Florence Hervé: »Ich werde diese Auszeichnung nicht annehmen«, Herr Gauck

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Florence Hervé: »Ich werde diese Auszeichnung nicht annehmen«, Herr Gauck
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»Ich werde diese Auszeichnung nicht annehmen«


Die seit Jahrzehnten engagierte Vertreterin der Frauenbewegung, Frau Dr. phil. Florence Hervé, wurde das Bundesverdienstkreuz am Bande zuerkannt. In einem Brief an Bundespräsident Joachim Gauck begründete die Feministin und Publizistin am Mittwoch ihre Ablehnung.

Herzlichen Dank an Frau Hervé für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung des Briefes im Kritischen Netzwerk.
 



Monsieur le Président, *

laut Anfrage durch das Büro des Oberbürgermeisters in Düsseldorf vom 10. Juni 2014 soll mir das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen werden und die öffentliche Verleihung dieser Auszeichnung heute, am 2. Juli 2014, im Düsseldorfer Rathaus erfolgen.

Mit dieser Auszeichnung von Seiten des Herrn Bundespräsidenten soll meine langjährige ehrenamtliche Arbeit in Sachen Frauenpolitik, deutsch-französischer und internationaler Zusammenarbeit anerkannt und gewürdigt werden – ein Engagement, das sich häufig im Gegensatz zur Politik der jeweiligen Bundesregierung befindet.

Ich werde diese Auszeichnung nicht annehmen.

Wichtigste Anliegen waren und sind mir die Emanzipation der Frau, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit, der Frieden und die Solidarität mit den Völkern der Welt, die deutsch-französische Zusammenarbeit, auch im Sinne einer gründlichen Aufarbeitung der NS-Zeit. Dementsprechend habe ich versucht, mich in den vergangenen Jahrzehnten zu verhalten und einzubringen – zumeist gegen die vorherrschende politische Praxis. Das betraf mein Engagement gegen den Paragraphen 218 ebenso wie den Einsatz gegen die von den damaligen Regierungen in Bonn praktizierten Duldungen der faschistischen Regime in Griechenland, Spanien, Portugal und 1973 auch Chile.

Es widerstrebt mir, eine Auszeichnung vom höchsten Repräsentanten eines Staates anzunehmen, dessen Regierungen selten den Eindruck erweckten, an der Beseitigung von Diskriminierung, sozialer Ungleichheit, an dauerhafter Abrüstung und einer friedensfördernden, gleichberechtigten Zusammenarbeit mit anderen Staaten interessiert zu sein. Derzeit nimmt indes beispielsweise die Frauenarmut wieder zu, an Kindereinrichtungen und Kinderbetreuung wird gespart, die Sorgearbeit wird nach wie vor überwiegend von Frauen geleistet, oft unter prekären Bedingungen und gering entlohnt. Kinder werden so zum »Armutsrisiko«, und Alter wird als »Problem« bezeichnet. Zugleich orientiert sich die offizielle Politik in erster Linie an den »Top-Girls« – und eben nicht an der Mehrheit der Frauen. Die wenigen Fortschritte mußten von Initiativen und Bürgerinnen und Bürgern, von Basisbewegungen und Gewerkschaften erstritten werden.

Als ich Mitte der sechziger Jahre als junge Mutter begann, mich zu engagieren, war es schwierig, Familie, Partnerschaft und Berufstätigkeit zu vereinbaren. Zwar wurden inzwischen einige Verbesserungen erzielt, doch entsprechen diese in keiner Weise dem Reichtum dieses Landes. Frauen stehen heute immer noch vor der Entscheidung »Kinder oder Beruf«. Das Erziehungsgehalt (»Herdprämie«) fördert diese Erscheinung und führt zu sozialer Ausgrenzung vieler Kinder gerade aus einkommensschwachen Schichten.

