„Der Mensch ist Mittel. Punkt.“ Nachruf auf Dieter Hildebrandt

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„Der Mensch ist Mittel. Punkt.“ Nachruf auf Dieter Hildebrandt
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„Der Mensch ist Mittel. Punkt.“ Nachruf auf Dieter Hildebrandt


„Der Mensch ist Mittel. Punkt.“

Dieter Hildebrandt hat sich für immer in die ewigen Jagdgründe verabschiedet.

Was soll man dazu sagen?

Sein störsender.tv-Team, das er vor kurzem mit ins Leben gerufen hatte, sieht die Sache mit schwarzem Humor und titelt: „Spiel, Satz und Sieg“. Wir stimmen dem nur bedingt zu, und auch Hildebrandt selber hätte das Wort ,Sieg‘ bestimmt nicht benutzt. Wenn der zweitgrößte Kabarettist der Nachkriegszeit – Nr. 1 bleibt Wolfgang Neuss – etwas verabscheut hat, dann war es Krieg. Und Krieg wird immer geführt, um zu siegen. Oder präziser: Um zu besiegen.

Besiegt wird immer ein anderer Mensch. Oder auch hier präziser – denn Hildebrandt war Mr. Präzision: Besiegt werden mindestens zwei Menschen. Auch der, der offiziell gesiegt hat, ist danach nicht mehr der selbe. Er zahlt einen hohen Preis. Er ist irreparabel verroht und wird so zum Problem für alle übrig gebliebenen. Sogar die eigenen Leute.

Krieg macht immer beide Seiten kaputt.

„Alles was Krieg kann, kann Frieden besser“. Das ist ein Satz, den Dieter Hildebrandt sofort unterschrieben hätte. Ihm ging es ja sein Leben lang um ein Aufstehen gegen Ungerechtigkeit. Widerstand gegen Willkür.

Dieter Hildebrandt hat das nur immer sehr witzig und pointiert verpackt. So, dass der Zuschauer noch darüber lachen konnte. Warum? Weil Hildebrandt genau wie Stéphane Hessel oder Jean Ziegler wusste, dass man die schon ziemlich lange anhaltenden Verhältnisse nur mit Humor ertragen kann, um parallel und permanent gegen sie anzuschreiben.

Hildebrandt war ein Schreibtischtäter, in Kombination mit einer Rampensau. Er hat nie die Schnauze gehalten, und ist immer dahin gegangen, wo es weh tut. Was ihm und seinem Team bei störsender.tv nicht wirklich gelungen ist, ist der Sprung über die Klippe der übernächsten Generation. störsender.tv sprach Menschen an, die schon wussten. Aufgeklärte Menschen. Fans von Hildebrandt und die Kabarettisten-Generation. Dieser Effekt ist normal, und nur sehr sehr wenigen politischen Köpfen gelingt es, diese Klippe zu überwinden. Spontan kommt da Stéphane Hessel in den Sinn. Sein Buch „Empört Euch“ verkaufte sich rund eine Million Mal. Vor allem an eine junge Generation wütender Franzosen.


Wie gehen wir, die Zurückgebliebenen, jetzt mit dem Tod von Dieter Hildebrandt um?

Trauer?    Resignation?    Frust?


Alles eben nicht. Hildebrandt war über 80. Er war lange schwer krank und erlag einem Krebsleiden. Was wir jetzt tun sollten, ist, uns darüber klar zu werden, dass der Stab der politischen Verantwortung jetzt vor unseren Füßen liegt und von uns aufgenommen werden sollte, wenn wir das nicht sowieso schon getan haben. Jetzt stehen wir in der Verantwortung, diese Welt fairer zu gestalten. Die menschenfeindliche Weltordnung, den Kapitalismus, wie wir ihn heute ertragen müssen, zu ersetzen. Nicht durch ein neues „System“, sondern durch ein uns völlig neues, und damit in Wahrheit uraltes Menschenbild. Die Rückkehr des Humanismus ist unsere zentrale Aufgabe, und diese Aufgabe können wir nur lösen, wenn wir das, was der große Soziologe Arno Gruen den „Verlust des Mitgefühls“ nennt, rückgängig machen.

Dieter HildebrandtWir müssen unsere Gleichgültigkeit aufgeben. Auf allen Gebieten. Fast alle von uns leben nach dem Credo „Halt dich raus, dann kommst du in nichts hinein.“ Eine sehr sehr naive Einstellung. Wir können absolut nachvollziehen, dass sich unmittelbare Optionen anbieten und auch genutzt werden, wenn man sich heute ansieht, wie wenige Global Player das Spiel machen und gewinnen, während die Rest-Menschheit auf der Strecke bleibt. Entweder man greift zu Drogen, wobei Koma-Shoppen die am besten getarnteste darstellt, oder man schließt sich einer terroristischen Vereinigung an, radikalisiert und isoliert sich also, wobei ein kompletter Rückzug in a-soziale Netzwerke als eine Art Vorstufe fungieren kann – nicht muss.

So oder so hat man wenig erreicht, und dabei liegt der Schlüssel in unser aller Händen. Wir leben in einer ICH-Gesellschaft. Diese iGesellschaft verkauft uns, dass die Selbstverwirklichung das Allergrößte sei. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Als Solist. Jedes Kind weiß, dass nur dann einer extrem viel haben kann, wenn die große Masse im Gegenzug am Hungertuch nagen muss. Reichtum ist immer auch ein Weg aus der Machtlosigkeit. Das macht Reichtum für viele so attraktiv.

Nur ist der Einzelne eben gar nicht machtlos. Im Gegenteil. Alles, was die Ichlinge der Ich-Gesellschaft erkennen müssen und auch könnten, wenn sie es mal versuchen würden, ist, dass alle ICHs zusammen ein gigantisches WIR ergeben. WIR sind 99%! Warum ist es UNS, den 99%, bisher nicht gelungen, UNSEREN Planeten endlich zu einem Ort zu machen, an dem Globalität sich nicht auf die Verfügbarkeit von Wirtschaftsgütern einiger weniger Hersteller bezieht, sondern auf ein globales Einstehen für Menschenwürde?

Was ist daran eigentlich so schwer zu verstehen? Und was ist daran so „unmöglich“, dass WIR es nicht endlich mal umsetzen wollen?!

Dieter Hildebrandt ist tot, aber die Aufgabe, die auch er Zeit seines Lebens sah, bleibt. Wir müssen alle Zusammenarbeiten, um den Egoismus zu überwinden. Hier liegt des Pudels Kern. Diese Generation, die Generation @, hat als erste überhaupt die Chance, sich, da global vernetzt, auch global zu solidarisieren.

LET‘S DO IT!

