Frankreich: Neues Arbeitsgesetz per Notverordnung

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Frankreich: Neues Arbeitsgesetz per Notverordnung
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Frankreich: Neues Arbeitsgesetz per Notverordnung

von Alex Lantier / wsws.org

Vor dem Hintergrund anhaltender Proteste gegen das geplante reaktionäre Arbeitsgesetz in Frankreich griff Premierminister Manuel Valls erneut auf Artikel 49-3 der Verfassung[1] zurück, um das Gesetz in leicht geänderter Form ohne Abstimmung durch die Nationalversammlung zu bringen und damit die Voraussetzungen für seine endgültige Verabschiedung zu schaffen. Mehrere hundert Demonstranten auf der Seine-Brücke Pont de la Concorde, die direkt auf das Parlamentsgebäude zuführt, wurden von Bereitschaftspolizei eingekesselt.
 

Auch gegen Proteste in zahlreichen anderen Städten setzte die Sozialistische Partei (PS) am Dienstag beispiellose Sicherheitsvorkehrungen in Kraft. Die Demonstration in Paris begann am Place d’Italie. Er wurde abgesperrt und von Bereitschaftspolizei umstellt. Die Demonstrationsteilnehmer wurden einer dreimaligen Durchsuchung unterzogen. Dabei wurden sie von oben bis unten abgetastet. Erst dann durften sie den Platz betreten.

Im Mai hatte die PS bereits den ersten Entwurf des Arbeitsgesetzes mithilfe des Artikels 49-3 durch das Parlament gepeitscht und später angedroht, den Protesttag am 24. Juni unter Berufung auf den Ausnahmezustand zu verbieten. Jetzt gibt sie erneut zu erkennen, dass sie vor nichts zurückschrecken wird, um ihre unsoziale Agenda durchzusetzen. Seit der Vorlage des ersten Gesetzentwurfs im Mai trampelt sie über die massive Opposition der Bevölkerung hinweg. Vor dem Hintergrund der Krise, die durch das Brexit-Votum ausgelöst wurde, und in Erwartung eines wirtschaftlichen Einbruchs will die PS das arbeiterfeindliche Gesetz so schnell wie möglich in Kraft setzen.

Der neue Entwurf, der gestern (06.07.) der Nationalversammlung vorgelegt wurde, war vom Senat zurücküberwiesen worden. Die rechte Mehrheit im Senat hatte die geringfügigen Änderungen wieder rückgängig gemacht, die als Zugeständnis an die Massenbewegung vorgenommen worden waren. Der Senat hatte Programme für jugendliche Arbeitslose aus dem Entwurf herausgestrichen und die Begrenzung möglicher Geldstrafen für rechtswidrige Entlassungen wieder eingeführt.

Keine dieser Abänderungen hatte den wesentlichen Inhalt des Gesetzes tangiert: die Verlängerung der Arbeitszeit, die Aushöhlung des Kündigungsschutzes und vor allem das Recht von Gewerkschaften und Unternehmern, auf betrieblicher Ebene Tarifvereinbarungen abzuschließen, mit denen das nationale Arbeitsrecht unterlaufen wird.

Bevor das Gesetz am Dienstag in der Nationalversammlung vorgelegt wurde, fügte die PS noch einmal eine geringfügige Veränderung ein, wonach Gewerkschaften und Arbeitgeber in jeder Branche im Einzelnen aushandeln können, welche Bestimmungen der bestehenden Branchentarifverträge durch Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene außer Kraft gesetzt werden dürfen. Arbeitsministerin Myriam El Khomri betonte allerdings, dies sei eine rein symbolische Änderung. „Unser Vorschlag ändert nichts an der Bedeutung, die wir betrieblichen Vereinbarungen beimessen. Er soll lediglich die Bedeutung von Branchentarifverträgen bekräftigen.
 

Die von der PS eingeführte Änderung mindert nicht den arbeiterfeindlichen Charakter der Maßnahmen, die Gewerkschaften und Unternehmen aushandeln sollen. Außerdem kann der Senat sie erneut aus dem Gesetzentwurf streichen.

