Die Ukraine, der Westen und Rußland - Rückblick, Analyse und mögliche Auswege

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Verbunden: 08.08.2014 - 16:19
Die Ukraine, der Westen und Rußland - Rückblick, Analyse und mögliche Auswege
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Im ersten Teil dieses Beitrages werde ich Grundzüge der Entwicklung der vergangenen Monate skizzieren. Im zweiten Teil untersuche ich, welche Auswirkungen eine anhaltende Konfrontationspolitik auf die Ukraine und die westlich-russischen Beziehungen besäße. Im dritten Teil habe ich Vorschläge unterbreitet, die einen Ausweg aus der Spirale von Gewalt und Konfrontation weisen könnten.



I. Die Ukraine, der Westen und Russland: Frühjahr und Sommer 2014


Weit über 2.000 Menschen sind in der Ostukraine bislang gewaltsam ums Leben gekommen, hunderttausende sind geflüchtet, überwiegend nach Russland. Darüber hinaus befinden wir uns in der schwersten internationalen Krise seit Jahrzehnten. Sie wird weiter eskalieren, wenn wir nicht gegensteuern.


Skizzieren wir zunächst, warum diese Situation entstanden ist, um danach die Entscheidung abzuwägen, vor der wir stehen:

Die Ukraine ist ein sprachlich, kulturell, ethnisch und religiös tief gespaltenes Land. Abgesehen von der Krim gab es aber mehr als 20 Jahre keine ernsthaften Anzeichen, dass die territoriale Einheit zerbrechen könnte. Im November 2013 setzten Massenproteste gegen den damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch ein. Seine Amtsführung wurde zwar in allen Landesteilen abgelehnt, die Demonstranten forderten jedoch eine deutliche Ausrichtung ihres Landes Richtung Westen. Sie erhofften dadurch eine Verbesserung der bedrückenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation. Eine Minderheit der Protestierenden wurde durch antirussische Ressentiments getrieben.

Nach einer Umfrage zweier renommierter ukrainischer Meinungsforschungsinstitute wurden die Proteste Ende Dezember 2013 von 80 Prozent der in der Westukraine Befragten unterstützt, im Osten waren es 30 Prozent und im Süden des Landes nur 20 Prozent. Westliche Politiker ermunterten meist zu einer einseitigen Westausrichtung der Ukraine. Diese wurde in den überwiegend russischsprachigen südlichen und östlichen Landesteilen jedoch abgelehnt. Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnte bereits zu dieser Zeit, dass die Ukraine in der Gefahr stehe, „zerrissen“ zu werden. Der Westen zerrte von der einen, Russland von der anderen Seite.

Unmittelbar nach dem Machtwechsel von Ende Februar 2014 versuchte die neue Führung, den Status der russischen Sprache zu vermindern und ernannte einen Vertreter der extremen Rechten zum Generalstaatsanwalt. Diese und andere Maßnahmen wurden von vielen Millionen Menschen als ernsthafte Bedrohung ihrer kulturellen Identität, ja ihrer Sicherheit verstanden. Die völkerrechtswidrigen Vorgänge auf der Krim verstärkten die Spannungen und Spaltungstendenzen innerhalb der Ukraine. Im Osten und Süden vertrat im März fast die Hälfte der Befragten die Ansicht, die Differenzen zwischen den verschiedenen Landesteilen seien so groß, dass es zerbrechen könnte.

Ende Februar setzten Proteste gegen die neue Kiewer Führung ein. Es handelte sich zunächst um Demonstrationen, die ab April in bewaffnete Auseinandersetzungen übergingen. Russland spielte eine zentrale, womöglich ausschlaggebende Rolle für das Einsetzen und den Verlauf dieser Entwicklung: Moskau erklärte Anfang März seine Bereitschaft, u.U. Truppen einzusetzen, um die russischsprachigen Bürger der Ukraine zu schützen, die durch Rechtsradikale massiv bedroht seien. Dies war sowohl eine groteske Überzeichnung tatsächlich besorgniserregender Tendenzen als auch eine massive Drohung. Unzufriedene sahen sich ermutigt, auf die Straße zu gehen und eventuell gar zu den Waffen zu greifen. Sie konnten berechtigte Hoffnungen auf ein Eingreifen Russlands zu ihren Gunsten setzen.