Unsere Zeit läuft nämlich ab, womit nicht gemeint ist, dass die NSA schon an einem neuen StaSi-Update bastelt. Das tut sie – aber das ist hier nicht gemeint. Der „moderne“ Mensch ist dabei, etwas zu schaffen, was vor ihm noch keiner anderen Spezies gelungen ist. Er schafft sich selber ab, indem er binnen 150 Jahren aus einem blauen Planeten einen Ort macht, an dem vor allem er selbst nicht mehr überleben kann. Es ist der größte Irrtum aller „Hochkulturen“, die bisher auf der Erde gelebt haben, zu glauben, dass SIE für immer überleben würden. Egal, wie sie sich verhalten. Diese Einschätzung über sich selber ist arrogant.

Arroganz ist die höchste Form der Dummheit.

Wenn wir etwas aus dem Leben Dieter Hildebrandts mitnehmen sollten, dann das:

GIB NIEMALS AUF!

Hildebrandt war keiner, der je klein beigegeben hätte. Er hat niemals die Segel gestrichen. Das ist seine wesentliche Botschaft an uns, die Zurückgebliebenen. Was uns Dieter Hildebrandt darüber hinaus klar machen sollte ist, dass guter Wille allein nicht reicht. Die Segel setzt man nicht mit Worten. Man muss auch seinen Hintern ins Rennen schicken. Die FORM des Protestes, des Widerstandes, ist heute ein wesentlicher Schlüssel zum Erfolg. Die Form kann nur formen, wenn DU deinen Protest umsetzt. Ihn auf die STRASSE trägst. Massenhaft.

Die, die Hildebrandt Zeit seines Lebens ansprach, waren kritische Geister. Schön.

  • Aber was waren sie noch?
  • Waren sie nur kritisch?
  • Oder waren sie auch persönlich aktiv?
  • Gingen sie persönlich ein Risiko ein?
  • Oder trafen sie sich, wie 99% der Besucher politischer Kabarett-Programme, um z.B. durch Hildebrandt, Hüsch, Pispers, Schramm, Pelzig, Tegtmeier oder Matthias Beltz nur unterhalten zu werden?

Was die meisten Kabarettisten ein ganzes Leben lang nicht schaffen ist, dem Publikum klar zu machen, dass die Missstände, die auf der Bühne zu Pointen verarbeitet werden, als Missstände nur existieren, da das Publikum vor Ort, meist Menschen mit besserem Einkommen, höherer Bildung und belesen, es zulässt. Der Feind, der auf der Bühne skizziert wird, findet seinen größten Unterstützer im Saal. Wer das als Kabarettist so offen ausspricht, spielt im Anschluss vor leerem Haus. Das unterscheidet Kabarettisten von Aktivisten.
 

Wenn DU also etwas aus dem Tod von Dieter Hildebrandt lernen willst, dann das: Warte nicht auf den nächsten Hildebrandt. Den nächsten Dutschke. Den nächsten Hessel, Sankara oder Ellsberg. Den nächsten Manning, Assange oder Snowden.


Was haben all diese Menschen gemeinsam? Sie haben, bevor sie in die Öffentlichkeit traten, keine Whistleblower-Schule besucht und keine Ausbildung zum Revoluzzer. Nein. Sie sind schlicht und einfach ihrem Gewissen gefolgt. Und der Rest ergab sich. Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben. Wenn du ein Leben lebst, dass dir nicht fair erscheint, dich täglich mit der Frage „Kommt da noch was?“ konfrontierst, dann mach einen simplen Schritt. Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben. Such dir eine solche Aufgabe. Werde Aktivist.

AKTIVIST, WER AKTIV IST.

Dieter Hildebrandt war, bei aller kabarettistischen Begabung, ein solcher Aktivist. Jetzt ist er tot. Aber bist du am Leben?

Der treffendste Satz, den Hildebrandt je um-formuliert hat, stammt von einer großen Volkspartei und wurde als deren Wahlbotschaft verkauft: „Der Mensch ist Mittelpunkt“, hieß es da. Dieter Hildebrandt erkannte in dieser Partei-Message einen kleinen Fehler. Er ergänzte den Claim durch einen PUNKT: „Der Mensch ist Mittel. Punkt.“ Das trifft auch nach Hildebrandts Tod weiterhin zu.

Ändere DU das.

Werde Aktivist!


Bildquellen:

1.  Dieter Hildebrandt: Programm: Nie wieder achtzig! Pressefoto von Daniel Schäfer, Quelle: Münchner Lach + Schiessgesellschaft

2.  Dieter Hildebrandt: Programm Ich kann doch auch nichts dafür, Staffel 1 023, Pressefoto der Münchner Lach + Schiessgesellschaft

3.  Hand: Wilfried Kahrs / QPress

Euer Ken Jebsen und das Team, Berlin

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Wolfgang Blaschka
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Verbunden: 09.11.2010 - 02:16
Der Beutebayer: Nachruf auf Dieter Hildebrandt

 

Der Beutebayer

Nachruf auf Dieter Hildebrandt

Das "Kontrollorgan" der Nachkriegs-BRD hat tatsächlich als Kartenabreißer beim Kabarett angefangen. Dort hatte er Erich Kästner erlebt und bewundert. Schon vorher hatte er studentisches Kabarett probiert, und noch davor in einer Spielschar der Hitler-Jugend reüssiert. Er hatte das Komische in der Tragik ausführlich studieren können, das Improvisieren von der Pieke auf gelernt. Der Krieg war sein strengster Lehrmeister. Ihn hat er mit Glück ausgetrickst. Am 8. Mai 1945 um 12.22 Uhr entstieg er wie Phoenix aus der Asche in Unterhosen der Elbe bei Torgau und ergab sich den Amerikanern. Nach kurzer Gefangenschaft fand er seine Eltern wieder, in Bayern, in Weiden in der Oberpfalz. Dort ergaunerte er sich das Abitur zwei Jahre früher mit der kecken Behauptung, er hätte im schlesischen Bunzlau schon zwei Klassen mehr auf dem Buckl gehabt.

Danach hielt ihn nichts mehr in der Provinz. Er ging nach München und wollte studieren, doch musste er Geld verdienen, und so wurde er, der verhinderte Schauspieler, Einlass-Kontrolleur. Aus dem kleinen Beutebayern wurde schließlich der legendäre "Kontrolleur" im Programm "Krisen-Slalom" 1964 der Lach- und Schieß, die er begründete, und darüber hinaus tatsächlich eine moralische Instanz des politischen Lebens im Nachkriegsdeutschland West. Nur einmal war ihm ein Auftritt in der DDR vergönnt, zusammen mit Werner Schneyder in der Pfeffermühle in Leipzig. Den nannte er den Höhepunkt seiner Karriere.