Inzwischen werden Frauen zum Dienst in der Bundeswehr zugelassen, mit dem fadenscheinigen Gleichstellungsargument, was viele von uns – darunter auch ich – in den 1980er Jahren entschieden kritisiert haben. Heute werden Frauen als Soldaten in Kriegsgebiete geschickt. Zudem sollen sie die Bundeswehr »weiblicher« machen und sie »familienfreundlicher« erscheinen lassen. Was haben Kampfeinsätze mit Familienfreundlichkeit zu tun, was mit Emanzipation? »Wir wollen keine Kriege lindern, sondern verhindern«, hieß es schon damals. Wir brauchen keine Bundeswehrsoldaten – auch nicht weibliche – im Schulunterricht, sondern eine konsequente Friedenserziehung.

Sogenannte humanitäre Interventionen, an denen auch die Bundeswehr beteiligt war und ist, haben sich längst als inhuman erwiesen. Erinnert sei nur an Kundus und den Kosovo-Krieg. Die Opfer sind in besonderem Maße unbeteiligte Zivilisten, Frauen und Kinder. Die Zunahme des Rüstungsexports und die angekündigte stärkere, notfalls auch militärische Interventionspolitik stehen im Widerspruch zu einer Politik des Friedens. »Die Waffen nieder« rief schon die österreichische Friedenskämpferin Bertha von Suttner vor 125 Jahren.

Der Waffenexport der Bundesrepublik – häufig sogar in Konfliktregionen – trägt nicht zum friedlichen Zusammenleben der Völker bei. Das stimmt für die Vergangenheit mit Lieferungen von Waffen an den NATO-Partner Türkei im Kampf gegen die Kurden ebenso wie für jetzt, da Panzer und andere Waffen in die Golf-Diktaturen Katar und Saudi-Arabien verkauft werden. Das gilt auch für die Lieferung von atomwaffenfähigen U-Booten an Israel.

Sie, Monsieur le Président*, fordern ein stärkeres Engagement in Afrika – auch im Sinne militärischer Einsätze. Dies hat mit einem friedlichen Zusammenleben wenig zu tun. Vonnöten wäre dagegen eine Aufarbeitung der historischen Verantwortung für die anhaltende Ungleichheit und Ausbeutung der betroffenen Länder vor dem Hintergrund der deutschen Kolonialgeschichte. Zum Beispiel gegenüber dem heutigen Namibia: Es gab 2004 eine symbolische Geste der Entschuldigung für den 1904 begangenen Völkermord an den Hereros durch die damalige Ministerin für Entwicklung und Zusammenarbeit. Dabei blieb es bis heute. Weder Entschädigung noch Wiedergutmachung folgten.

Auch Ihre Geste in Oradour-sur-Glane im September 2013 – fast 70 Jahre nach dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die SS-Division »Das Reich« – blieb leider nur symbolisch. In Ihrer Rede erklärten Sie, mit den Überlebenden und den Familien der Opfer die Bitterkeit darüber zu teilen, »daß die Mörder nicht zur Verantwortung gezogen wurden, daß schwerste Verbrechen ungesühnt bleiben«. Was folgte daraus? Eine tatsächliche Aufarbeitung der Verbrechen deutet sich nicht an. Am 10. Juni 2014 fand nicht einmal ein offizielles Gedenken statt. Auch wurde bisher wenig unternommen, an deutschen Schulen künftige Generationen über das Verbrechen von Oradour aufzuklären.

Eine unzureichende Aufarbeitung der Nazivergangenheit, eine nicht konsequente Bekämpfung des offenen und latenten Neonazismus und Rassismus und eine unzureichende Anerkennung des antifaschistischen Widerstands – über den 20. Juli 1944 und die Weiße Rose hinaus – kennzeichnen leider weiterhin die Politik und das Geschichtsverständnis der Bundesrepublik. Würde ich die Auszeichnung annehmen, befände ich mich zudem in einer Reihe mit solchen früheren Preisträgern, die Nazis bzw. Nazitäter waren. Soweit mir bekannt ist, wurde bis auf eine Ausnahme keinem von ihnen nachträglich das Verdienstkreuz aberkannt. Das wäre im übrigen ein leicht machbares Unterfangen, das zudem der Geschichtsaufarbeitung diente.

