Fragen an Angela Merkel

1 Beitrag / 0 neu
Bild des Benutzers Kai Ehlers
Kai Ehlers
Offline
Verbunden: 18.07.2014 - 21:31
Fragen an Angela Merkel
DruckversionPDF version

Fragen an Angela Merkel


Unter dem Titel „Eine Islamisierung Deutschlands sehe ich nicht“ und dem breiten Untertitel: „Ein Gespräch mit Bundeskanzlerin Merkel über die Konsequenzen aus dem Terroranschlag in Frankreich, die Trennlinie zwischen Islam  und Islamismus, das Selbstbewusstsein der Christen, Pegida und AfD, den Konflikt mit Russland – und über die zunehmende Abwendung von Europa“ – war in der FAZ am 16. Januar 2015 ein ausführliches Gespräch mit Angela Merkel zu lesen. Fragesteller: Berthold Kohler.

Vorausgeschickt sei, dass Angela Merkel weder Theologin, noch Prophetin noch allwissend ist – und diesen Anspruch in dem Gespräch auch nicht stellt. Das ist ihr positiv anzurechnen. Dabei könnte man es eigentlich schon bewenden lassen.

Aber wenn in dem Gespräch auch keine endgültigen Wahrheiten verbreitet werden, so tauchen darin doch unfreiwillige Offenbarungen auf, an denen der aufmerksame Zeitgenosse nicht vorbeigehen kann, zumal hier kein geglätteter Ghostwriter wiedergegeben wird, sondern O-Ton Angela Merkel, die sich hier als „Kanzlerin aller Deutschen“ vorstellt – eine Formulierung übrigens, die zuletzt der deutsche Kaiser Wilhelm II. gebrauchte.

Beginnen wir brav mit dem Anfang und genießen wir die Choreografie des Gespräches:

Ein „Signal der Solidarität und Entschlossenheit“ über „nationale, Partei- und Religionsgrenzen hinweg“, erklärt Angela Merkels eingangs, sei von dem Trauermarsch in Berlin und der Mahnwache vor dem Brandenburger Tor ausgegangen. In diesen Tagen spüre man: „Die Freiheit, das ist für die allermeisten Menschen ein Lebensbedürfnis. Wir sind uns bewusst, dass die von früheren Generationen erkämpfte Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit nicht für alle Zeiten garantiert ist, sondern  dass jede Generation neu für diese Werte eintreten muss.“ – Laut gebrüllt, Löwin! möchte man sagen!

Aber dann antwortet Angela Merkel im hinteren Teil des Gespräches auf die Frage des Interviewers ob Russland an dem bevorstehenden G7-Gipfel auf Schloss Elmau als achter Teilnehmer dabei sein werde: Nein, das sehe sie im Augenblick nicht. Und wortwörtlich: G 7 und früher G 8 haben sich immer als Wertegemeinschaft gesehen. Die Annexion der Krim, die eine eklatante  Verletzung des Völkerrechts darstellt, und das Geschehen in der Ostukraine sind schwerwiegende Verstöße gegen die gemeinsamen Werte.“
 

 

Ganz zu schweigen davon, dass in dem Gespräch wieder einmal „Islamismus“ und Russlands „Aggression“ in einer Choreographie miteinander verbunden werden, so dass nur noch Ebola als dritte in der von Obama gestifteten Troika der globalen Bedrohungen fehlt, stellt sich hier die doppelte Frage: Erstens – welche Werte der G 7 / G 8 hat Frau Merkel im Sinn? Und zweitens, warum gehört Russland nicht mehr dazu? Die „Annexion der Krim“ [siehe hierzu Pkt. 4] kann´s ja nicht sein, ebenso wenig „das Geschehen in der Ostukraine“, denn nach solchen Kriterien wäre die G 7 mit dem NATO-Angriff auf Jugoslawien, nach Kosovo, nach dem Irak-Krieg, nach Libyen schon längst auf eine G-Null zusammengeschnurrt. Es erhebt sich also die Frage: Wovon soll Russland ausgegrenzt werden?
 

 

Lassen wir die Frage einmal so stehen. Schauen wir weiter, wie Angela Merkel „Solidarität und Entschlossenheit“ verteidigen will. „Wir tun  alles“, erklärt sie, „was in unseren Möglichkeiten steht, damit so etwas in Deutschland nicht geschieht… Völlig ausschließen können wir einen solchen Anschlag aber auch in Deutschland nicht“, fährt sie auf die Frage fort, was „wir dagegen tun“ können, dass sich solche Anschläge wie in Paris nicht auch in Deutschland ereigneten. Und dann zählt sie auf, was „wir brauchen“: Ersatz-Personalausweise, besseren Grenzschutz, intensivere Kooperation der Nachrichtendienste u.a.m.