In der "Heimat" gilt der Prophet weniger, manchen sogar als suspekt, als Vaterlandsloser Geselle. Er hat auch gar nicht erst versucht bayerisch zu sprechen. Erst 1992 erhält er die Medaille "München leuchtet", da war er bundesweit längst eine Größe. Bis zuletzt geistig mobil. Noch in diesem Jahr ließ er sich auf die Neuen Medien ein und mischte beim "stoersender-tv" mit. Und plötzlich: München leuchtet nicht mehr, obwohl die Weihnachtsdekorationen seine Fußgängerzonen kampf-beleuchten. Wieder ein Licht weniger. Kein Witz: Es ist November, und Dieter Hildebrandt ist tot. Der Prostata-Krebs hat ihn übermannt.

Doch hat er gewonnen, rein sportlich gesiegt! Fast alle seine prominenten Gegner (die Fans, Kollegen und Freunde sowieso) überbieten sich in Nachrufen auf den wahlweise bedeutendsten, besten, größten Kabarettisten Deutschlands (damit meinen sie großflächig Westdeutschland, also nicht Westberlin mit Wolfgang Neuss), Bayerns (damit meinen sie tatsächlich Bayern, aber nicht Bayern München) oder eben Münchens. Wobei letztere nicht unrecht haben, denn München war sein Stammrevier, genauer gesagt die Münchner Lach- und Schieß-Gesellschaft. Dort wollte er sich im Dezember endgültig vom Brettl und von seinem Publikum verabschieden. Es gelang ihm nicht mehr. Der Krebs war schneller. Nur einen Tag vor seinem Tod hat er die Öffentlichkeit davon unterrichten lassen. Das nennt man pointierte Informationspolitik, just in time. Keinen Tag zu früh.

Genauso unvorhersehbar und überraschend waren seine sprachlichen Wendungen und Windungen, wenn er sich an seine pointenreichen Bonmots herandruckste, heranhaspelte, heranstotterte, als würde er den Text gerade erst entwickelt und im Moment seiner spontanen Entstehung eben gefunden haben, herausgekullert aus seinem fixen Hirnkastl. Es war nicht einmal Koketterie. Oft entstanden noch in den letzten Momenten vor einem Auftritt aktuelle Passagen, die er aus dem Stehgreif zusammenklaubte, weil sich etwas Neues ereignet hatte, oder weil er das Vorformulierte plötzlich veraltet fand. Er dachte in unglaublicher Geschwindigkeit die brillantesten Assoziationen herbei, ohne ein Plapperer zu sein. Dampfplauderer war er nie.
 
Er hatte einen Standpunkt, wo andere bestenfalls eine Meinung haben. Er dachte mit einem präzisen Sinn für's Timing auch mal in Elipsen, ließ abschweifende Gedankenfetzen weg, um gezielt auf den Punkt zu kommen. Wo immer das zu misslingen drohte, drehte er noch eine Ehrenrunde im Schweifen. Er war tatsächlich so etwas wie ein Komet. Seine Zähne blitzten mit der Brille um die Wette, wenn er zum Verbal-Florett ansetzte, wie beim Tennis, wenn es einen Ball zu erwischen galt, der "falsch hüpfte". Sein Kabarett war genauso sportlich wie er selbst. Er schlug immer fair, aber hart. Wenn er zustach, traf er ins Schwarze. Doch ja, er hat sie besiegt, die schwarzen, dunklen, finsteren Gegner. Nicht den Krebs, aber seine Widersacher. Nun beugen sie demütig ihr Haupt, kondolieren, laudatieren, verdrücken Krokodilstränen. An ihm kommen sie nicht vorbei. Sie müssen Abbitte leisten, in Sack und Asche gehen, Betroffenheit ausdrücken und tiefste Ergriffenheit simulieren. Schade, dass Dieter Hildebrandt das nun nicht mehr erleben kann. Er wäre zu Tränen gerührt und müsste gleichzeitig hellauf lachen.

Jahrzehntelang haben sie ihn geärgert, gepiesackt und getriezt, und wenn's hart auf hart kam, sogar zensiert. Der Bayerische Rundfunk unter Helmut Oeller hat sich nicht nur aus "Holocaust" ausgeklinkt, sondern auch rotzfrech eine "Scheibenwischer"-Sendung zum Rhein-Main-Donau-Kanal ausgeblendet. Da war der BR noch treudoof auf CSU-Linie, voll der Strauß-Funk. Die reinste Propaganda für rechte demokratische Gesinnung, aber eben auch für's Kabarett. Das hatten die Hirnis nicht bedacht: Zensur macht neugierig. Und der Rest der Republik wusste: Aha, es ist nicht alles Unrecht, was man den Bayern unterstellte. Die Schwärze des Schwarzen von Weißblau ist Black. Sinnfälliger konnte sich Konservatismus nicht selbst illustrieren denn als totalen Bildausfall. Natürlich wollen sie das heute nicht mehr wissen, doch es blakte zappenduster Anfang der Achtziger.

Das machte den schlesischen Bauernsohn nur noch wütender. Zur Höchstform lief er auf, als Kohl Kanzler wurde. Gegen die Sozialdemokratie hatte er eine gewisse Beißhemmung, weswegen das erste Lach- und Schieß-Ensemble 1972 aufhörte, da ihm Willy Brandt längst nicht so ergiebig zum Gespött gemacht zu werden schien. Lieber ließ er die Rechten sich selbst zum Gespött machen. Manche legten ihm das als SPD-Nähe aus. Doch er stand dazu, die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition nicht torpedieren zu wollen. Wie so viele seiner Generation war er nicht als Sozialist vom Himmel gefallen, auch wenn er später meinte, sein Gott sei ein solcher. Er war als Hitlerjunge aufgewachsen, in einer atheistischen Familie protestantisch sozialisiert. In Bunzlau, dem Inbegriff kleinstädtischer Miefigkeit. Wurde er von einem berufsvertriebenen Landsmannschaftler gefragt, ob er nicht zu seiner schlesischen, wenn auch verlorenen Heimat stehen wolle, so antwortete er Herbert Hupka, dem obersten Schlesier: "Ich bin da geboren. Aber was meinen Sie, was ich mit achtzehn, nach dem Abitur, gemacht hätte, wenn ich es in Bunzlau noch hätte machen können? Sofort wäre ich raus aus diesem kleinen Städtchen. Aber mit Sicherheit!"

Der Krieg holte ihn schon vorher von der Schule weg, als Lufthelfer, "weil sich die Luftwaffe nicht mehr selbst helfen konnte". Er sollte das Ruder noch einmal herumreißen. Ein ganzer Jahrgang stand zum Verheizen. Zu diesem Zweck wurde er sogar noch zur NSDAP "eingezogen". Als letztes Aufgebot, dem Führer zum Geburtstag geweiht, bekam er eine Mitgliedsnummer verpasst, die aber keine Unterschrift von ihm trug, denn er war gar nicht mehr da zur Feier, sondern im Krieg. Ein Nicht-Nazi in Abwesenheit sozusagen. Eine Karteileiche, die nie erbleichen konnte, es sei denn, die Tinte verblasste. Sie hielt sich aber. Ach, was hatten sich manche schon gefreut, als das aufkam: Hildebrandt, ein Nazi! Dabei war er "nur" Hitlerjunge und Soldat.