Schließlich möchte ich nicht den Eindruck vermitteln, ich hätte meinen Frieden mit dieser Politik geschlossen.

Zahlreiche Menschen haben sich dafür eingesetzt, daß ich diese Auszeichnung erhalte. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich. Ich betrachte es als Ermutigung, auch künftig einzutreten für ein menschenwürdiges, gleichberechtigtes Leben von Frauen und Männern, gegen die Tolerierung von sexueller Ausbeutung und sozialer Ausgrenzung von Frauen, für ein friedliches Zusammenleben der Völker.

Ich verbinde meine Verweigerung der Annahme des Bundesverdienstkreuzes am Bande mit dem Wunsch, daß sich in der künftigen Politik dieses Staates die Ziele meines Engagements widerspiegeln.

Mit freundlichen Grüßen,

Florence Hervé

* Die Ansprache »Monsieur le Président« wähle ich in Anlehnung an das antimilitaristische Gedicht und Chanson von Boris Vian »Le déserteur« (1954), das zum zivilen Ungehorsam und zu gewaltloser Verweigerung des militärischen Einberufungsbefehls aufrief.
 



Quelle: Die Tageszeitung "junge Welt" vom 03.07.2014, Ausgabe Nr. 151 > junge Welt > Brief an J. Gauck 

Foto: Florence Hervé / Medienfoto. © Thomas A. Schmidt

► Informationen über Frau Dr. phil. Florence Hervé:

Florence Hervé, geboren am 17. April 1944 in Boulogne-sur-Seine, südwestlich von Paris und aufgewachsen im Pariser Vorort Ville d'Avray. Nach dem Abitur studierte sie Germanistik in Bonn, Heidelberg und Paris. 1963 erhielt sie am Dolmetscher-Institut Heidelberg ihr Übersetzerin-Diplom und 1972 in Paris das Diplom Mémoire de Maîtrise. 1976 hat sie in Paris promoviert.

Hervé ist in erster Linie als Vertreterin der Frauenbewegung bekannt geworden; ihre breit gefächerten Interessen auf unterschiedlichen Gebieten zeigen darüber hinaus eine vielschichtige Persönlichkeit. Auch wenn Angelegenheiten um, von und mit Frauen das zentrale Anliegen Florence Hervés sind, so hat sie sich außerdem in politischen, soziologischen, historischen und künstlerischen Gebieten profiliert. Das Spektrum ihrer Interessen und Tätigkeitsfelder erweitert sich kontinuierlich.

Florence Hervé bewegt sich in einem Raum zwischen Wissenschaft und Journalismus. Neben Artikeln und Interviews für deutsche und französische Zeitungen liefert sie seit 1993 auch Beiträge für den Rundfunk. Zu der eher abstrakten wissenschaftlichen Arbeit bildet das mehr auf den konkreten Menschen ausgerichtete Journalistische mit seinem unmittelbaren und praktischen Ansatz einen positiven Kontrapunkt. Umgekehrt erschließt sich über einen journalistischen Ansatz oftmals ausreichend Stoff für eine tiefer gehende wissenschaftliche Aufarbeitung.

Frauenpolitisches Engagement

Durch die Verzahnung von politischem und auf Frauen bezogenem Engagement eröffnet sich früh ein weites Arbeitsgebiet für die seit 1969 freiberuflich tätige Publizistin. Das Engagement für die Rechte der Frauen erwächst aus eigenen Erfahrungen: aufgewachsen in einer zwar konservativen, aber verhältnismäßig weltoffenen Familie beginnt Florence Hervé sehr früh ein Studium der Germanistik in Bonn, das von einer 1963 mit Diplom abgeschlossenen Dolmetscherausbildung in Heidelberg unterbrochen wird. Durch eine kurz danach geschlossene Ehe und die Geburt zweier Töchter gerät sie in ein kaum zu lösendes Dilemma zwischen Studium und Familie. Neben dem 1972 abgeschlossenen Fernstudium an der Universität Nanterre (Paris) entwickelt Florence Hervé eigene Initiativen; ihr Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit führt zu einer politischen Sensibilisierung wie Radikalisierung.