Der Kreml ermutigte Unzufriedene massiv, auf die Straße zu gehen, aber waren die Unruhen durch Moskau inszeniert und gelenkt? US-Außenminister John Kerry erklärte am 8. April, es sei eindeutig, dass russische Spezialeinheiten und Agenten die treibende Kraft der Separatisten seien. Beweise ließen aber auf sich warten. Am 24. April legte Kerry in Form von Fotos Belege für die Anwesenheit russischer Agenten vor. Die „New York Times“ berichtete auf Seite eins. Es wurde aber rasch offenkundig, dass die von der ukrainischen Regierung zur Verfügung gestellten Fotos bearbeitet und als Nachweise untauglich waren. Washington hatte sich nicht veranlasst gesehen, die von Kiew zur Verfügung gestellten Fotos zu prüfen, was ohne großen Aufwand möglich gewesen wäre. Die USA übten auch keine öffentliche Kritik an den ukrainischen Fälschungen. Washington verhängte im Gegenteil weitere Sanktionen, während der deutsche Außenminister eine gütliche Einigung der Krise anmahnte. Bis zu diesem Zeitpunkt waren nur wenige Menschen ums Leben gekommen.

Der ukrainische Geheimdienstchef erklärte am 27. April, die Gefängnisse seiner Institution seien überfüllt mit russischen Agenten. Er legte hierfür keine Belege vor und wurde von westlicher Seite hierzu auch nicht aufgefordert. Ähnliche Vorgänge wiederholten sich. Noch Anfang Juni sah sich Kerry genötigt, den soeben gewählten Präsidenten Petro Poroschenko dazu zu drängen, Beweise für die Verwicklung Russlands in die Vorgänge in der Ostukraine vorzulegen. Dies war bis zu diesem Zeitpunkt nicht erfolgt und kein einziger russischer Agent festgenommen worden.

Die haltlosen oder stark übertriebenen Behauptungen Kiews über eine Verwicklung Russlands in die Unruhe in der Ostukraine fanden zunehmenden Niederschlag in westlichen Medien und galten schließlich als Gewissheit. Da die ukrainischen Fehlinformationen vom Westen nicht gerügt wurden, fuhr Kiew damit fort. Vermutlich glaubte die ukrainische Führung selbst an sie. – Ebenso wie Vertreter des anderen Lagers an massenhafte Exzesse gewalttätiger ukrainischer Nationalisten glaubten. – Kiew sah sich auch geradezu genötigt, die Verwicklung Russlands in die Unruhe in der Ostukraine zu betonen: Wie hätte die ukrainische Führung sonst erklären können, dass immer mehr Positionen von ihren Gegnern übernommen wurden? Separatisten besetzten während des gesamten Frühjahrs Polizeistationen, Kasernen oder sogar regionale Hauptquartiere des Geheimdienstes, ohne auch nur einen Schuss abzugeben. Eine Minderheit der staatlichen Sicherheitsorgane wechselte offen die Seite, ein großer Teil blieb passiv. Die große Mehrheit der Menschen in der Ostukraine betrachtete die neue Führung in Kiew nicht als die ihre.