Das reichte, um ihn gegen den Krieg zu impfen, bis er Anfang der Fünfziger Jahre politisch zu denken begann. Seine Karriere wurde hinreichend beschrieben, seine obligatorischen Silvester-Sendungen "Schimpf vor Zwölf" waren Kult, selbst bei vielen Konservativen; und überhaupt wurde der "Scheibenwischer" zum Knaller, bis das ZDF geruhte ihm eine "Denkpause" zu verordnen. Stattdessen nahm er sich lebenslange Auszeit vom "Adenauer-Funk", jener Konkurrenzgründung zur angeblich "roten" ARD. Dann lieber "Notizen aus der Provinz", der er doch immer entfliehen wollte. Was weniger bekannt ist, dass Hildebrandt sich auch jenseits seines Metiers engagierte, gegen allerlei größenwahnsinnige Bauvorhaben wie Wackersdorf, aber vor allem in der Sozialpolitik. So trat er jahrelang kostenlos beim "Pflegestammtisch" im Stiglmairkeller auf, den Claus Fussek vom Verein Integrationsförderung (VIF) auf den Weg gebracht hatte, gegen Pflegenotstand und Heimskandale. Den Mitarbeitern und Helfern ließ er regelmäßig Ehrenkarten zukommen für nicht ausverkaufte Vorstellungen seiner Gastkünstler.

Nichts ist trauriger als ein halbleerer "Laden", oder ein vollbesetzter mit Zuschauer-Zombies. Einmal stand er vor einer Riege Herren in dunklen Anzügen, die keine Miene verzogen. Keinen Mucks taten sie. Da fragte er einen in der ersten Reihe: "Darf ich Sie mal antippen? Sie wirken wie ausgestopft". Der Lacher brach endlich das Eis. Hinterher zog er Sammy Drechsel zur Rechenschaft, der die komplette Vorstellung an den Vorstand einer Versicherungsgesellschaft verkauft hatte. Das gab Knies. Denn Kabarett lebt von der Interaktion mit dem Publikum. Zur Höchstform läuft es auf, wo es sich verstanden fühlt, wo es etwas bewegt, und nicht nur die Lachmuskeln, sondern auch etwas im Hirn. Da konnte der Dieter vor Freude über den gedanklichen Funkenflug glucksen, selbst im Fernsehen, das den intimen Rahmen der kleinen Bühne nur direkt ins Wohnzimmer reproduzierte. Ob solo oder im Ensemble. Es war immer ein geistreiches Vergnügen ihm beim Denken beizuwohnen.

Was war er denn nun?

  • ein Hofnarr des Politikbetriebs
  • ein Pointenjäger für's Bildungsbürgertum
  • ein Salon-Revoluzzer
  • ein SPD-Wahlkampfhelfer
  • ein Bürgerschreck für Konservative
  • das "Gewissen der Nation"
  • oder der "Spiegel der Gesellschaft"?

Alles zusammen wohl, und viel mehr noch: Ein Mensch, der durch und durch Humanist war, ihn nicht nur oberflächlich gab. Seine Überzeugungen waren geprägt von einer tiefen Abneigungen gegen alles Spießige, Verstaubte, Eingetrocknete. Sein Blick von außen auf jenes Bayern, in dem er groß wurde, dessen unverzichtbarer Bestandteil er geworden ist, ermöglichte ihm ebenso kritische Distanz wie hassliebenden Blick auf die Marotten, Hinterfotzigkeiten und Lebenslügen seines "zweiten" Wirkungsfelds und Lebenskreises, die er vielleicht als "Eingeborener" in dieser Brillanz nicht hätte entwickeln können.

Sein Changieren zwischen überlegener Weltläufigkeit und zorniger Betroffenheit über die Missstände, Abgründe und Skandale war das Produkt seiner Wanderschaft zwischen den Welten, seiner Hereinschmeckens, seiner Erkenntnis wohl, dass Bunzlau überall sein kann - und ist. Gegen städtischen Wohnungsleerstand schmiss er sich ins Affenkostüm, um zusammen mit der Künstlerinitiative "Goldgrund" praktisch zu demonstrieren, dass es nicht der Luxussanierung bedarf, Häuser zu renovieren.

Als "Zuag'roaster" sah er Bayern und schließlich die gesamte westdeutsche Nachkriegsrepublik in einer unbestechlichen Schärfe, welche die Dioptrienstärke seiner Brille um ein Mehrfaches überstieg. Analytisch, akribisch prägnant, wenn auch nie verbiestert, sondern sati(e)risch ironisch, gnadenlos sarkastisch in mitunter milder Strenge, doch immer mit jenem Quantum Wut im Bauch, das lebenslangen Kämpfern gegen Boshaftigkeit und Blödheit, Dummheit und Reaktion eigen ist. Er verstand sich dabei immer als Teil der Gesellschaft; nie stellte er sich außerhalb oder absichtlich ins Abseits. Wer wollte seine Umwelt denn schon groß verändern, die nicht seine ist? Mit Auswandern oder innerer Emigration ist es nicht getan, die Widersprüche bleiben. Die Zustände hinzunehmen wie sie waren, kam keinesfalls in Betracht. Nicht für ihn, den Wanderer zwischen den Provinzen. Bis zuletzt blieb sein Kalender, den seine Frau Renate Küster führte, voll von Auftritten, an die 200 pro Jahr. Und dann wunderte sie sich, dass er so selten zuhause in Waldperlach war. Zum Glück für alle, die ihn live erleben durften. In ihren Herzen dürfte er nun zeitlebens eine Heimat gefunden haben. Er hat sie nicht nur mit scharfsinnigen Sticheleien erobert, sondern mit seiner lebenszugewandten, so liebevoll wie leidensfähig zäh verteidigten Menschlichkeit. Als Rampensau ebenso wie als Aktivist gegen schreiendes Unrecht.

Wolfgang Blaschka, München



Anmerkung des Kritischen-Netzwerk-Admins H.S.:

Für die Genehmigung zur Veröffentlichung der drei hier gezeigten ausdrucksstarken schwarz/weiß Fotografien möchten wir uns ganz herzlich bei Herrn Paul Sessner bedanken. Herr Sessner ist einer der drei Geschäftsführer des im Jahre 1929 durch seinen Vater gegründeten Fotostudios Sessner mit Labor in 85221 Dachau, heute Foto Video Sessner GmbH.

Paul Sessner, selbst achtzigjährig, ist mit Dieter Hildebrandt seit den Fünfzigern sehr eng befreundet gewesen und bezeichnet Dieter als echten Freund. Deshalb auch an Sie – lieber Paul Sessner – unsere Anteilnahme am schmerzlichen Verlust Ihrer Freundes.

