Die Palästi­nenser inner­halb der grü­nen Linie in Aufruhr

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Die Palästi­nenser inner­halb der grü­nen Linie in Aufruhr
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Die Palästi­nenser inner­halb der grü­nen Linie in Aufruhr


von Petra Wild / Islamwissenschaftlerin und Publizistin


Seit­dem der 16jährige Muham­mad Abu Khdeir in Jerusalem von Siedlern ent­führt, gefoltert und bei lebendi­gem Leib ver­brannt wurde, befinden sich alle Teile des his­torischen Palästi­nas in Aufruhr.

Die Dynamik der Auseinan­der­set­zung zwis­chen zion­is­tis­chen Siedler­staat und ein­heimis­cher palästi­nen­sis­cher Bevölkerung weist drei neue Entwick­lun­gen auf:

 

1. Die bre­ite Beteili­gung der Palästi­nenser inner­halb der grü­nen Linie an den Protesten;

2. die verbesserten mil­itärischen Kapaz­itäten des bewaffneten Wider­stands im Gaza-​Streifen, der auf die israelis­che Eskala­tion mit dem anhal­ten­dem Beschuss israelis­cher Orte bei gradu­eller Ausweitung des Radius antwortet und eine Waf­fen­ruhe von der Aufhe­bung der Belagerung des Gaza-​Streifens abhängig macht;

3. die zunehmenden Angriffe von Palästi­nensern in der West­bank auf den Repres­sion­sap­pa­rat der Autonomiebe­hörde und die immer lauter wer­den­den Forderun­gen, die „Sicher­heit­szusam­me­nar­beit mit Israel einzustellen. Obgle­ich jede einzel­nen dieser Entwick­lun­gen von großer Bedeu­tung ist, soll hier nur auf den ersten Punkt einge­gan­gen wer­den, da alles andere den Rah­men eines Artikels spren­gen würde.


Die Proteste gegen die Ermor­dung von Muham­mad Abu Khdeir fan­den vom 1.Tag an par­al­lel in den 1967 beset­zten Gebi­eten und auf dem Ter­ri­to­rium des Kernstaats Israel statt. In zahlre­ichen Städten inner­halb der grü­nen Linie gab es Kundge­bun­gen und Demon­stra­tio­nen, darunter in Sakhnin, Haifa, Majd al-​Krum, Tamra, Jisr al-​Zarqa, al-​Lid/​Lod, Nazareth und Um al-​Fahem. Beson­ders inten­siv war die Mobil­isierung im Muthalath-​Gebiet im unteren Galiläa, das nahe an der West­bank liegt und zu dem die Städte Nazareth und Um al-​Fahem gehören. In vie­len kleineren Ortschaften gin­gen am 4. und 5. Juli die Jugendlichen und jun­gen Män­ner – die Schebab – auf die Straße, block­ierten Straßenkreuzun­gen, holten die israelis­che Flagge vom Mast und ver­bran­nten sie, um sie durch die palästinensis­che zu erset­zten. An eini­gen Orten kam es zu Auseinan­der­set­zun­gen mit der israelis­chen Polizei. Zu den Ortschaften, die allein im Muthalth-​Gebiet demonstri­erten, gehörten: al-​Tira, al-​Taibeh, Qalan­suwa, Um al-​Fahem, ‚Ara, ‚Arara, Baqa al-​gharbiyeh, Kafr Qassem und Jit. Am Son­ntag, den 7.Juli bre­it­eten sich die Demon­stra­tio­nen auf Bir Sab’a/Beersheva im Naqab/​Negev im Süden des Lan­des aus und am fol­gen­den Tag auf Akka ganz im Nor­den des Lan­des.

Das ist ein neuer Höhep­unkt in der Entwick­lung des Kampfes der Palästi­nenser inner­halb der Grü­nen Linie. Sie demon­stri­eren nicht nur aus Sol­i­dar­ität mit den Palästi­nensern in den 1967 beset­zten Gebi­eten, son­dern begreifen deren Kampf zunehmend als ihren eige­nen.
 

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Für die Darstellung der folg. Grafik im Großformat bitte hier klicken und danach die Karte noch einmal anklicken !