Und nicht zuletzt, weil es ja „noch eine andere Ebene als die Sicherheitsdienste“ gebe: „die aufmerksame Zivilgesellschaft, die genau hinschaut, zum Beispiel, wenn es Auffälligkeiten in Moscheen gibt. Eltern und Freunde, die bemerken, dass ein junger Mensch unter schädlichen Einfluss gerät, sollten sich nicht scheuen, sich gegenüber staatlichen Stellen zu äußern, dass hier etwas schiefläuft. Ich verstehe, wie schwierig das für Eltern und Geschwister ist, aber sie sollten es tun. Je früher man eine solche Veränderung entdeckt, desto besser kann darauf reagiert werden.“

Recht hat sie wieder, die Kanzlerin, völlig auszuschließen sind solche Anschläge auch für Deutschland nicht. Recht hat sie auch, wenn sie die islamische Geistlichkeit auffordert, zur „Klärung der berechtigten Frage“ beizutragen, wie es möglich sei, dass Menschen sich für Morde auf den Islam berufen können. Es müsse klar unterschieden werden zwischen islamistischen Gewalttätern und Muslimen. Recht hat sie, wenn sie eine intensivere Integrationspolitik fordert. Und Recht hat sie, wenn sie gegen islamophobe Demagogie wie die der „Patrioten Europas gegen eine Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA)  erklärt, der Islam sei „ein Teil unseres Landes“.

Aber ist es so, dass „wir alles tun, was in unseren Möglichkeiten steht“, wie Angela Merkel uns weismachen will, selbst wenn die Bemühungen in den genannten Problembereichen noch verstärkt würden? Nein, tun wir natürlich nicht. Und Angela Merkel weiß es. Auf die Frage des Interviewers, woher dieser Hass heute komme antwortet sie: „Die Welt ist voller Konflikte, und wir erleben in den letzten Jahren, dass die Globalisierung, von der wir in so vieler Hinsicht profitieren, diese Konflikte näher an uns heranrückt. Es ist wichtiger denn je, Entwicklungshilfe zu betreiben, und zum Beispiel gerade auch in Afrika die Fluchtursachen zu bekämpfen.“

Ja, in der Tat – wir profitieren! Wenn auch das "Wir" dabei zu differenzieren ist. Und in der Tat, die Konflikte rücken näher an uns heran. Aber dies geschieht, je mehr auch Deutschland wieder dazu übergeht, seine Profitinteressen weltweit durch Militäreinsätze abzusichern. In dem Maße werden sich die Kritik, die Verzweiflung und schließlich der Hass derer, die sich ausgebeutet, ausgegrenzt und unterdrückt sehen, als Terror auch gegen Deutschland wenden.

Hier wäre anzusetzen – eine Art Generalprävention gegen imperiale Expansion Deutschlands, der EU und letztlich weltweit in der Form einer gerechteren Weltwirtschaft. Etwas theoretischer gesprochen hieße das, die Privatisierung der globalen Reichtümer durch eine Minderheit entwickelter Staaten und in ihnen eine Minderheit besitzender Schichten in eine bedarfsorientierte Wirtschaft zu überführen. Das müsste in Deutschland geschehen wie auch deutsches Exportmodell anstelle des Exports von „freier Marktwirtschaft“ werden. Aber von einer solchen Perspektive hört man bei Angela Merkel selbstverständlich nichts. Die Schlagworte „Entwicklungshilfe“ und „Fluchtursachen bekämpfen“ bleiben solange hohl, wie die örtlichen und regionalen Wirtschaften nur als Absatzmarkt und Arbeitskräftereservoir der „entwickelten Industriestaaten“ verstanden werden.

  • Und was soll man sich darunter vorstellen, dass „Auffälligkeiten“ gegenüber „staatlichen Stellen“ geäußert werden?
  • Wo liegt der Übergang von berechtigter Auflehnung gegen täglich erfahrene Ausgrenzung, Benachteiligung und Unterdrückung auch hierzulande zu sozialem Aufruhr, zu Gewaltbereitschaft und von dort zu terroristischen Aktivitäten?
  • Und wieso betrifft diese Frage bei Angela Merkel nur „Auffälligkeiten in Moscheen“?

