDJ-Drohne“ geschäftsmäßig, ohne gesteigerte Wut, weil ich meine, dass Frau Merkels Haltung zumindest teilweise als mentale Hypothek ihrer DDR-Vergangenheit darstellbar ist. Sie ist (mental) „krank“ mit ihrer an Selbstaufgabe grenzenden Fähigkeit, sich wohl zu verhalten, damals in der DDR gut begründbar, indes sie heute, übrigens ganz ähnlich wie Gysi, vollkommen autistisch, unfähig zu sein scheint, überkommene Verhaltensmuster abzustreifen, veränderte soziale Bedingungen, also Fremdes, ihrem Leben zu assimilieren, etwas, was uns zur lebenslangen Aufgabe auferlegt ist, um die Orientierung in einer sich wandelnden Welt nicht ganz zu verlieren.

Das Fremde dem eigenen Leben zu assimilieren, heißt nicht nur Respekt dem Flüchtling gegenüber, aber eben auch dem Flüchtling gegenüber, selbst Obama gegenüber, auch wenn man ihn für einen Mörder halten kann, weil er mutmaßliche Terroristen über ferngesteuerte Drohnen am Rechtsstaat vorbei liquidieren lässt.
 

Nun und Frau Merkel sieht einfach nicht, was sie mit ihrer Anpassungsbereitschaft anrichtet, dafür umso mehr, was andere, die nicht so ticken wie sie, anrichten. Vermutlich denkt sie, sie würden den Flüchtlingsdeal mit der Türkei gefährden, was in ihren Augen der Fall ist, wenn er tatsächlich scheitert und die EU damit vor eine Zerreißprobe stellen würde. Geht alles irgendwie noch einmal gut, schreibt man es ihrer politischen Intelligenz zu und verkennt, dass es vielleicht nur trotz und nicht wegen Frau Merkel noch einmal gut gegangen ist. Wie sagte Ex-Kanzler Schröder noch gleich vor ihrem Amtsantritt als Bundeskanzlerin? Ach ja, sie kann es nicht. Er aber auch nicht.

Herzliche Grüße

Franz Witsch
www.film-und-politik.de
 



 Jedenfalls habe ich um dieses und andere Probleme herum einiges in meinen Büchern geschrieben, welche hier im Kritischen Netzwerk bereits ausführlich vorgestellt wurden und über mich bezogen werden können - weiter. Nachfolgend eine kurze Zusammenfassung:

Die Politisierung des Bürgers, 1.Teil: Zum Begriff der Teilhabe

'Die Politisierung des Bürgers' ist bemüht, dem Paradoxon einer Entpolitisierung bei um sich greifender Armut auf die Spur zu kommen, indem sie einmal mehr das Subjekt, resp. den einzelnen Bürger ins Zentrum des Interesses rückt, ohne ihn - wie traditionell üblich - auf einen Sockel zu heben. Dort ist er nicht als ein der Analyse zugänglicher sozialer Sachverhalt begreifbar. An einer zureichenden Analyse ist die herrschende Politik freilich nicht interessiert, gedeiht diese doch als Geschäft am besten auf dem Rücken eines entpolitisierten Bürgers.

Verlag: Books On Demand (Januar 2009) - ISBN 978-3-8370-4369-3

Die Politisierung des Bürgers, 2.Teil: Mehrwert und Moral

Der zweite Teil führt den ersten weiter im Bemühen, das Verhältnis von Moral und Ökonomie zu entziffern - zumal im Kontext einer Theorie der Gefühle, ist jenes Verhältnis doch hochgradig emotional besetzt. Indes liegt es im Kapitalismus im Mehrwertzwang verborgen; dieser treibt das Subjekt in die Atomisierung, der es mit Gefühlen auf Gegenstände der Verheißung zu entrinnen sucht. Dieser einer Analyse zugängliche Sachverhalt findet in der veröffentlichten Meinung wie in der Sozialtheorie keine zureichende Würdigung. Sie wäre aber die wesentliche Voraussetzung einer wirksamen antikapitalistischen Politik, die auf die Abschaffung des Kapitalismus zielen muss und nicht, wie von Keynesianern und der PDL betrieben, auf seine Fortführung im veränderten Gewand; was die Zerstörung überlebenswichtiger sozialer wie ökonomischer Strukturen zusätzlich beschleunigt.

Verlag: Books On Demand (Dezember 2012) - ISBN-13: 978-3-8482-5273-2

Die Politisierung des Bürgers, 3.Teil: Vom Gefühl zur Moral

Die beschleunigte Zerstörung ökonomischer wie sozialer Strukturen liegt, wie im zweiten Teil untersucht, in der wachsenden Unfähigkeit des Subjekts, Mehrwert zu erzeugen, begründet, die wiederum seine emotionalen und moralischen Fähigkeiten begrenzt. Der dritte Teil bemüht sich um die Folgen: die emotional-moralischen Modalitäten der Zerstörung. In diesen ist das Subjekt gehalten, Zerstörungen aktiv zu begleiten, mehr noch, zu exekutieren in Anlehnung eines sozialen Sachverhalts, den Hannah Arendt die Banalität des Bösen genannt hat: Das Subjekt fühlt sich unbeteiligt, gar unschuldig, zurecht, denn es gibt einen Weg vom Gefühl zur Moral, den zu beschreiten das Gefühl nicht umhinkommt. Allerdings ist die moralische Verantwortung des Subjekts in dem Maße rekonstruierbar wie es im Kontext seiner (Re-)Sozialisierung gelingt, die Moral der heutigen Gesellschaft im Innenleben als krank freizulegen.