Wie breit war die Basis der Separatisten? In der zweiten Märzhälfte plädierten im Osten und Süden der Ukraine nur etwa 10 Prozent für eine Abspaltung. Die Umfrage, die Mitte April vom US-Meinungsforschungsinstitut „Pew“ durchgeführt wurde, legte den Schluss nahe, dass der Anteil in den drei Wochen seit Ende März angestiegen sein dürfte. Zu diesem Zeitpunkt zog aber selbst unter den Russischsprachigen in der Ostukraine nur gut ein Viertel der Befragten eine Abspaltung in Betracht. Die große Mehrheit der Bevölkerung befürwortete die Beibehaltung der territorialen Integrität der Ukraine, zugleich vermutlich aber eine Föderalisierung, also eine weitgehende Autonomie der Regionen innerhalb des ukrainischen Staatsverbands. Eine breite Mehrheit forderte zugleich, das Russische neben dem Ukrainischen als weitere offizielle Sprache des Landes zuzulassen. Dies ginge über die bisherige Regelung weit hinaus, neben dem Ukrainischen regional einer weiteren Sprache einen offiziellen Status verleihen zu können. Diese Forderung, ebenso wie die Föderalisierung, wurde von der Regierung, den sie tragenden Parteien und der Mehrheit der Bevölkerung im Ton angebenden Westen des Landes vehement abgelehnt. Die neue Führung des Landes war vielmehr sogar entschlossen, dem Russischen einen offiziellen Status gänzlich zu verweigern.

Auf die Frage: „Übt die gegenwärtige Regierung in Kiew einen guten oder schlechten Einfluss auf die Entwicklung in der Ukraine aus?“ vertraten im Westen der Ukraine 60 Prozent der Befragten Mitte April die Ansicht, der Einfluss sei gut, im Osten nur gut 20 Prozent. Zwei Drittel waren im Osten hingegen der Auffassung, der Einfluss sei schlecht.

Insbesondere Deutschland versuchte wiederholt zu deeskalieren. So legte Außenminister Steinmeier Anfang April einen mit Frankreich und Polen abgestimmten Plan vor, über den der „Spiegel“ schrieb: „Steinmeiers Osteuropa-Plan, Brüssel oder Moskau? Beides!“ Oder am 18. Juli forderten die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens nach dem Abschuss der Passagiermaschine eine sofortige und nachhaltige Waffenruhe. Der Vorfall zeige, wie gefährlich die Lage dort geworden sei. Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich ähnlich. In den vier Wochen seitdem sind deutlich mehr Menschen ums Leben gekommen als in den drei Monaten zuvor.

Halten wir fest: Einige der führenden Vertreter der Separatisten sind Staatsbürger Russlands. Ebenso wie viele der bewaffneten Kämpfer. Moskau ermutigte die Gegner Kiews und billigte, dass russische Nationalisten in den Kampf in der Ukraine eingriffen. Die Unterstützung Russlands blieb gleichwohl ganz überwiegend indirekt. Die UN erklärte noch am 1. August 2014, es gebe keine handfesten Beweise für russische Waffenlieferungen an die Separatisten. Unter ihnen gibt es zudem erhebliche Differenzen über das Ziel ihres Kampfes: Ist es der Anschluss an Russland oder eine Föderalisierung der Ukraine? Auch diese Meinungsunterschiede sprechen gegen die Version, dass die Widerstandsbewegung ein Produkt Moskaus wäre.

Auf allen Seiten bildete sich die Haltung heraus, vermeintlichen oder tatsächlichen Provokationen der anderen Seite mit Härte begegnen zu müssen. Moskau betrachtet eine Gesprächsverweigerung des Westens und eine nationalistische Politik Kiews als Ursachen der Gewalt. Für den Westen hingegen waren es die Besetzung der Krim und massive Erpressungsversuche Moskaus. Eine Gewaltspirale kam in Gang. Der Westen und Russland unterstützten ihr jeweiliges Lager und sprachen der jeweils anderen Seite die moralische Integrität sowie legitime Interessen ab.

Kiew könnte vor einem baldigen Sieg stehen, die Ukraine wird gleichwohl nicht zur Ruhe kommen. Denn die innere Spaltung des Landes ist nicht von außen hervorgerufen.
 



II. Was wird geschehen, wenn Gewalt und Konfrontation anhalten?



Widmen wir uns zunächst dem Thema, welche Auswirkung dieses Szenarium auf die Ukraine hätte.