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  • Palästinensisches Selbstverwaltungsgebiet, „Gebiet A“ nach Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen (Oslo-Abkommen),
  • Palästinensisches Selbstverwaltungsgebiet unter Kontrolle des israelischen Militärs (Gebiet B)
  • Vom israelischen Militär gesperrt (Gebiet C)
  • Israelische Siedlung
  • Vorposten einer israelischen Siedlung
  • Kommunales Gebiet der Siedlung (verboten für Palästinenser)

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Ihre Posi­tion als palästi­nen­sis­che Min­der­heit inner­halb des zion­is­tis­chen Staates hat sie in viel­er­lei Hin­sicht von allen Teilen der palästi­nen­sis­chen Gesamtbevölkerung (Palästi­nenser in den 1967 beset­zten Gebi­eten, Palästi­nenser inner­halb der Grü­nen Linie und etwa 6 Millionen Palästi­nenser in der Diaspora) in die kom­plizierteste Lage gebracht. For­mal haben sie die israelis­che Staats­bürg­er­schaft, ohne jedoch in den Genuss voller Staats­bürg­er­rechte und einem gle­ich­berechtigten Zugang zu Ressourcen zu kom­men, denn diese sind den Ange­höri­gen der „jüdis­chen Nation“ vor­be­hal­ten, als deren exk­lu­siver Staat Israel sich ver­steht. Gle­ichzeitig sind sie Teil der palästi­nen­sis­chen Gesamt­bevölkerung, wur­den aber von der PLO, deren Führung bere­its seit 1974 einen Mini-​Staat in der West­bank und dem Gaza-​Streifen anstrebte, nie recht in den Kampf ein­be­zo­gen. Deren Nach­fol­ger­ing, die Palästi­nen­sis­che Autonomiebe­hörde sieht sich einzig als Repräsen­tan­tin jenes Drit­tels der palästi­nen­sis­chen Gesamt­bevölkerung, das in den 1967 beset­zten Gebi­eten lebt.

Die Palästi­nenser inner­halb der Grü­nen Linie sind seit der Grün­dung des Staates Israel hefti­gen Angrif­fen auf ihre Iden­tität und ihre Lebens­grund­la­gen ausgesetzt. Zwis­chen 1948 und 1966 standen sie unter Mil­itärherrschaft: Ihre Dör­fer wur­den abgeriegelt, so dass sie voneinan­der, von der jüdische-​israelischen Bevölkerung und der weit­eren ara­bis­chen Welt abge­trennt wur­den. Ihr Land wurde größ­ten­teils beschlagnahmt, sie wer­den geo­graphisch und ökonomisch stranguliert und auf allen Ebe­nen vom israelis­chen Staat und der jüdisch-​israelischen Gesellschaft aus­geschlossen.
 
Ihre palästi­nen­sis­che Iden­tität wird nicht anerkannt. In klas­sis­cher kolo­nialer Weise wer­den sie in unter­schiedliche Kat­e­gorien aufgeteilt: Beduinen, Araber, Drusen, und neuerd­ings gibt es auch die eigene Kat­e­gorie der Chris­ten. In den ersten Jahrzehn­ten wur­den Ver­suche der Palästi­nenser, Wider­stand zu organisieren durch bru­tale Repres­sion schon im Keim erstickt. Die ersten großen Demon­stra­tio­nen der ein­heimis­chen Bevölkerung inner­halb der Grü­nen Linie fan­den am 30. März 1976 statt und richteten sich gegen den fort­ge­set­zten israelis­chen Lan­draub. Bei diesen Demon­stra­tio­nen wur­den in den galiläis­chen Dör­fern Sakhnin, ‚Arrabeh und Deir Hanna sechs Palästi­nenser getötet. Seit­dem ist der 30.März als „Tag des Bodens“ ein fes­ter Bestandteil des palästi­nen­sis­chen Kalenders der Gedenk– und Kampf­tage.

Die zunehmende Mobil­isierung der Palästi­nenser inner­halb der Grü­nen Linie führte zur Grün­dung von anti-​zionistischen Organ­i­sa­tio­nen wie Abna al-​Balad (Kinder des Lan­des). Die Mehrheit der palästi­nen­sis­chen Bevölkerung organ­isierte sich jedoch weit­er­hin in zion­is­tis­chen Parteien wie der „Kom­mu­nis­tis­chen Partei Israels“ und wählte bis in die 1990er Jahre hinein in den Par­la­mentswahlen vor allem jüdisch-​israelische zion­is­tis­che Main Stream-​Parteien.

