Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus

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Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus
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Digitale Selbstüberwachung.

Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus

simon_schaupp_digitale_selbstueberwachung_im_kybernetischen_kapitalismus_kritisches_netzwerk_graswurzelrevolution_ueberwachung_zeitmanagement_disziplin_self-tracking.jpgSelf-Tracking und das Quantified-Self-Movement sind zu einem schnell wachsenden Trend geworden. Immer mehr Menschen überwachen mittels tragbarer digitaler Geräte minutiös ihren Lebenswandel, von der Arbeit bis zum Schlaf, vom Sport bis zum Sex - und das freiwillig.

Simon Schaupps Studie Digitale Selbstüberwachung geht diesem Trend kritisch auf den Grund. Er stellt dabei die Self-Tracker_innen nicht als obsessive Nerds dar, sondern fragt nach den gesellschaftlichen Ursachen für diese Praxis: Welche politischen und ökonomischen Strukturen machen es notwendig, sich permanent selbst zu überwachen und zu optimieren?

Um diese Frage zu beantworten, verfolgt Schaupp die Selbstoptimierung auf der Grundlage von Feedbackschleifen zu ihren historischen Wurzeln in der kybernetischen Steuerungstheorie zurück und skizziert eine Theorie des kybernetischen Kapitalismus. Dabei wird deutlich, dass die Allgegenwart miniaturisierter vernetzter Computer unsere Gesellschaft grundlegend verändert. Nicht nur verschmelzen Kommunikation und Warenproduktion immer mehr zu ein- und demselben Prozess, sondern es bildet sich auch eine neue Form sozialer Kontrolle heraus, die wesentlich auf permanenten (digitalen) Feedbacks gründet.

Das Self-Tracking wird hier als Ausdruck der Entwicklung hin zu einem kybernetischen Kapitalismus analysiert, die verstehen sollte, wer die Funktionsweise von Herrschaft in hoch technisierten Gesellschaften durchschauen will.

Inhalt

Vorwort: Wie ich unfreiwillig zum Self-Tracker wurde

Einleitung: Wenn du den Feind, also dich selbst kennst

Zum Verhältnis von Gesellschaft, Technologie und Subjekt
Digitale Technologie im Kontext von Militär und Kapitalismus
Das Dispositiv
Das technologische Mikrodispositiv

Einsatzbereiche des Self-Tracking
Sport
Gesundheit/Diät
Zeitmanagement
Disziplin
Persönliches Rating
Allgemeine Datenkorrelation
Gemeinsamkeiten der Self-Tracking-Anwendungen

Kybernetischer Kapitalismus
Der Postfordismus und seine Notstände
Genealogie des kybernetischen Kapitalismus
Information und Kapital
Das Subjekt des kybernetischen Kapitalismus

Self-Tracking als homöostatisches Rückkopplungsmodul

Zusammenfassung: "Konstruiere dich selbst!"

Literatur

► Einleitung: Wenn du den Feind, also dich selbst kennst (Textausschnitt)

Das Ausspionieren politischer Gegner_innen ist beinahe so alt wie die Politik selbst. Schon das älteste Militärhandbuch der Welt, Sunzis "Die Kunst des Krieges" aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., weist die Spionage als einen der sechs Grundpfeiler erfolgreicher Kriegsführung aus. "Wenn du den Feind und dich selbst kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten", heißt es dort. Neben dem bloßen Informationsgewinn hat die Überwachung immer auch eine Disziplinarfunktion erfüllt. Wenn wir wissen, dass wir beobachtet werden, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass wir uns so verhalten wie es von uns erwartet wird. Der Google-Manager und Obama-Berater Eric Schmidt brachte dieses Verhältnis mit folgenden programmatischen Worten auf den Punkt: "Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass irgendwer es über Sie weiß, dann sollten Sie es vielleicht erst gar nicht tun." [1]

simon_schaupp_digitale_selbstueberwachung_im_kybernetischen_kapitalismus_kritisches_netzwerk_graswurzelrevolution_ueberwachung_zeitmanagement_disziplin_self-tracking.jpgIn einer Zeit, in der die geheimdienstliche Totalerfassung digitaler Kommunikation zur Normalität geworden ist und in der Großkonzerne Profile ihrer Kund_innen anlegen, die an Genauigkeit das kriminologische Profiling noch übertreffen, [2] hat sich eine neue Form der Überwachung herausgebildet. Diese neue Überwachung stellt eine kritische Perspektive vor allem deshalb vor neue Herausforderungen, weil sie die alten Gegensätze von Überwachenden und Überwachten aufzulösen scheint: Die digitale Selbstüberwachung, auch Self-Tracking genannt, die gegenwärtig einen wahren Boom erfährt. Laut einer Emnid Studie aus dem Jahr 2013 wollen 73 Prozent der Briten_innen und 62 Prozent der Deutschen gesundheitsbezogene Parameter mittels Self-Tracking überwachen. Die Hälfte der befragten Deutschen interessieren sich außerdem für Daten zu sportlichen Aktivitäten und zu ihrer Bilanz von aufgenommenen bzw. verbrannten Kalorien. Insbesondere jüngere Menschen wollen sich dabei nicht nur selbst überwachen, sondern vor allem optimieren: Beinahe zwei Drittel der befragten Jugendlichen wollen auf Grundlage der Daten ihre Leistung steigern oder sogar ihr Leben ändern.