Da hat sich die Diskreditierung muslimischer Kreise trotz aller toleranter Gesten doch wieder eingeschlichen und nicht nur das, sondern – sagen wir es deutlich – sie verdichtet sich zu einem Aufruf zur Denunziation. Und das von höchster Stelle. Das  kann das Problem der Jugendlichen, die einen Ort für sich suchen, an dem sie nicht überflüssig sind, nun wirklich nicht lösen. Ein solcher Aufruf zur Denunziation kann Misstrauen, Aggression und Hass in der Gesellschaft nur stärker anwachsen lassen. Umgekehrt wäre es wichtig, dafür zu sorgen, dass es Menschen gibt, an die Jugendliche sich von sich aus wenden können im Vertrauen, dass sie sich auf deren Verschwiegenheit zu hundert Prozent verlassen können.

Schließlich ist noch einmal auf die bemerkenswerte Choreographie des Gespräches zurückzukommen, die vorn schon angesprochen wurde: Statt in dem Moment, an dem des Gespräch auf die Probleme der Globalisierung kommt zur Entwicklung von Alternativen aufzurufen und zu ermuntern, erfolgt hier der Szenenwechsel:

Ab sofort ist nicht mehr von den Ursachen der globalen Konflikte, sondern nur noch von Russlands „Aggression“ die Rede, wird nun die Liste der bekannten Dauerbrenner abgearbeitet, die Russlands „Aggression“ und die Notwendigkeit weiterer Sanktionen gegen Russland belegen sollen. Die Liste beginnt bei der Krim und geht hin bis zu dem bekannten Vorwurf Russlands habe auch Südossetien, Abchasien und Moldau im Blick, Moskaus Politik sei vom Denken in Einflusssphähren bestimmt und Russland habe es selbst „in der Hand, die Sanktionen überflüssig zu machen.“

Diese Liste soll hier nicht weiter abgearbeitet werden. Festzuhalten ist aber: Der am Anfang des Gespräches erhobene Anspruch Angela Merkels auf „ein starkes Signal der Solidarität und Entschlossenheit“ hat nicht einmal die Hälfte dieses Zeitungs-Interviews überdauert.
 
Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de


Zu diesen Fragen mein Buch:

  • "Die Kraft der »Überflüssigen«. Der Mensch in der globalen Perestroika". Pahl-Rugenstein, 2013, ISBN 978-3-89144-463-4

Wir leben in einer paradoxen Zeit: In einer Welt des Überflusses und der globalen Entgrenzung werden immer mehr Menschen als überflüssig bezeichnet oder fühlen sich sogar selbst so. Ein globaler Verwertungsprozess reißt uns aus unseren lokalen familiären, wirtschaftlichen und geistigen Verankerungen und spuckt uns am Ende als menschlichen Müll wieder aus.

Nur wenige Profiteure sind die Nutznießer dieses Vorganges, eine wachsende Mehrheit sieht sich als »überflüssig« ins Abseits gedrängt. Millionen der heute sieben Milliarden Menschen schaffen nicht einmal den Sprung in die Verwertung. Sie bleiben gleich auf den Müllhalden der Zivilisation stecken. Kein Ausweg? Keine Perspektive? Nur noch der große Crash? Nur noch lang angelegte strategische Selektion zwischen nützlichen und nicht nützlichen Menschen? Oder eine Revolte der »Überflüssigen«? Aber wie könnte diese Revolte aussehen?

Schauen wir genau hin: Die »Überflüssigen« sind nicht das Problem, das entsorgt werden müsste – sie sind die Lösung. Sie sind Ausdruck des über Jahrtausende angesammelten Reichtums der Menschheit – wirtschaftlich, sozial und kulturell. Sie sind Ausdruck der Kräfte, welche die Menschheit heute zur Verfügung hat, um vom physischen Überlebenskampf aller gegen alle in eine ethische Kulturgemeinschaft überzugehen, die am Aufstieg des Menschen zum Menschen orientiert ist und keinen Menschen mehr ausschließt.

Das vorliegende Buch zeigt: Wer die »Überflüssigen« sind, welche Kräfte in ihrem »Überflüssigsein« liegen. Welchen Widerständen bis hin zu eugenischen Selektionsphantasien der heute Mächtigen ihr Aufbruch ausgesetzt ist. Welche Kraft die »Überflüssigen« bilden, wenn sie sich entschließen, ihr Leben selbst zu organisieren – und schließlich, wie der Weg der Selbstorganisation in einer neuen, sozial orientierten Gesellschaft aussehen könnte.
 

Bild- und Grafikquellen:

1. Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel. Wir können wirklich stolz auf unsere "Bundesmutti" sein, beweißt sie doch immer wieder, daß sie "Voll den Durchblick" hat. Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.de

2. Die G7 (Abkürzung für Gruppe der Sieben) ist ein Zusammenschluss der bedeutendsten Industrienationen der Welt in Form regelmäßiger Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs. Sie wurde erstmals 1975 etabliert und 1998 durch die Aufnahme Russlands zur G8 erweitert. Am 25. März 2014 schlossen die anderen Mitglieder Russland aufgrund seines angeblich völkerwiderrechtlichen Verhaltens in der Krimkrise wieder aus und kehrten zum Format der G7 zurück.