Trotz seiner 80 Jahre hat Paul Sessner die Fotografie nie aufgeben. Auch er besitzt jetzt eine digitale Spiegelreflexkamera. „Man muss eben mit der Zeit gehen“, sagt er lächelnd  in einem Interview mit merkur-online.de. Die Fotografie ist Sessners echte Leidenschaft. Diese Leidenschaft, verbunden mit Freude und Emotionen, spürte ich selbst in dem kurzen Telefonat, daß ich gestern mit Paul Sessner führen durfte. Auch so ein toller Mensch mit Herz am rechten Fleck – wie Dieter Hildebrandt. Solche Freunde sucht und findet man nicht auf Facebook, Twitter und Co., sie finden sich im Leben. Irgendwie. Nachhaltig. Bis in den Tod. Und darüber hinaus. Auf ewig.       

Herzlichen Dank auch an die superfreundlichen Mitarbeiterinnen Karin Schalk und Kathrin Speckardt für ihre Mithilfe. Ihr scheint Teil eines überaus kompetenten und herzlichen 16-köpfigen Teams zu sein und so erlaube ich mir, die Leser dieser Zeilen noch einmal explizit auf den Besuch der Webseite "Foto Video Sessner GmbH" hinzuweisen.

Hinweis: Auf dem 2. Foto ist Dieter Hildebrandt (rechts) mit dem Schauspieler und Kabarettist Hans Jürgen Diedrich (links) zu sehen. Diedrich war einer der Gründer der Münchner Lach- und Schießgesellschaft, der er nicht nur auf der Bühne, sondern auch als Textschreiber bis 1970 verbunden war.

Das Copyright der 3 Fotos verbleibt bei Paul Sessner.  

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Peter Weber
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Verbunden: 23.09.2010 - 20:09
Dieter Hildebrandt und das politische Kabarett

 

Dieter Hildebrandt und die erste Garde des deutschen politischen Kabaretts -

Eine Würdigung Dieter Hildebrandts und anderer Größen des deutschen politischen Kabaretts.

Ich werde die Würdigung Dieter Hildebrandts in anderer Weise angehen, als es andere – auch im Kritischen Netzwerk - getan haben. Nach einer persönlichen Einführung und Würdigung werde ich zunächst Henning Venske mit seinem Nachruf zu Worte kommen lassen. Anschließend werde ich beispielhaft für die Arbeit von Dieter Hildebrandt zwei Meisterwerke seiner umfangreichen Publikationen herausgreifen. Abschließend veröffentliche ich eine Aufstellung der für mich wichtigsten deutschen politischen Kabarettisten der Nachkriegszeit mit kurzen Bemerkungen.

1.  Würdigung

Dieter Hildebrandt wurde1927 in Bunzlau geboren, zum Kriegsende1945 wird seine Familie aus Schlesien vertrieben und siedelt sich in der Oberpfalz an. Dort im oberpfälzischen Weiden holt Dieter Hildebrandt 1947 das Abitur nach und tritt 1950 ein Studium der Literatur- und Theaterwissenschaften sowie der Kunstgeschichte in München an, das er jedoch 1955 wieder abbricht. Während seines Studiums hatte er bereits die Gelegenheit,  im Kabarett "Die kleine Freiheit" als Platzanweiser tätig zu sein, wo er auf den Geschmack des Kabaretts kam. 1952 gründet er dann mit einigen Kommilitonen das Kabarett "Die Namenlosen". Zusammen mit seinem Freund Sammy Drechsel entwirft er für dieses Kabarett die Texte. Die beiden Freunde entwickeln „Die Namenlosen“ weiter und heben daraus 1956 die „Münchner Lach- und Schießgesellschaft" aus der Taufe.

Dieter Hildebrandt war für mich der bedeutendste deutsche politische Kabarettist. Er war auch derjenige, der in meinem Leben als erster Kabarettist einprägsam in Erscheinung getreten ist. Nachdem wir zu Hause erst Anfang der sechziger Jahre einen Fernseher angeschafft hatten, faszinieren mich schon damals die Übertragungen von der Münchner Lach- und Schießgesellschaft. Im Ohr ist mir noch das Programm „Schimpf vor 12“, die legendäre Sylvestersendung von 1963. Wenn ich es mir recht überlege, war es die Truppe um Dieter Hildebrandt in den 1960er Jahren mit Ursula Noack, Klaus Havenstein, Hans Jürgen Diedrich und Jürgen Scheller, die mich als jungen unpolitischen Provinzler erstmals mit politischer Kritik in Verbindung brachte. Gottseidank brachte das Schwarz-Weiß-Fernsehen auch damals schon die aktuellen Programme der Lach- und Schießgesellschaft in voller Länge. Einige Jahre später waren auch die „Stachelschweine“ aus Berlin, die bereits auf im Jahre 1949 gegründet wurden, mit Wolfgang Gruner im TV mit im Rennen und boten ebenfalls für damalige Verhältnisse bissige Satire. Das erste bekannte und auf hohem Niveau befindliche deutsche Nachkriegskabarett war allerdings das Düsseldorfer „Kom(m)ödchen“, das schon 1947 von Kay und Lore Lorentz eröffnet wurde. Diese drei Kabarette stellten in der Nachkriegszeit so etwas wie Kult dar und beherrschten die Szene.

Aber eines steht fest: Von allen Kabarettisten dieser frühen und auch späterer Jahrzehnte hat mir Dieter Hildebrand am meisten imponiert. Insbesondere seine Solos aus den frühen Programmen sind mir noch heute in Erinnerung geblieben. Seine Schlagfertigkeit und seine Art, Sätze zu unterbrechen, ein wenig zu stottern und die Lücken mit spontanen Anspielungen zu füllen, war einmalig. Dabei setzte er stets sein typisches nonchalantes Grinsen auf und tat so, als ob er kein Wässerchen trüben könnte. Dabei hatte er es faustdick hinter den Ohren!

Menschen von der Sorte eines Dieter Hildebrandt gab und gibt es zu wenig. Selbstverständlich hat er mit seiner kabarettistischen Arbeit seinen Unterhalt verdient. Aber ich hatte den Eindruck, daß er sich nicht zum Sklaven seiner Arbeitgeber und besonders nicht des Fernsehens gemacht hat. Dieter Hildebrandt hat immer unverblümt seine Meinung gesagt, gesellschaftliche und politische Fehlentwicklungen hinterfragt, Ungerechtigkeiten gegeißelt und sich einen Spaß daraus gemacht, Politiker (besonders die aus seiner Wahlheimat Bayern) aufs Korn und zu nehmen und sich über ihre Eigen- und Unarten zu belustigen. Plattitüden vermied er, was ihm mit seinem hintersinnigen Humor und seiner Intelligenz auch nicht schwerfiel. Er war bis zu seinem Ende ein überzeugter Störenfried, was er auch mit seinem letzten Projekt, dem „Störsender.tv“ bewies.