Begonnen hat der Trend mit den Schrittzählern für Jogger_innen, die mittlerweile meist als App ins Smartphone integriert sind, und neben den Schritten auch die Herzfrequenz, verbrauchte Kalorien und allerlei mehr zählen. Da das Smartphone ja gleichzeitig auch MP3-Player, GPS-Peilsender, Wetterstation, Tagebuch und vieles mehr ist, können dabei allerlei Daten korreliert werden. So kann ich nach wenigen Jogging-Runden erfahren, dass ich die beste Leistung erziele, wenn ich bei 16 Grad im Wald laufe, die Toten Hosen höre, in melancholischer Stimmung bin und die letzte Mahlzeit zwei Stunden zurückliegt. Diese Daten können dann ins Facebook-Profil integriert werden oder auf der Website des jeweiligen Anbieters z.B. in Rankings angezeigt werden. Tue ich das, so kann meine Joggingroute live mitverfolgt werden und meine Freund_innen können mich per Facebook anfeuern - was mir über die Kopfhörer meines Smartphones als frenetischer Applaus eingespielt wird.

Das Self-Tracking ist längst nicht mehr auf den Sport beschränkt. Beliebt ist beispielsweise auch die Zeitmanagement-Software. Diese misst, wie viel Zeit die Nutzer_innen mit verschiedenen Tätigkeiten verbringen und errechnet auf dieser Grundlage, wie "effizient" sie dabei sind - und wo sie sich verbessern sollten. Die größten Anbieter von Zeitmanagement-Software sind RescueTime und TimeDoctor. Alleine RescueTime wird von knapp einer Million Personen genutzt. Den Nutzer_innen werden statistische Auswertungen ihrer Aktivitäten am Computer geliefert. Diese Statistiken werden in sogenannte "Produktivitäts-Punkte" umgerechnet, die dann mit anderen Nutzer_innen in Rankings verglichen werden können. Unter diesen sind dann Kommentare zu lesen wie: "Ich schlafe durchschnittlich nur vier Stunden und 48 Minuten, aber ich habe immer noch zu wenig Zeit. Was soll ich tun?"

Außerdem verfügen die Programme über "Motivationshilfen" wie Alarme, die ausgelöst werden, wenn zu viel Zeit auf eine bestimmte Aufgabe verwendet wird, oder virtuelle "Orden", die für Hochleistungen freigeschaltet werden. Darüber hinaus können bestimmte "ablenkende" Webseiten gesperrt werden, so lange nicht ein bestimmtes Maß an Arbeit geleistet wurde. Die sogenannten "Team-Versionen" der Programme können zudem von Vorgesetzten dazu genutzt werden, genau zu überwachen, was ihre Untergebenen wann tun und ihnen gegebenenfalls mit der sogenannten "nudge"-Funktion [3] mitteilen, dass ihre mangelhafte Produktivität bemerkt wurde.

Das Einsortiertwerden in Rankings ist ein wesentlicher Bestandteil des Self-Tracking. Einige Anwendungen sind sogar ausschließlich darauf ausgerichtet - eine Art Rating-Agenturen für Privatpersonen.

Red. graswurzelrevolution

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[1] Zitiert nach Ellerbrok, Ariane (2011): Playful Biometrics. Controversial Technology through the Lens of Play. In: The Sociological Quarterly 52, S. 528-547, hier S. 528, -Übers. d. A.

[2] Bittner, Peter et al. (Hg.) (2014): Gesellschaftliche Verantwortung in der digital vernetzten Welt. Lit-Verlag, Berlin.

[3] "nudge" lässt sich etwa mit "anstupsen" übersetzen, hat sich aber auch als Bezeichnung für behavioristische, anreizbasierte Steuerungsansätze eingebürgert.

1. Buchcover: "Digitale Selbstüberwachung: Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus" von Simon Schaupp; Verlag Graswurzelrevolution; ISBN 978-3-939045-29-8; 160 Seiten, 10 Illustrationen; 14,90 Euro; > http://www.graswurzel.net/verlag/digital.php

2. Die schwarze Fahne ist ein traditionelles anarchistisches Symbol. Urheber: Jonathan Spangler. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 3.0 nicht portiert“ lizenziert.



Quelle: Erstveröffentlicht auf graswurzel.net im Verlag Graswurzelrevolution, November 2016 > Buchvorstellung. Bei Interesse bitte GWR unterstützen - weiter.

graswurzelrevolution

1. Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft

2. tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, in der durch Macht von unten alle Formen von Gewalt und Herrschaft abgeschaft werden sollen.

anarchismus_schwarze_fahne_anarchy_authority_herrschaft_hierarchie_freiheit_selbstbestimmung_revolution_kritisches_netzwerk_widerstand_staatsgewalt_resistance_pluralismus_anarchie.pngWas bedeutet Graswurzelrevolution?

Graswurzelrevolution bezeichnet eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, in der durch Macht von unten alle Formen von Gewalt und Herrschaft abgeschafft werden sollen. Wir kämpfen für eine Welt, in der die Menschen nicht länger wegen ihres Geschlechtes oder ihrer geschlechtlichen Orientierung, ihrer Sprache, Herkunft, Überzeugung, wegen einer Behinderung, aufgrund rassistischer oder antisemitischer Vorurteile diskriminiert und benachteiligt werden.

Wir streben an, daß Hierarchie und Kapitalismus durch eine selbstorganisierte, sozialistische Wirtschaftsordnung und der Staat durch eine föderalistische, basisdemokratische Gesellschaft ersetzt werden. Schwerpunkte unserer Arbeit lagen bisher in den Bereichen Antimilitarismus und Ökologie.

Unsere Ziele sollen - soweit es geht - in unseren Kampf- und Organisationsformen vorweggenommen und zur Anwendung gebracht werden. Um Herrschafts- und Gewaltstrukturen zurückzudrängen und zu zerstören, setzen wir gewaltfreie Aktionsformen ein. In diesem Sinne bemüht sich die anarchistische Zeitung Graswurzelrevolution seit 1972, Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution zu verbreitern und weiterzuentwickeln.