Der Kleister des Terrors. Gauck: Wir alle sind Deutschland!

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Ulrich Gellermann
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Verbunden: 22.03.2013 - 15:43
Der Kleister des Terrors. Gauck: Wir alle sind Deutschland!
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Der Kleister des Terrors

Gauck: Wir alle sind Deutschland!

Einige Tausend Menschen waren dem Aufruf des "Zentralrates der Muslime in Deutschland e.V." und des "Türkischen Gemeinde zu Berlin e.V." zur Mahnwache für ein „Weltoffenes und tolerantes Deutschland und für Meinungs- und Religionsfreiheit" zum Brandenburger Tor gefolgt. Diese Reaktion auf die Terroranschläge in Paris war auch eine Antwort auf die dumpfen Demonstrationen für Fremdenfeindlichkeit in Dresden und anderen deutschen Städten. Dass man in dieser Situation von den Vertretern der Muslime kein Wort der Klage über die Lage der Migranten in Deutschland hören konnte, ist verständlich: Das Menetekel von Paris sieht die Muslime in Europa mit dem Rücken an der Wand. Nur zu gern hörten sie deshalb den Phrasendrescher der Nation, Joachim Gauck, diese schlichte Lüge sagen: "Wir alle sind Deutschland!"

Wenn Du Hakan heisst und einen Job suchst, kannst Du schnell erfahren, dass Du nicht Deutschland bist. Denn den Job hat bereits Tim: Das erzählt eine Studie des "Sachverständigenrates für Integration und Migration" (SVR). Denn wer einen "rein" deutschen Namen hat wird bei der Job-Vergabe bevorzugt. Mehr als ein Drittel der Arbeitslosen in Deutschland hat ausländische Wurzeln, drei Viertel davon erhalten Hartz IV. Der Anteil der Menschen mit Wurzeln im Ausland liegt aber nur bei 20 Prozent. Zwei Drittel von ihnen haben keinen formalen Berufsabschluss. Wer angesichts der sozialen Diskriminierung nur über Religion und Freiheit schwätzt, der nutzt die Anschläge in Paris als Kleister für eine Gesellschaft, die natürlich Unten und Oben kennt. Und unten sind mehrheitlich die Zugewanderten und ihre Kinder.

"Hunderte junger Männer aus Deutschland haben sich sogar dazu verleiten lassen, in einem fremden Land gegen unschuldige Menschen in den Krieg zu ziehen", fällt dem Gauck ein und keiner wagt öffentlich in ein bitteres Gelächter auszubrechen. Wie viele junge deutsche Soldaten waren und sind in Afghanistan? Wer hat sie verleitet in einem fremden Land Krieg zu führen? Solche, die von der "gewachsenen deutschen Verantwortung" faseln und Auslandseinsätze meinen. Wie viele französische Soldaten haben am Himmel über Libyen einen gnadenlosen Bombenkrieg geführt und jede Menge unschuldige Menschen vom Leben zum Tod befördert? Dem französischen Präsident Nicolas Sarkozy lagen damals, nicht lange vor den nächsten französischen Präsidentenwahlen, schlechte Umfragewerte vor. Und erfolgreiche Kriege bessern traditionell die Werte der Amtsinhaber. Doch außer 50.000 Toten und einem kaputten Land konnte der Krieg keine "Erfolge" vorweisen.

"Die offene Gesellschaft" erzählte der Bundespräsident am Brandenburger Tor, "bezieht ihre Stärke gerade auch aus ihren Unterschieden." Die Brüder Chérif und Saïd Kouachi, die Attentäter gegen "Charlie Hebdo", waren Kinder algerischer Migranten. Chérif Kouachi wurde 2005 verhaftet. Die Fahnder, die ihn im Verdacht hatten, zur Terrorszene zu gehören, fanden bei ihm damals auch die Gebrauchsanweisung für eine Kalaschnikow. 2008 wurde Chérif Kouachi deshalb zu drei Jahren Haft verurteilt, davon 18 Monate auf Bewährung. Die Brüder wuchsen im verkommenen Teil des 10. Pariser Arrondissements auf. Cherif Kouachi lebte eine Zeit lang im Pariser Vorort Gennevilliers. Einer jener brutalen Orte der Pariser Banlieue, mit grauen, gesichtslosen Beton-Gebirgen, in denen die Armen in Wohnkäfigen gehalten werden.
 