Als ich las, daß Dieter Hildebrand im Jahre 2009 sich als Alkoholiker outete und den Mut besaß, freimütig über seinen Umgang mit dem Alkohol zu reden, stieg er noch in meiner Hochachtung. Da ich selbst Alkoholiker bin (trocken), konnte ich mich mit ihm identifizieren und nachfühlen, was ihn bewegte, wenn er gesagt hat: „Der Alkohol ist mein Feind, aber ich liebe ihn. Ich bin Alkoholiker.“ So geht man mit seinen Feinden um: mit Nächstenliebe!

Wenn man über einen Menschen einen Nachruf schreibt, ihm eine Bedeutung in seiner Arbeit zumißt und diese Arbeit die eines politischen Kabarettisten war, dann impliziert man die Aussage, daß Kabarett einen Sinn besitzt und etwas bewirken kann. Einen konkreten Hinweis von Dieter Hildebrandt selbst über die Effektivität seiner Arbeit habe ich nicht finden können. Der Schlüssel liegt wohl in seiner Persönlichkeit und seiner ungewöhnlichen Popularität, mit der er zeitweise zu einem Politikum werden konnte und man ihm somit durchaus eine politische Wirkung einräumen muß. Berücksichtigt man den individuellen Einfluß Hildebrandts auf sein breites Publikum, so wie es in meinem persönlichen Fall vorlag, so kann man stark vermuten, daß seine berufliche Tätigkeit nicht umsonst gewesen ist. Sein angriffslustiger Umgang mit Politik und den Politikern war ansteckend, so daß er mit Sicherheit viele Nachahmer gefunden hat. Hildebrandt selbst begriff das Kabarett als „eine moralische Instanz und immer noch eine Demokratiebewahranstalt“.

Genau genommen ist politisches Kabarett nichts für Demokraten: Kabarett entfaltet nämlich nur dann seine Wirkung auf den Zuschauer, wenn dieser glaubt, daß er für die Politik , über die der Kabarettist lästert und über die er lacht, nicht mitverantwortlich ist. Und auch nur unter der Voraussetzung, daß das Publikum unterbewußt davon ausgeht, daß die herrschenden Politiker ihm – mir nichts, dir nichts – ohne eigene Schuld vor die Nase gesetzt worden und der einzige Umgang mit diesen geschaffenen Tatsachen die des hilflosen und ohnmächtigen Spotts sei. Mit anderen Worten: Das Publikum beweist durch sein Lachen über die Pointen des Kabarettisten, daß es seine Funktion als Volkssouverän unterdrückt hat und eigentlich selbst für die gesellschaftlichen und politischen Miseren mitverantwortlich ist. So betrachtet, wäre Kabarett sogar schädlich, denn es würde verhindern, daß die Menschen sich aufraffen, sich ihre Macht als Souverän zurückholen und auf die Barrikaden gehen.

Trotzdem zurück zu Dieter Hildebrandt und seinem Wirken. Ich erinnere mich an einen Spruch von ihm, der so oder ähnlich lautete: „Die Opposition ist für den Zustand der Regierung (mit)verantwortlich.“ Diese Aussage trifft gerade bei den aktuellen Verhandlungen zur Bildung einer Großen Koalition ins Schwarze: Die einflußreichste und größte Oppositionspartei, die SPD schickt sich an, sich aus der Oppositionsverantwortung zu stehlen, um sich auf dem größten gemeinsamen Nenner in fast vollständiger Konformität zur CDU/CSU zu ergeben. Das einzige bei diesen sog. „Annäherungen“ ist das Ziel, an der Macht beteiligt zu werden, um möglichst viele Ministerposten zu ergattern, sei es auch unter Aufgabe von sämtlichen Prinzipen, Werten und Überzeugungen, für die man früher eingestanden ist und für die man vom Wähler gewählt wurde. Diese Ideale existieren nur noch auf dem Papier und sind noch nicht einmal so viel wert wie dieses. Oder anders ausgedrückt: Es liegt ein Fall von Verrat vor!

Zum Schluß des ersten Kapitels hat Dieter Hildebrandt das letzte Wort, das in diesem Zusammenhang den Nagel auf den Kopf trifft:

„Politik ist nur der Spielraum, den die Wirtschaft ihr läßt.“


2.  Nachruf von Henning Venske vom 20.11.2013

Hier veröffentliche ich den Nachruf Henning Venske, einem langjährigen Kollegen von Dieter Hildebrandt, den ich der Webseite der Münchner Lach- und Schießgesellschaft entnommen habe:

„Dieter Hildebrandt war das Idealbild eines Sozialdemokraten – demokratisch bis auf die Knochen und sozial im Umgang. Sein Widerwillen gegen jeglichen Machtmissbrauch, sein Gerechtigkeitsgefühl und sein Mitgefühl mit den Benachteiligten in der menschlichen Gesellschaft bestimmten sein Denken. Seine Lust an treffenden Formulierungen und seine Spielfreude machten seine Gedanken berühmt und beliebt. Dieter Hildebrandt war weder als Kollege auf der Bühne noch als Regisseur jemals autoritär. Das hatte er nicht nötig. Er hatte unseren allerhöchsten Respekt – wegen seines großen Könnens am Schreibtisch und auf der Bühne, also Pointen zu formulieren und zu servieren, Pausen zu setzen, Sätze abzubrechen und den Gedanken trotzdem zu Ende zu führen.

Von 1985 bis 1990 war Dieter Hildebrandt in der Münchner Lach-und Schießgesellschaft auch unser Regisseur: einfühlsam, phantasievoll, kenntnisreich. Auf den Proben wollten wir, dass es ihm gut ging. Wir alle haben ihn lieb gehabt. Und er wusste das, und er hat es gelegentlich sogar ausgenutzt. Auf einer Probe sagte er einmal: Wenn ihr mich nur ein bisschen lieb habt, dann macht ihr an dieser Textstelle einen Gang nach vorne. Alle lachten - aber wir folgten dieser Anweisung. Er musste da nichts begründen. Wir wussten, er hatte sich das überlegt, darauf konnte man sich verlassen.

Was Dieter Hildebrandt auch so einmalig machte, war der Respekt, den er vor den schreibenden und spielenden Kollegen um ihn herum hatte, und wie er ihnen seine Wertschätzung auch zu zeigen vermochte. Er nahm seine Kollegen ernst. Er war neugierig auf deren Argumente. Es gab für uns bei der gemeinsamen Arbeit nichts Schöneres und nichts Wichtigeres als zu spüren: Dieter mag das, was ich tue und wie ich es tue.