Es handelt sich um ein Manöver, mit dem der PS und den Gewerkschaftsbürokratien ermöglicht werden soll, den sozialen Unmut aufzufangen und den Eindruck zu erwecken, sie verhandelten im Interesse der Arbeiter. In Wirklichkeit richtet sich das Gesetz in seiner Neufassung nicht weniger gegen die Interessen der Arbeiter, als am ersten Tag. „Dementsprechend erklärte der christliche Gewerkschaftsbund (CFTC), der das Arbeitsgesetz unterstützt: „Die Klarstellungen zu den Tarifverträgen auf Branchenebene sind nützlich, weil sie die Arbeiter beruhigen.

Wir wollen das Gesetz nicht abschwächen, aber wir wollen auch nicht den Eindruck erwecken, als würden wir uns überhaupt nicht bewegen“, erklärte ein Berater von Präsident François Hollande. Er betonte, die PS müsse angesichts der explosiven Opposition in der Bevölkerung mit Bedacht vorgehen: „Wir haben in den letzten vier Monaten schon mehrmals gedacht, wir hätten die Krise hinter uns.
 

Die Kluft zwischen der Arbeiterklasse und den politischen Parteien und Gewerkschaften im Umkreis der PS wird immer deutlicher. Viele dieser Kräfte haben das Arbeitsgesetz kritisiert und die Proteste dagegen organisiert. Aber alle hatten 2012 zur Wahl der PS aufgerufen, und alle haben Verhandlungen mit der PS befürwortet, um Hollande einige Verbesserungen des Gesetzes abzuringen.

Keine Partei widmete sich der Aufgabe, die durch die Bewegung der Arbeiterklasse gegen die PS objektiv gestellt wurde: den Widerstand der Arbeiter unabhängig von den Manövern der PS und der Gewerkschaften zu mobilisieren und ihn auf einer revolutionären, sozialistischen Plattform mit der wachsenden Bewegung der Arbeiterklasse in ganz Europa zu verbinden – in Belgien, Griechenland und anderen Ländern. Die Stimmung, von der Massen von Arbeitern und Jugendlichen getrieben wurden, fand bei keiner politischen Kraft einen Widerhall.

Drei Viertel der Bevölkerung sind gegen das Gesetz, und vielen Arbeitern wird klar, dass es unmöglich ist, sich mit der PS zu einigen. Nach wiederholten Streiks geraten sie finanziell unter Druck. Viele Arbeiter und Jugendliche machen sich allmählich keine Illusionen mehr, das Gesetz durch die Proteste in ihrer bisherigen Form aufhalten zu können. Und so bleiben sie den Aktionen, die von den Gewerkschaften regelmäßig angesetzt werden, zunehmend fern.
 

Die PS, die Gewerkschaftsverbände und die pseudolinken Parteien, wie die Neue Antikapitalistische Partei (NPA), hoffen die Proteste nun abwickeln zu können. Dann könnte die PS das Gesetz durchdrücken, und in den Betrieben überall in Frankreich könnten Haustarifverträge mit verschlechterten Bedingungen ausgehandelt werden.

PS-Mitglieder und Gewerkschafter, alle sind erschöpft“, sagte ein Minister der großen Tageszeitung Liberation. „Wir müssen das hinter uns bringen, und wenn es heißt, sich in einem Mauseloch zu verkriechen.

Vor den Protesten am 5. Juli machte der Gewerkschaftsverband Force Ouvrière (FO) – der gemeinsam mit dem stalinistisch geführten Gewerkschaftsverband CGT und der mit der NPA verbundenen Gewerkschaft SUD die Proteste gegen das Gesetz organisiert hatte – klar, dass er sie nicht befürwortete.
 

Vergangene Woche erklärte FO-Führer Jean-Claude Mailly gegenüber der Zeitung La Croix explizit, dass er den Protest am Dienstag in Paris nicht wolle, und fügte hinzu: „Es wird langsam kompliziert.“ Vorsorglich gab er eine Unterbrechung bis September bekannt: „Im Sommer wird es keine Demonstrationen geben, die Leute fahren in Urlaub.

Die anhaltende Kampfbereitschaft der Arbeiter und Jugendlichen ist der Haltung von Mailly diametral entgegengesetzt. Sie spiegelt den verbreiteten Zorn wider, mit dem die Arbeiter in Frankreich und ganz Europa der Sparpolitik begegnen.

Die WSWS sprach auf der Demonstration am Dienstag in Paris mit Quentin, einem Studenten. „Ich kann nicht erkennen, was an der PS heute noch links sein soll“, sagte er. „Ich habe 2012 für Hollande gestimmt, weil ich weder das Programm der freien Marktwirtschaft des [rechten Präsidenten] Nicolas Sarkozy, noch die autoritäre Politik von Marine Le Pen wollte. Und jetzt haben wir beides.
 