Zwei Varianten sind realistisch, zum einen: Die offene Konfrontation hält weitere Wochen oder gar Monate an, ohne dass einer der Kontrahenten entscheidend geschlagen wird. Der Westen und Russland würden in diesem Fall ihre teils offene, teils verdeckte Unterstützung des jeweils eigenen Lagers beibehalten und verstärken, falls ihm eine Niederlage droht. Dies wäre ein Szenario ähnlich wie in Syrien. Man müsste mit vielen tausend Opfern rechnen, insbesondere Zivilisten.

In der zweiten Variante brechen die Truppen Kiews den bewaffneten Widerstand ihrer Gegner, was derzeit (Mitte August) nicht unwahrscheinlich erscheint. In diesem Falle kämen vermutlich weniger Menschen ums Leben als bei einem Andauern der Kämpfe. Aber käme es zu Sicherheit und Stabilität? Dies wäre nur dann der Fall, wenn es Kiew gelänge, die Herzen der Menschen in der Ostukraine zu gewinnen. Dies war bislang nicht der Fall und wird aus zwei Gründen vermutlich auch nicht in näherer Zukunft geschehen:

Erstens: In Zeiten tiefer Krisen wird der Gegner dämonisiert, die eigene Seite hingegen übertrieben idealisiert. Dies erschwert die Versöhnung nach Waffengängen, insbesondere nach einem Bürgerkrieg. D.h.: Der Sieg über die großenteils russischsprachige Bevölkerung der Ostukraine wird vermutlich ausgekostet werden, statt weise Mäßigung zu zeigen. Der Klima wird vergiftet bleiben.

Die ukrainischen Politiker genießen auch kein hinreichendes Vertrauen, wie die Präsidentschaftswahl vom 25. Mai 2014 deutlich machte: Der Wahlsieger, der jetzige Präsident Poroschenko und die zweitplatzierte (Julija Timoschenko) erhielten zusammengenommen weniger Stimmen als allein Wiktor Janukowitsch bei der Präsidentschaftswahl 2010 erhalten hatte. 2004 hatten über 28 Millionen Menschen ihre Stimme abgegeben, 2014 waren es weniger als 18 Millionen.

Zweitens: Die Ukraine war bereits in den vergangenen Jahren der einzige Nachfolgestaat der Sowjetunion mit einem niedrigeren Pro-Kopf-Einkommen als 1991. Die wirtschaftliche und soziale Situation wird sich weiter verschlechtern. Nicht zuletzt aufgrund der Verwüstungen in der Ostukraine. Kiew wird in absehbarer Zeit nicht in der Lage sein, eine Zukunftsperspektive zu bieten. Die ukrainische Führung wird aus nachvollziehbaren Gründen vermutlich nicht die Mäßigung aufbringen können, die Bevölkerung der Ostukraine für sich einzunehmen. Sie wird womöglich auch nicht die Kraft besitzen, den Widerstandswillen der Gegner dauerhaft zu brechen. In diesem Fall droht ein langjähriger Untergrundkampf wie etwa in Nordirland oder im Baskenland. Oder noch weit Dramatischeres.


Welche Auswirkungen hätte eine anhaltende Gewalt in der Ukraine auf das westlich-russische Verhältnis?

Beide oben skizzierten Szenarien würden zu einer Verschlechterung der Beziehungen führen. Dies gilt selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Region in naher Zukunft dauerhaft zur Ruhe kommen sollte: Das Problem Krim bleibt ungelöst und würde vom Westen und Kiew thematisiert werden. Dies ist auch einer der Gründe, warum Moskau keinen einseitigen Sieg Kiews im Osten wünschen kann. Russland könnte auch direkt eingreifen, wenn die humanitäre Situation in der Ostukraine untragbar wird.


Welche Auswirkungen hätte eine anhaltende Konfrontation auf die Stellung des Westens und Russlands in der Welt?