Diese Gesellschaft ist nicht offen. Nicht in Paris und nicht in Berlin. Im Jahr 2005 zeigten die Krawalle in den französischen Vorstädten wie stark die sozialen Unterschiede das Leben bestimmen: In mehr als 300 Kommunen gingen Hunderte Autos in Flammen auf, unzählige Schaufensterscheiben gingen zu Bruch, ganze Geschäftszeilen wurden geplündert. Mit den Krawallen wurde uns die Wahrheit über den "Unterschied" erzählt: Die kapitalistische Gesellschaft ist nach oben geschlossen, nach unten offen ist die Skala der Armut und jener Ohnmacht, die Gewalt erzeugt.
 

"Entscheidend sind nicht Herkunft, Hautfarbe oder Glaube. Die Freiheit, das Recht auf Leben, die Menschenrechte, sie gehören jedem Menschen." Wie schwere Lügenknüppel schlugen die Worte des Bundespräsidenten auf die Köpfe der Menschen vor dem Brandenburger Tor. Von der Reisefreiheit bis zur Meinungsfreiheit: Wie frei ein Mensch ist, entscheidet sich auf seinem Konto. Hat er Geld, kann er reisen. Hat er viel Geld, kann er seine Meinung verbreiten lassen. Rund 60 Prozent der Insassen der französischen Gefängnisse sind muslimischen Glaubens. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt unter 10 Prozent. Sieht so Menschenrecht aus?

Die sozialen Verhältnisse entschuldigen keinen Mord. Aber sie erklären, wie die Gewalt der Diskriminierung Gewalt erzeugt. Wer wie Gauck die Furcht vor dem Terror als Kleister benutzt, um die auseinanderdriftende Gesellschaft zusammenzuhalten, der verhindert die Ursachen zu erkennen. Der macht sich mitschuldig. Und wenn der "Deutschland" ist, dann gnade Deutschland Gott.

Ulrich Gellermann, Berlin



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► Bild- und Grafikquellen:

1. Joachim Gauck - vom Militärpfarrer zum Bundespräsident. Fotomontage: dwarslöper. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Attribution-NonCommercial-ShareAlike 2.0 Generic (CC BY-NC-SA 2.0)

2. Der französische Ausdruck Banlieue bezeichnet die verstädterten Bereiche außerhalb eines Stadtzentrums bzw. die Randzone einer Großstadt, die sich im 19. Jahrhundert im Zuge von Industrialisierung wie Urbanisierung (Stadtrandwanderung von Industriebetrieben und industrieabhängiger Bevölkerung) herausbildeten bzw. herausbildete. Primär wird der Begriff in Frankreich bzw. das französische Städtesystem betreffend verwendet. Gleichermaßen wird „Banlieue“ als Synonym für die einzelne Vorstadt bzw. für die Vorstädte („banlieues“) innerhalb dieser Randzone gebraucht.

Bei den gewalttätigen Unruhen in Frankreich im Oktober und November 2005 handelte es sich um eine Serie von zunächst unorganisierten Sachbeschädigungen und Brandstiftungen sowie gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei in der so genannten Banlieue des Großraums Paris, die am Donnerstag, dem 27. Oktober 2005, nach dem Unfalltod zweier Jugendlicher begannen. Zunächst beschränkten sich die Ausschreitungen auf den Heimatort der Jugendlichen, den Pariser Vorort Clichy-sous-Bois. Im Laufe der folgenden Tage weiteten sich die Unruhen zunächst auf Départements des Pariser Umlands wie Seine-et-Marne oder Val-d’Oise, später auch auf andere französische Städte wie Lille, Rouen, Rennes, Dijon, Toulouse und Marseille aus. Alleine am Abend des 3. November wurden 500 Autos und mehrere Häuser in Aulnay-sous-Bois, Neuilly-sur-Marne, Le Blanc-Mesnil sowie im Département Yvelines in Brand gesteckt. (Text: Wikipedia)

Foto: David.Monniaux. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter den Creative-Commons-Lizenzen „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“, „2.5 generisch“, „2.0 generisch“ und „1.0 generisch“ lizenziert.

3. Unruhen in den grauen Vororten (banlieus) französischer Großstädte wie Paris, Lyon, Straßburg, Marseille etc. Hunderte von Autos, Busse und öffentliche Gebäude wurden 2005 von rebellierenden, verarmten und sozial ausgegrenzten Menschen in Brand gesetzt. Fotokollage: J.P. Quelle: Wikimedia Commons. Verbreitung: Public Domain / Gemeinfrei!

Foto auf der Startseite: Brandanschlag in Straßburg - auch hier wüteten aufgebrachte Menschen gegen die Staatsmacht und die menschenfeindliche Politik. Foto: Francois Schnell from Strasbourg, France. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 2.0 generisch“ (US-amerikanisch) lizenziert.