Die bei­den palästi­nen­sis­chen Auf­stände von 1987 – 1993 und 2000 – 2003 in den 1967 Gebi­eten verän­derten jedoch die poli­tis­che Dynamik und ver­stärk­ten die Ten­denz zur „Palästi­nen­sisierung,“ wie israelis­che Experten es nen­nen. Die palästi­nen­sis­che Min­der­heit im Kern­land des zion­is­tis­chen Siedler­staats bekan­nte sich immer klarer zu ihrer palästi­nen­sis­chen Iden­tität und organ­isierte sich zunehmend unter diesem Vorze­ichen. Wie weit diese Entwick­lung zu Beginn der zweiten Intifada im Herbst 2000 schon gediehen war, zeigte sich daran, dass die Palästi­nenser inner­halb der Grü­nen Linie sich in den ersten Tagen an dem Auf­s­tand beteiligten. Aber schon nach weni­gen Tagen wurde diese Erhe­bung der Palästi­nenser in Israel mit brachialer Gewalt niedergeschla­gen. 13 Palästi­nenser wur­den getötet, Hun­derte ver­letzt. Obwohl sie nur einige Tage gedauert hatte, war es die größte und läng­ste Erhe­bung der ein­heimis­chen Bevölkerung inner­halb der Grünen Linie seit 1948.

Die bru­tale Gewalt, die damals einge­setzt wurde, hat wesentlich dazu beige­tra­gen die ohne­hin schon tiefe Kluft zwis­chen der ein­heimis­chen Bevölkerung und dem Siedler­staat Israel noch ein­mal zu ver­tiefen. Hinzu kommt, dass der israelis­che Appa­rat mit zunehmender Repres­sion auf die Forderung der Palästi­nenser nach einem „Staat für alle seine Bürger“ reagiert. Die palästi­nen­sis­chen poli­tis­chen Parteien, die sich nach den Oslo-​Abkommen inner­halb der Grü­nen Linie gebildet haben, und die ara­bis­chen NGOs fordern seit Ende der 1990er in zunehmen­dem Maße die Umwand­lung Israels von einer Ethnokratie, die sich religiös-​ethnisch definiert in eine Demokratie mit gle­ichen Rechten für alle Bürger.

2007 legten die poli­tis­chen Vertreter der ein­heimis­chen Bevölkerung drei Doku­mente über die „Zukun­ftvi­sion“ der palästi­nen­sis­chen Min­der­heit in Israel vor, in der sie ihr Selb­stver­ständ­nis als nationale Min­der­heit und ihre poli­tis­chen Forderun­gen an den Staat Israel for­mulierten: Anerken­nung als nationale Min­der­heit und kulturelle Autonomie sowie den Umbau des eth­nokratis­chen Staates Israel in einem demokratis­chen Staat. Die ara­bis­che Bürg­er­recht­sor­gan­i­sa­tion „Adalah“ entwarf sogar eine Ver­fas­sung für den neuen demokratis­chen Staat. Das jüdisch-​israelische Estab­lish­ment reagierte darauf mit Empörung, der Inlandsgeheimdienst Shin Bet beze­ich­nete die Forderung nach Demokratie als „strate­gis­che Bedro­hung“ und kündigte an, mit aller Härte gegen jeden vorzuge­hen, der den jüdis­chen Charak­ter des Staates Israel ändern wolle, auch wenn er das mit demokratis­chen Mit­teln tue.

Seither ver­schlechtern sich die Beziehun­gen zwischen den Palästi­nensern inner­halb der Grü­nen Linie und dem Staat Israel fort­laufend. Die forcierte „Judaisierungspoli­tik“ im Naqab/​Negev und den alten palästi­nen­sis­chen Städten wie Jaffa und Akka, die Ver­ab­schiedung immer weit­erer ras­sis­tis­cher Gesetz, die den ohne­hin schon engen Spiel­raum der einheimischen Bevölkerung stets weiter ein­schränken sowie der zunehmende Ras­sis­mus der jüdisch-​Israelischen Bevölkerung, der sich unter anderem in physischen Angrif­fen und Kam­pag­nen zur Ver­hin­derung der Ver­mi­etung an Araber oder ihre Anstel­lung äußert, erhöhen die Span­nun­gen kon­tinuier­lich.

Die Antwort der Palästi­nenser auf die israelis­che Poli­tik ist das immer klarere Beken­nt­nis zur palästi­nen­sis­chen Iden­tität und die immer größer wer­dende Mobilisierung auf der Straße unter diesem Vorze­ichen. 2008⁄09 hiel­ten die Palästi­nenser in Israel aus Protest gegen den Gaza-​Krieg mit etwa 150.000 Teil­nehmern die größten Demon­stra­tio­nen seit 1948 ab.