Der Wohlstand, aber auch der außenpolitische Handlungsspielraum Russlands wird durch die westlichen Strafmaßnahmen empfindlich beeinträchtigt. In abgeschwächtem Maße gilt dies aber auch für den Westen: Die EU stellte Ende Juli fest, dass die verhängten Sanktionen auf die Länder der EU nur eine mäßige Wirkung ausüben würden, Russland jedoch hart treffen. Nach EU-Angaben würde das Wirtschaftswachstum in den Mitgliedsstaaten in diesem Jahr um 0,3 % vermindert werden, in Russland jedoch um 1,5 %. Für 2015 werden Zahlen von 0,4 % für die EU und 4,8 % für Russland angegeben.

Das bedeutet: Die geplanten Maßnahmen würden die Wirtschaftsleistung in den EU-Ländern in den letzten fünf Monaten dieses Jahres um knapp 20 Milliarden Euro vermindern. Im nächsten Jahr würden es etwa 60 Milliarden Euro werden. Die Rechnung für Russland lautet: bis zum Jahresende wird die Wirtschaftsleistung um ca. 10 Milliarden Euro niedriger ausfallen, im kommenden Jahr um über 80 Milliarden Euro. Auf Seite der EU werden also Kosten in Höhe von 80 Mrd. Euro in Kauf genommen, um bei Russland Ausfälle in Höhe von 90 Mrd. Euro zu verursachen.

Mittlerweile hat Russland Sanktionen gegen westliche Lebensmittellieferanten verhängt. Die durch die Sanktionen entstehenden Schäden werden weiter wachsen, auch, weil sie meist erst nach einigen Monaten ihre Wirkung entfalten.


Darüber hinaus drohen weitere Gefahren, einige sollen genannt sein:

  • Anfang August drohte die Ukraine Russland erstmals mit einem völligen Stopp des Gastransits nach Westeuropa. Etwa die Hälfte der russischen Gaslieferungen nach Mittel- und Westeuropa fließen durch die Ukraine.
  • Die Ukraine bezieht seit Mitte Juni kein Gas mehr aus Russland. Die Preisvorstellungen Kiews und Moskaus liegen nicht mehr weit auseinander, es kam aber noch keinem Vertragsabschluss. Wie sollen die Menschen den Winter überstehen?
  • Eine anhaltende Konfrontation könnte die Ukraine bereits im Winterhalbjahr in den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch führen. Die Ukraine hat bereits die Elektrizitätspreise um 40 % erhöht, wie vom Internationalen Währungsfonds gefordert. Soziale Leistungen wurden gekürzt, der Handelsaustausch mit dem bislang wichtigsten Handelspartner, nämlich Russland, ist zusammengebrochen. Die Währung der Ukraine hat in diesem Jahr 40% ihres Wertes eingebüßt, mehr als jede andere Währung weltweit.
  • Russland hat bislang den westlichen Afghanistantransit über sein Gebiet nicht behindert. Dies könnte sich ändern.
  • Der Westen hat Finanzsanktionen gegen Russland verhängt: Dies dürfte die Tendenz bei zahlreichen weiteren Ländern verstärken, ein Gegengewicht zum westlich dominierten Finanzsystem aufzubauen. Sie besäßen hierzu mittelfristig das Potenzial, anders als vor zehn oder 20 Jahren.
  • Der Westen und Russland werden auf lange Jahre kein Bündnis schließen, was 20 Jahre wiederholt möglich schien. Russland hat sich aber noch nicht dazu entschieden, einen anti-westlichen oder gar anti-europäischen Weg zu beschreiten. Dies wäre für Russland mit hohen Kosten und Risiken verbunden, aber bei einer weiteren Eskalation nicht auszuschließen. Sollte es sich der Westen erlauben, dass ein sehr wichtiges Land zum Gegner wird?

Sanktionen können dann sinnvoll sein, wenn sie die eigene Verhandlungsposition stärken sollen. Es gab bislang aber noch keinen Fall, dass ein mit Strafmaßnahmen belegtes Land sich für sein (angebliches oder tatsächliches) Fehlverhalten entschuldigt und allen Forderungen statt gegeben hätte.