Die wenigen, aber durchaus tief gehenden politischen Differenzen, die ich mit ihm hatte, wurden in aller Freundschaft offen gelegt, aber nicht bis zum Sieg ausdiskutiert, sondern solidarisch für das Kabarett aufbereitet, das bekanntlich fast nur Fragen stellt und nie wirklich Antworten parat hat. Dieter Hildebrandt hat mit seinem überragenden Talent, seinem analytischen Verstand und mit seiner Menschlichkeit uns allen den Weg gewiesen.

Ich darf voller Dankbarkeit sagen: Ohne Dieter Hildebrandt hätte es mich als Kabarettisten nie gegeben.“


3.  „Dr. Murke“ und „Der Mond ist aufgegangen“

Ich greife zunächst  „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“ von 1964 heraus. Nachstehend findet Ihr einen Zusammenschnitt dieses Fernsehfilms als Hörspiel.

U. a. ist dabei als Mitspieler der unvergessene „Ekel Alfred“ alias Heinz Schubert. Bei dieser Satire handelt es sich um die Verfilmung des gleichnamigen Buches von Heinrich Böll. Dieser nimmt in seinem Werk den wichtigtuerischen Kulturbetrieb am Beispiel eines Rundfunksenders ins Visier und entlarvt auf absurd-komische Weise die Hohlheit mancher angeblich so niveauvollen Beiträge. Dabei arbeitet Dr. Murke (im Film gespielt von Dieter Hildebrandt) in der Abteilung „Kulturwort“ eines Rundfunksenders. Er ist dienstlich angewiesen worden, in zwei Vorträgen das Wort "Gott" durch die Formulierung "jenes höhere Wesen, das wir verehren" zu ersetzen. Die auftretenden Sprechpausen schneidet Dr. Murke aus den Aufnahmebändern heraus,  klebt sie aneinander und spielt sie sich abends zu Hause vor.

Einfach köstlich! Unbedingt ansehen!

Des weiteren bleibt mir aus den vielen brillanten Sketchen mit Dieter Hildebrandt eines in spezieller Erinnerung: Die Persiflage des Gedichtes von Matthias Claudius „Der Mond ist aufgegangen, die gold’nen Sternlein prangen …“,


die Ihr Euch nicht entgehen lassen dürft! Hier handelt es sich um eine fiktive Rede von Helmut Kohl, in der Dieter Hildebrandt in unnachahmlicher Weise die Rhetorik Kohls ins Lächerliche zieht. Zudem treibt er dabei die Angewohnheit Kohls und der meisten Politiker, in hohlen, nichtssagenden Phrasen zu reden, meisterhaft und entlarvend auf die Spitze. Das ist wirklich politische Satire auf höchstem Niveau!


4.  Liste namhafter politischer Kabarettisten

Nun die versprochene Auflistung der nach meiner Einschätzung  aussagekräftigsten deutschen politischen Kabarettisten, wobei es sich nicht um keine Rangliste handelt, da ich mit den bereits Verstorbenen beginne. Es gibt sicherlich noch einige andere, die auf einem ähnlichen Niveau angesiedelt werden können, aber irgendwo muß ich eine Begrenzung vornehmen. Die wichtigsten Kriterien für die Nennung sind dabei Authentizität, Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit sowie der Wille und die Fähigkeit, die Themen ungeschminkt und radikal zu behandeln. Kabarettclowns mußten bei dieser Betrachtungsweise außen vor bleiben.

  • Werner Finck  - † 1978

Eigentlich war er ganz unpolitisch, als er 1929 das Kabarett "Die Katakombe" gründete. Als die Politik dann aber doch in sein Leben trat und Einzug in seine Programme hielt, wurde es schwierig für Werner Finck. KZ und ein zeitweiliges Arbeitsverbot unter den Nazis waren die Folge, und um einer neuerlichen Verfolgung zu entgehen, perfektionierte er seine Technik der Doppeldeutigkeiten und nicht beendeten Sätze, bei denen die Kritik unausgesprochen blieb. Mit seinem ungebrochenen Widerstand avancierte Finck damit zu einem der bedeutendsten Kabarettisten des Vorkriegs- und Nachkriegs-Deutschland.

  • Wolfgang Neuß - † 1989

Als "der Mann mit der Pauke" ging Wolfgang Neuss in die Geschichte des Kabaretts ein. Es begann 1950 mit seinem Partner Wolfgang Müller als "Die zwei Wolfgangs" am Berliner Kabarett "Die Bonbonniere". 1952 arbeitete Neuss an zwei Programmen des Kabaretts "Die Stachelschweine" mit. Neuß war sicher der deutsche Kabarettist mit dem anarchistischsten Ansatz und sehr umstritten.

  • Lore Lorentz - † 1994

Ohne jegliche Theaterkenntnisse gründete Lore Lorentz gemeinsam mit ihrem Mann Kay 1947 das erste deutsche Nachkriegskabarett, das Düsseldorfer "Kom(m)ödchen". Ihr Bühnendebut gab Lore Lorentz 1947 mit dem Programm "Positiv dagegen". Bis 1983 gehörte sie zum Ensemble, danach bestritt sie Soloprogramme wie 1980 "Lore Lorentz präsentiert die Pürkels" und "Eine schöne Geschichte". Viele ihrer Programme wurden auch im Fernsehen ausgestrahlt, meist als Produktionen des WDR. In der Presse wurde sie als "Grande Dame des deutschen Kabaretts" und als "Primaballerina assoluta der politischen Satire" bezeichnet.

  • Matthias Beltz - † 2002  

Matthias Beltz gehörte zum Urgestein der "berüchtigten" Frankfurter Szene. Jura-Studium und Gerichtsreferendariat brach er ab, um sechs Jahre bei Opel am Band zu arbeiten, Häuser zu besetzen, und mit Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit in Frankfurt "unterm Pflaster den Strand" zu suchen. In "Karl Napps Chaos Theater" startete der Wortakrobat 1976 seine Kabarett-Karriere, gründete 1982 das "Vorläufige Frankfurter Fronttheater" und 1989 mit dem "Tigerpalast" das erste moderne Varieté der Nachkriegszeit.

Matthias Beltz gehört für mich zu den ernsthafteren und bissigsten Vertretern dieser Branche. Er war ebenfalls ein Anarchist durch und durch – seine Pointen setzen stets an der Wurzel des Übels an und verschonten niemanden.

  • Hans Dieter Hüsch - † 2005

Schriftsteller, Kinderbuchautor, Kabarettist, Schauspieler, Liedermacher und Rundfunkmoderator: Mit über 53 Jahren auf deutschsprachigen Kabarettbühnen und 70 eigenen Programmen gilt Hanns Dieter Hüsch als der produktivste und erfolgreichste Vertreter des literarischen Kabaretts im Deutschland des 20. Jahrhunderts.