Urheber der G7 - Caricature: DonkeyHoteyQuelle: Flickr

Source Images: United Kingdom - Prime Minister David Cameron: CC ukhomeoffice's Flickr Photostream

Italy - Prime Minister Enrico Letta: Face, CC Enrico Letta's Flickr photostream. Body, PD Department of Commerce. ÄNDERUNG: Matteo Renzi (* 11. Januar 1975 in Florenz) ist ein italienischer Politiker des (PD) und seit Februar 2014 Ministerpräsident der Italienischen Republik. Die Grafik zeigt noch Letta.

Germany - Chancellor Angela Merkel, PD Ricardo Stuckert/PR from Agência Brasil, a public Brazilian news agency, via Wikimedia

Russia - President Vladimir Putin, CC World Economic Forum's Flickr Photostream

Japan - Prime Minister Shinzō Abe, PD Wikipedia/Wikimedia

France - President François Hollande, CC available via Wikimedia

Canada - Prime Minister Stephen Harper, CCWorld Economic Forum taken by Remy Steinegger and available via Wikimedia

United States - President Barack Obama, PD United States Air Force

NOTES: CC = Creative Commons licensed photo / PD = A photo in the public domain. Verbreitung des Gesamtwerkes (Kollage) mit CC-Lizenz Attribution-ShareAlike 2.0 Generic (CC BY-SA 2.0)


3. Karikatur Barack Obama: Wenn islamischer Extremismus im Steigen begriffen ist, ist den Regierungen der USA und Frankreichs zumindest zum Teil die Schuld zu geben. Karikatur von Carlos Latuff, einem "Politischen Karikaturist", geboren November 1968 in Rio de Janeiro, Brazil. Carlos Latuff (eigentlich Carlos Henrique Latuff de Souza) gewährt jedem das bedingungslose Recht, dieses Werk für jedweden Zweck zu nutzen, inklusive uneingeschränkter Weiterveröffentlichung, kommerziellem Gebrauch und Modifizierung, zu nutzen, es sei denn, Bedingungen sind gesetzlich erforderlich. Quelle: Sein Blog > latuffcartoons.wordpress.com > zur Karikatur. Dieses Werk wurde von seinem Urheber Carlos Latuff als gemeinfrei veröffentlicht. Dies gilt weltweit.

4. Angela Merkel - "Wir kommen in Frieden". Grafikbearbeitung: Jan Müller / Borgdrone

5. Feindbild böser Russe: Wladimir Putin and Russian bear vs. USA, NATO and EU. Grafik-Urheber: David Deese, commercial artist, Oregon/USA. > Webseite > Infos zu David Dees

6. Buchcover: "Russland – Herzschlag einer Weltmacht. Russlands Rolle in der Kulturkrise". ISBN: 978-3-85636-213-3. Bei Interesse können Sie das Buch gleich beim Autor selbst bestellen.

7. Buchcover: "Ukraine im Visier. Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen." ISBN 978-3-9816963-0-1 von Ronald Thoden & Sabine Schiffer (Hg.), erschienen im Selbrund Verlag! Die Ukraine ist nur wenigen als geostrategisch zentraler Ort bekannt. Die Berichterstattung verrät auch wenig darüber. Die politischen Entscheidungen zeugen jedoch von einer gewissen Nervosität, wenn es um die Integration der Ukraine in Westbündnisse wie die EU oder NATO geht oder um die in die Eurasische Wirtschaftsunion im Osten.

Das Zerren um die Ukraine hat inzwischen zu einem Bürgerkrieg geführt. Die darüber hinausgehende Kriegsrhetorik von Politik und Medien macht vielen Menschen Angst. Russland und Wladimir Putin scheinen sich zu einer imperialen Macht zu entwickeln, die von Westen her eingedämmt werden muss. Oder ist es doch andersherum? Nennen unsere Medien alle interessengeleiteten Akteure oder nur die einer Seite? Wo nahm die Krise ihren Ausgang?

Die Analysen in diesem Buch geben Auskunft über die geopolitische Bedeutung der Ukraine, Strategiepapiere, die in den meisten Medien wenig Beachtung finden, Entwicklungen im Land und leuchten auch den globalen Hintergrund der aktuellen Eskalationen aus. Bei Interesse können Sie das Buch gleich beim Autor dieses Artikels bestellen.