Verlag: Books On Demand (Februar 2013) - ISBN-13: 978-3-8482-5231-2

Die Politisierung des Bürgers, 4.Teil: Theorie der Gefühle

Nachdem es im dritten Teil um die emotional-moralischen Modalitäten der Zerstörung sozialer Strukturen sowie um die psychosozialen Bedingungen einer Rekonstruktion der moralischen Verantwortung des Subjekts ging, ist der vierte Teil bemüht zu zeigen, dass und auf welche Weise Gefühle eine tragende Rolle im Hinblick auf eine sozialverträgliche Ausbildung sozialer wie ökonomischer Strukturen spielen; sie spielen genau dann eine tragende Rolle, wenn es dem Subjekt (1.) gelingt, Gefühle als Ressourcen der Verständigung zu begreifen, wenn (2.) die Externalisierung des Gefühls nicht nachhaltig scheitert: der externe Objektbezug des Gefühls gewahrt bleibt, wenn (3.) negative Gefühle nicht ausgegrenzt werden aus Verständigungsbemühungen, und wenn (4.) - bezugnehmend auf den zweiten Teil - die Mehrwertfähigkeit des Subjekts nicht mehr als das entscheidende Kriterium seiner sozialen Existenz gilt.

Verlag: Books On Demand (Juli 2013) - ISBN-13: 978-3-7322-4461-4

     


 

► Bild- und Grafikquellen:

1. Kanzlerin Merkel hat den Weg für ein Strafgerichts-Verfahren gegen ZDF-Satiriker Jan Böhmermann freigemacht. Grafik: Wilfried Kahrs (WiKa) / QPress.de

2. DEUTSCHES RECHT WIE TAG UND NACHT. Grafik/Foto: Didi01 / pixelio.de.

3. Denk mal nach ... solange es noch legal ist. Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs (WiKa) / QPress.de .

4. Deutsch-türkische Beziehung: Mittlerweile ist unstrittig, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan regelrecht erniedrigt. Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs (WiKa) / QPress.de .

5. AfD - Alternativlos für Deutschland? Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs (WiKa) / QPress.de .

6. Flüchtlingsdeal mit der Türkei: Was zählen schon Asylrecht, Menschenrechte und Genfer Flüchtlingskonvention? Aus REFUGEES WELCOME wird REFUGEES GOODBYE. Das lässt man sich dann gerne ein paar Milliarden Euro kosten. Grafik: Wilfried Kahrs / QPress.de .

7. Shakehands & ein absurder, menschenfeindlicher Flüchtlingsdeal mit der Türkei, obwohl diese den sogenannten Islamischen Staat / Daesch unterstützt. Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs (WiKa) / QPress.de .


Bericht des russischen Geheimdienstes - Teil I. (datiert vom 10. Februar 2016)

Rekrutierung von ausländischen Terroristen Kämpfern für Syrien, Erleichterung ihrer grenzüberschreitenden Bewegung in dieses Land und Lieferung von Waffen an terroristische Gruppen, die in seinem Hoheitsgebiet operieren
bitte bei Voltairnet.org weiterlesen.

Bericht des russischen Geheimdienstes - Teil II. (datiert vom 18. März 2016)

Lieferungen von Waffen und Munition aus der Türkei in das von Daesh kontrollierte syrische Staatsgebiet
bitte bei Voltairnet.org weiterlesen.
 

8. Pippi Angela Merkel: "Ich mach` mir die Welt . . . widdewiddewitt . . . wie sie euch nicht gefällt!"Grafik: Wilfried Kahrs / QPress.de .

9. Grafik: "VERNUNFT und LOGIK haben uns von jeher allen möglichen Abgründen näher gebracht: Neid, Gier, Konkurrenz, Intoleranz und Krieg, . ." Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.

10. OBAMA 2012 Kampagnen-Slogan: FORWARD. Foto: Image by Twitter buddy JK Anaracho. Von Jayel Aheram auf Flickr. gesetzt. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0).

11. - 14. Buchcover Band I - IV: "Die Politisierung des Bürgers - Beiträge zur Wahrnehmung und Produktion sozialer Strukturen"; Autor: Franz Witsch, Hamburg

15. Texttafel HÄNDLERS DES TODES - Rüstungsexporteure und Waffenlieferanten: DIEHL, EADS, HECKLER & KOCH,  KRAUSS MAFFEI-WEGMANN, MAN, RHEINMETALL, SIEMENS, THYSSEN KRUPP. Grafik: Wolfgang Blaschka (WOB), München.