Hans Dieter Hüsch mochte ich besonders: Er war eher ein Mann der leisen Töne, der den Menschen genau aufs Maul schaute und mit seinen anschaulichen Charakteren zum Nachdenken und zur Selbsterkenntnis zwang.

  • Heinrich Pachl -  † 2012

"Kölns bissigsten Spötter" nennt man ihn, den Alt-68er Heinrich Pachl, der sein kabarettistisches Handwerk mit Polit- und Straßentheater von der Pike auf lernte. Bekannt wird Pachl unter anderem durch seine gemeinsamen Auftritte mit Richard Rogler (1979-1982), Matthias Beltz (1986 – 1989) und Arnulf Rating (1991-1993). Außerdem war Heinrich Pachl gemeinsam mit Matthias Beltz, Achim Konejung, Arnulf Rating und Horst Schroth Mitglied der legendären Kabarettgruppe "Reichspolterabend" und wurde mit Richard Rogler als Duo "Der wahre Anton" 1982 mit dem "Deutschen Kleinkunstpreis" ausgezeichnet. Hintersinnige und absurde Wortspiele gehören zu seinen Spezialitäten genauso wie vordergründiger Blödsinn, bei dem einem dann das Lachen im Halse stecken bleibt.

Auch Pachl gehört für mich ebenfalls zur Riege der Kabarett-Anarchisten. Er hat sich im „Kölner Klüngel“ unbeliebt gemacht, weil er kein Blatt vor den Mund nimmt. Außer seinem Hobby, das Kölner Milieu  auf die Schippe zu nehmen, ist sein Spezialgebiet soziale Ungerechtigkeit.

  • Henning  Venske

Henning Venske war ein Mitstreiter von Dieter Hildebrandt. In den 60er Jahren beginnt der gebürtige Stettiner seine Karriere als Schauspieler. Ein Jahrzehnt später zählt Henning Venske zu den Kult-Moderatoren von NDR 2. Anfang der 80er Jahre wechselt das Multi-Talent als Chefredakteur zum Satire-Magazin "Pardon". Mitte der 80er Jahre hat er seine Berufung gefunden: das Kabarett. Fast zehn Jahre steht er auf der Bühne der Münchner "Lach- und Schießgesellschaft", schreibt für deren Programme Texte und führt dort bis 1998 Regie. Die Scharfzüngigkeit ist seine beste Waffe.

  • Gerhard Polt

Wie kein anderer karikiert Gerhard Polt den "Spießbürger von nebenan", der in jedem von uns steckt, und leuchtet tief in die Abgünde der kleinbürgerlichen Seele. Seinen ersten Auftritt hatte Polt 1976 mit dem kabarettistischen Programm "Kleine Nachtrevue" in der "Münchner Kleinen Freiheit". 1979 wird er mit der Sketch-Reihe des Bayerischen Rundfunks "Fast wia im richtigen Leben" mit seiner ständigen Partnerin Gisela Schneeberger oder seinen legendären Auftritten im "Scheibenwischer" einem breiten Fernsehpublikum bekannt. In den satirischen Spielfilmen Polts wie „Man spricht Deutsch“ hat Dieter Hildebrandt als Schauspieler mitgewirkt.

Polt ist einer von der deftigen bayrischen Sorte. Seine Hinterfotzigkeit ist schon berühmt. Keiner kann den Spießer so originaltreu spielen wie er, daß die meisten nicht glauben wollen, daß er nur schauspielert und ironisiert.

  • Wilfried Schmickler

1989 tritt der "Leverkusener Werkskabarettist" Wilfried Schmickler zum ersten Mal mit dem "3 Gestirn Köln 1" in Erscheinung, als er Jürgen Beckers Nachfolger wird. Seit 1990 ist er regelmäßig Gast in dessen Sendung "Mitternachtsspitzen" und darf mit der inzwischen legendären Aufforderung "Aufhören, Herr Becker, aufhören!" die Sendung beenden. Aber auch die Solo-Programme des Berufscholerikers sind politisches Kabarett, wie es sein soll: bitterböse, ironisch und provokant.

Schmickler sticht immer mit seinem scharfen Spott in den Kern der Mißstände vor – und dreht sein Messer dann in der getroffenen Wunde nochmal um.

  • Georg Schramm

Nach dem Abitur verpflichtete sich Schramm bei der Bundeswehr als Zeitsoldat. An der Heeresoffiziersschule fällt er wegen "charakterlicher Nichteignung" durch, verläßt die Armee als Leutnant der Reserve und studiert Psychologie in Bochum. Schramm arbeitet von 1976 bis 1988 als Psychologe in einer Reha-Klinik am Bodensee. 1985 steht er mit seinem ersten Soloprogramm "Solche Männer hat das Land" auf der Bühne. Seine Figuren, der vom langen Militärdienst gezeichnete "Oberstleutnant Sanftleben", der "einarmige Preuße Lothar Dombrowski" und der mental in einer vergangenen Zeit lebende "hessische Sozialdemokrat August", sind zu Klassikern des Kabaretts geworden. In seinen polemischen Texten kritisiert er häufig den Zeitgeist, indem er diesen mit den klassischen Bildungsidealen konfrontiert. Die Grenze zwischen Spaß und Ernst wird dabei oft von ihm verwischt.

Georg Schramm ist sicher einer der profiliertesten Vertreter des politischen Kabaretts. Er scheut sich nicht, sein Publikum zu konsternieren, bis ihm das Lachen im Halse stecken bleibt.

  • Volker Pispers

Volker Pispers ist ein politischer Kabarettist ersten Ranges, ein wortgewaltiger, gewitzter Silbendrechsler von bestechendem Wortwitz. Nach einem Lehramtsstudium und Engagements als Schauspieler widmet sich Volker Pispers ab 1986 schließlich ganz dem Kabarett in Soloprogrammen oder als Ensemblemitglied und künstlerischer Leiter des renommierten Düsseldorfer "Kom(m)ödchens". Seinen ersten Auftritt als Kabarettist absolviert er bereits 1982 beim Kleinkunstfestival der "Münsterschen Zeitung". Im Jahr darauf folgt sein erstes Soloprogramm "Kabarette sich, wer kann".

Kaum ein anderer vermag es wie Pispers, den politischen Irrsinn rund um Angela Merkel derartig zielsicher zu entlarven.

  • Tobias Mann

Zuletzt berücksichtige ich noch einen jungen Mann aus der neuen Generation von politischen Kabarettisten, der eine bemerkenswerte Entwicklung hinter sich hat. Tobias Mann ist ein sehr vielseitiger Künstler, der Gitarre und Klavier beherrscht und kreative gesungene Beiträge abliefert. Als einziger der aktuellen Kabarettisten versteht er wirklich etwas vom Internet, weshalb er dieses Messer auch ausgiebig wetzt. Den Zustand der Nation persifliert er treffsicher, variantenreich und in direkter schonungsloser Art.


MfG Peter A. Weber

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