Die starke Beteili­gung der Palästi­nenser inner­halb der Grü­nen Linie an der jet­zi­gen palästi­nen­sis­chen Erhe­bung – von der noch nicht gesagt wer­den kann, ob es die dritte Intifada ist - zeigt , wie sehr sich die Dynamik beschle­u­nigt hat. Mit­tler­weile gibt es keine Tren­nung mehr zwis­chen den Kämpfen der Palästi­nenser in den 1967 beset­zten Gebi­eten und den Palästi­nensern inner­halb der Grü­nen Linie. Wenn die dritte Intifada kommt, wer­den die Palästi­nenser inner­halb der Grü­nen Linie eines ihrer Zen­tren bilden.


Petra Wild

 


 

Quelle: Erstveröffentlich bei Linkezeitung.de

Infos zur Autorin Petra Wild:

Petra Wild wurde 1963 im hessischen Aarbergen geboren, studierte im arabischen Jerusalem, in Leipzig und Damaskus Arabistik und später an der Berliner Humboldt-Universität Islamwissenschaft. Sie lebt heute in Berlin und arbeitet als freiberufliche Publizistin. Frau Wild ist Islamwissenschaftlerin mit den Arbeitsschwerpunkten Palästina-Frage sowie Revolution und Konterrevolution in der arabischen Welt. Im März 2013 Jahres hat sie ich nach zweijähriger Forschungsarbeit eine Monographie mit dem Titel „Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat“ vorgelegt.

Darin hat sie eine Vielzahl öffentlich zugänglicher Quelle (siehe das 10seitige Literaturverzeichnis) systematisch ausgewertet, vor allem Studien, Analysen und Berichte von UN-Organisationen wie dem Komitee für die Eliminierung aller Formen des Rassismus und der rassistischen Diskriminierung (CERD) und der UN-Organisation für humanitäre Angelegenheiten in den 1967 besetzten Gebieten (OCHA) sowie israelischer, palästinensischer und internationaler Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen wie B'Tselem, Adalah, Human Rights Watch und Amnesty International.

Hinzu kommt die Auswertung der Studien von Think Tanks wie dem renommierten britischen Royal Institute for International Affairs (Chatham House) und israelischer, arabischer und internationaler Medien wie Haaretz, Aljazeera und The Guardian.

Ganz wesentlich für die in dem Buch formulierten Erkenntnisse waren auch die Werke kritischer israelischer Wissenschaftler wie Oren Yiftachel, Ilan Pappe und Moshe Machover sowie internationaler Kolonialismus- und Genozidforscher wie Patrick Wolfe, Martin Shaw und John Docker. In vielen der positiven Rezensionen ihres Buches wurde u.a. hervorgehoben, dass die von Petra Wild dargestellten Sachverhalte fundiert und nachprüfbar belegt sind.

Das Buch erschient im Verlag Promedia, Wien. ISBN-13: 978-3-85371-355-6, broschiert, 240 Seiten mit fünf Landkarten, 15,90 Eur [D] / 15,90 Eur [A] / 22,90 CHF


Bild- und Grafikquellen:


1. Staatswappen Palästinas. Autor: Fry1989, Palestinian Government. Quelle: Palestinian Ministry of Interior / Wikimedia Commons. Die Abbildung ist gemeinfrei. Dies gilt weltweit.

2. Landkarte: Westbank Kontroll- und Zugangsbeschränkungen, Stand Dezember 2012.

Palästinensisches Selbstverwaltungsgebiet, „Gebiet A“ nach Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen (Oslo-Abkommen), Palästinensisches Selbstverwaltungsgebiet unter Kontrolle des israelischen Militärs (Gebiet B) Vom israelischen Militär gesperrt (Gebiet C) Israelische Siedlung Vorposten einer israelischen Siedlung Kommunales Gebiet der Siedlung (verboten für Palästinenser)

Autor der Karte: United Nations OCHA oPt. Die Basis-Karte wurde nachträglich bearbeitet und ist als Public Domain freigegeben. Quelle: Wikimedia Commons.


3. Zionisten sind Kriminelle. Strassenprotest gegen Israels Attacken auch in Melbourne, Australien, 2009. Foto: Takver. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 generisch“ (US-amerikanisch) lizenziert.

4. FREEDOM FOR PALESTINE - internationaler Aufruf für die Befreiung Palästinas von der Okkupationsmacht Israel.

5. Erhebt Euch gegen Zionismus!