Versuchen wir, einen Schritt weiter zu denken: Der Westen hat mehr Macht, aber aus russischer Sicht steht für das eigene Land weit mehr auf dem Spiel, sodass Moskau taktieren, aber nicht nachgeben wird. Was passiert, wenn dieser Fall eintritt? Ja, was sollte der Kreml konkret unternehmen? Die westlichen Forderungen, von der Krim abgesehen, sind durchaus unklar. Könnten die Aufständischen in der Ukraine einen Guerillakrieg beginnen, für den Moskau Verständnis zeigt? Welche weltwirtschaftlichen Auswirkungen könnten eintreten, falls Russland in schwere ökonomische Turbulenzen gerät?

Und: Sollte der Westen weitere Sanktionen verhängen? Wägen wir kurz die Konsequenzen ab: Falls gegen Russland ähnliche Öl-Exportbeschränkungen wie gegen den Iran verhängt werden sollten, stiege der Ölpreis deutlich an, um bis zu 80 Dollar je Barrel. Als die Sanktionen gegen den Iran verhängt wurden, exportierte er 2,5 Mio. Barrel täglich, Russland jedoch 7,2 Mio. Die Weltwirtschaft stünde vor dem Abgrund. – Und hierbei ist ein Stopp der Gaslieferungen noch gar nicht berücksichtigt. Zudem: Waren die Strafmaßnahmen gegen den Iran zielführend? Wie soll ein großes – und im Falle Russland sogar sehr großes Land – zum Nachgeben genötigt werden, wenn es seine Würde und nationale Sicherheit fundamental bedroht sieht?

Seit Monaten gibt es nur Verlierer: Die Menschen in der Ukraine, Russland, der Westen, die Vernunft und Menschlichkeit. Die Spirale aus einseitigen Maßnahmen, Strafmaßnahmen und Gewalt muss durchbrochen werden.

  • Sie hat tausenden Menschen das Leben gekostet.
  • Sie ist dabei, die Ukraine zu einem gescheiterten Staat zu machen.
  • Sie wird auf direkte und indirekte Weise Kosten in Höhe von zumindest hunderten Milliarden Euro verursachen.
  • Sie stärkt unverantwortliche Brandstifter in allen Teilen der Ukraine, in Russland – und im Westen.
  • Die Konfrontation schwächt die Aussichten auf eine Öffnung des politischen Systems und Demokraten in Russland. Auch viele der russischen Kritiker Putins sind auf einen „nationalen Kurs“ eingeschwenkt, auch führende Oppositionelle, die bis vor kurzem im Westen als Kronzeugen gegen Putin galten. Russland besitzt eine lange Tradition, sich gegen einen (tatsächlichen oder vermeintlichen) äußeren Feind zusammen zu schließen.
     


III. Auswege aus der Spirale von Gewalt und Sanktionen

 

Um aus der Spirale herauszufinden muss eine Grundvoraussetzung erfüllt sein: Es muss zumindest der Anschein vermieden werden, dass eine der Seiten uneingeschränkt den „Sieg“ davonträgt.

Eine Lösung muss folgende Eckpunkte umfassen:

  • Ein sofortiger Waffenstillstand in der Ostukraine.
  • Eine umgehende internationale Hilfe für die Menschen.
  • Die Ukraine erklärt sich bereit, den von der Schweiz vorgelegten Plan umzusetzen, das Land zu dezentralisieren und den Status der russischen Sprache beizubehalten.
  • Russland erklärt sich bereit, dass sich ukrainische Beamte auf der russischen Seite an der Kontrolle der Grenze beteiligen könnten, und zwar dort, wo auf der ukrainischen Seite die Separatisten die Kontrolle ausüben. Die Grenze sollte auch von OSZE-Beobachtern überwacht werden. Dies ist bereits am 2. Juli von den Außenministern Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine auf Initiative Steinmeiers vereinbart worden.
  • Eine Versöhnungskommission, die nach südafrikanischem Vorbild Verbrechen offen thematisiert, aber keine Strafverfolgungsmaßnahmen einleitet.
  • Russland wird einer wirtschaftlichen Kooperation zwischen der Ukraine und der EU keine Steine in den Weg legen.
  • Russland bietet der Ukraine eine Vereinbarung über langfristige Gaslieferungen zu international vergleichbaren Preisen an.
  • Kiew verpflichtet sich, einen NATO-Beitritt nur bei einer überwältigenden Zustimmung der Bevölkerung anzustreben. Die Hürde könnte beispielsweise bei 70% liegen. Dies macht die NATO-Mitgliedschaft sehr unwahrscheinlich, ohne sie formal auszuschließen.
  • Die NATO sichert zu, für einen Beitritt der Ukraine zwar offen zu bleiben, ihn aber nicht aktiv anzustreben.
  • Im Osten der Ukraine könnte eine Volksabstimmung durchgeführt werden, unter starker Präsenz von OSZE oder UN. Die territoriale Integrität der Ukraine stünde hierbei nicht zur Debatte, aber das Ausmaß der Selbstverwaltung der Region.
  • Die Entscheidung über den endgültigen Status der Krim wird auf ein zweites Referendum verschoben. Dies sollte nach einer Übergangsphase unter internationaler Aufsicht und nach internationalen Verfahrensstandards abgehalten werden. Für die Übergangsphase bliebe die Krim Teil Russlands.
  • Eine einvernehmliche Wiederholung der Abstimmung würde allen Parteien ermöglichen, die Probleme der Ukraine gemeinsam anzugehen, ohne ihre unterschiedlichen Positionen zur Rechtmäßigkeit des ersten Referendums aufgeben zu müssen. Während Russland die Angliederung der Halbinsel somit unter den Vorbehalt einer erneuten Zustimmung in einem international anerkannten Verfahren stellen müsste, würden Kiew und der Westen den gegenwärtigen Zustand für diese Übergangszeit akzeptieren und den Bewohnern der Krim ein Selbstbestimmungsrecht einräumen. Es sollte klargestellt werden, dass die Ausübung dieses Rechts aus dem historischen Sonderstatus der Krim herrührt. Somit würde ein Präzedenzfall mit Auswirkungen auf Gebietskörperschaften anderer ukrainischer Regionen verhindert.
  • Russland leistet der Ukraine Entschädigungszahlungen für den Verlust von Anlagen auf der Krim oder verrechnet diese mit nicht beglichenen Ansprüchen aus Gaslieferungen.

Diese Liste ist unvollständig und viele Fragen bleiben offen. Eines ist jedoch sicher: Eine anhaltende Konfrontation ist mit zu großen Risiken behaftet, um eine ernsthafte Alternative zu einem für alle Seiten gesichtswahrenden Kompromiss zu sein.
 



Dr. Christian Wipperfürth

 

Quellen:  Dieser Artikel erschien vormals auf meinem Blog und bei russland.RU

russland.RU berichtet in Wort und Bild aus Russland und über Russland. Ungebunden, unabhängig und überparteilich. Ohne Vorurteile und Stereotypen versucht russland.RU Hintergründe und Informationen zu liefern um Russland, die Russen und das Leben in Russland verständlicher zu machen. Da wo die großen Verlage und Medienanstalten aufhören, fängt russland.RU an.


Bild- und Grafikquellen:

 

1. Feindbild böser Russe: Wladimir Putin and Russian bear vs. USA, NATO and EU. Grafik: David Deese, commercial artist, Oregon/USA. > Webseite > Infos zu David Dees

 

2. Pro-Russische Proteste in Donetsk, Ukraine, aufgenommen am 01.03.2014. Fotograf: Andre Butko. Butko ist von der russischen Wikipedia und bekannt für Qualitätsfotos. Quelle: Wikimedia Commons > Einzelbild. Diese Datei ist unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported lizenziert.

 

3. Pro-Russische Proteste in Donetsk, Ukraine, aufgenommen am 09.03.2014. Fotograf: Andre Butko. Butko ist von der russischen Wikipedia und bekannt für Qualitätsfotos. Quelle: Wikimedia Commons > Einzelbild. Diese Datei ist unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported lizenziert.