Ihre politische Tätigkeit während und nach der Studentenbewegung versteht sich als Kampf gegen Unrecht und gilt vor allem der Arbeiter- und der Frauenbewegung. Die Diskriminierung als Frau auch in den politischen Gruppierungen der Studentenbewegung führt 1969 zur Beteiligung an der Gründung des einflussreichen 'Arbeitskreis Emanzipation’(AKE) in Bonn, an dem sich Florence Hervé in den folgenden Jahren maßgeblich beteiligt. Neben der programmatischen Forderung nach Befreiung der Frau werden konkrete Problemfelder bearbeitet, um u.A. die Bildungs- und Berufschancen von Frauen zu hinterfragen und zu verbessern.

Florence Hervé engagiert sich seit Jahrzehnten in der nationalen (DFI) und internationalen (IDFF) Frauenbewegung; bis heute ist sie deren Zielen und Inhalten in vielfältiger Weise verbunden. Diese Vertretung eines marxistisch orientierten Feminismus setzt für die Durchsetzung der Rechte der Frau eine Überwindung des kapitalistischen Systems voraus.

Besonders wichtig sind Florence Hervé stets Kontakte mit Gruppierungen im Ausland und eine auch internationale Koordination der Aktivitäten zwecks Erweiterung der Möglichkeiten und Stärkung der Durchsetzungskraft. Deshalb besucht sie Frauenkonferenzen und unternimmt Vortragsreisen in Europa.

Bei aller Sensibilisierung für politische Hintergründe und größere theoretische Zusammenhänge bleibt immer der Praxisbezug von zentraler Bedeutung. Deshalb beteiligt sich Florence Hervé an konkreten Projekten, so z.B. einer Fraueninitiative zugunsten der kurdischen Abgeordneten Leyla Zana, deren Schicksal als politische Gefangene in türkischen Gefängnissen Hervé auch in Vorträgen publik machte.

Quelle u.a.: Heinrich Heine Universität, Düsseldorf > bitte hier weiterlesen


Florence Hervé veröffentlichte zahlreiche Sachbücher: (hier nur eine kleine Auswahl!):


⇒ Flora Tristan oder: Der Traum vom feministischen Sozialismus. Karl Dietz Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-320-02293-8

⇒ Clara Zetkin oder: dort kämpfen, wo das Leben ist. Dietz Verlag, Berlin 2007 / 2011, ISBN 978-3-320-02262-4

⇒ Adélaïde Hautval: Medizin gegen die Menschlichkeit. Dietz Verlag, Berlin 2008, ISBN 978-3-320-02154-2 (zus. mit Hermann Unterhinninghofen)

⇒ Absolute Simone de Beauvoir. Verlag Orange Press, Freiburg 2003, ISBN 3-936086-09-5 (zus. mit Rainer Höltschl)

⇒ Geschichte der deutschen Frauenbewegung. PapyRossa Verlag Köln 2000, 7., verb. und überarb. Aufl., ISBN 3-89438-084-5 (zus. mit Buchholz-Will, Wiebke)


Ihr neuestes, erst vor wenigen Tagen veröffentlichtes Buch "Oradour - Geschichte eines Massakers / Histoire d’un massacre", ISBN 978-3-89438-554-5, erschien im PapyRossa Verlag, Köln. Wir werden es hier in Kürze vorstellen.

Florence Hervé hat zwei erwachsene Töchter. Sie lebt und arbeitet in Düsseldorf und im Département Finistère / Region Bretagne, F

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