Quentin fügte hinzu, in der Brexit-Krise zeige sich sowohl die Krise der EU-Institutionen, als auch die Gefahr von rechtem Nationalismus. „Jetzt wird die Lage in Europa sehr politisch, der Kampf gegen das Arbeitsgesetz ist ein klares Beispiel dafür“, sagte er und fügte hinzu: „Wir wissen genau, dass es sich um ein Gesetz handelt, das die EU-Kommission verabschiedet haben will.

Alex Lantier_________________________

Lesetipp:

Frankreich: Heftiger Widerstand gegen Arbeitsmarktreform und Spardiktat - 02.04.2016 - weiter.

« Die Nacht zum TAG » (Nuit debout), ein Alptraum - 11.05.2016 - weiter.

Deutschland: Zweierlei Reaktion auf französische Streiks - 31.05.2016 - weiter.



[1] Artikel 49-3 der Verfassung der V. Republik: (Quelle: conseil-constitutionnel.fr/ - weiter.)

Le Premier ministre peut, après délibération du Conseil des ministres, engager la responsabilité du Gouvernement devant l’Assemblée nationale sur le vote d’un projet de loi de finances ou de financement de la sécurité sociale. Dans ce cas, ce projet est considéré comme adopté, sauf si une motion de censure, déposée dans les vingt-quatre heures qui suivent, est votée dans les conditions prévues à l’alinéa précédent.

Le Premier ministre peut, en outre, recourir à cette procédure pour un autre projet ou une proposition de loi par session. Le Premier ministre a la faculté de demander au Sénat l’approbation d’une déclaration de politique générale.

Der Premierminister kann nach Beratung des Ministerrates vor der Nationalversammlung die politische Verantwortung der Regierung für die Abstimmung über einen Haushaltsgesetzentwurf oder einen Gesetzentwurf zur Finanzierung der Sozialversicherung übernehmen. In diesem Falle gilt dieser Entwurf als angenommen, wenn nicht innerhalb der darauffolgenden vierundzwanzig Stunden ein Misstrauensantrag eingebracht und unter den im vorangegangenen Absatz genannten Bedingungen angenommen wird. Einmal pro Sitzungsperiode kann der Premierminister auf dieses Verfahren auch bei einem anderen Gesetzentwurf oder Gesetzesvorschlag zurückgreifen.

Der Premierminister hat das Recht, vom Senat die Zustimmung zu einer Erklärung zur allgemeinen Politik zu verlangen.

Quelle:  WSWS.org > WSWS.org/de > Artikel vom 07.07.2016.

Dank an Redakteur Ludwig Niethammer für die Freigabe zur Veröffentlichung.

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Bild- und Grafikquellen:

1. Proteste in ganz Frankreich gegen die Durchsetzung der menschenfeindlichen Arbeitsreformen von Premier Manuel Valls und seiner Arbeitsministerin Myriam El Khomri. Mehrere hundert Demonstranten auf der Seine-Brücke Pont de la Concorde, die direkt auf das Parlamentsgebäude zuführt, wurden hier und an anderen Stellen der Pariser Innenstadt und in Clairvaux von Bereitschaftspolizei eingekesselt, aufg. 07.07.2016.

Foto: Gewerkschaftsverband Force Ouvrière (FO). Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0).

2. ALLEZ LES BLEUS - Vive la résistance! Es lebe der Widerstand gegen den Staatsterrorismus, die Staatsgewalt und das mit der Arbeitsmarktreform verbundene Spardiktat. Grafik: Wilfried Kahrs (WiKa)

3. Myriam El Khomri (* 18. Februar 1978 in Rabat, Marokko) ist eine französische Politikerin der Parti Socialiste (PS) und seit 2015 Ministerin für Arbeit, Beschäftigung und sozialen Dialog im Kabinett Valls II. Foto: Mathieu Delmestre / Parti Socialiste. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

4. Protestveranstaltung: Les syndicats opposés à la loi Travail tenaient un meeting au gymnase Japy, à Paris, le 6 juillet 2016. Foto: Gewerkschaftsverband Force Ouvrière (FO). Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung-Nicht kommerziell 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0).

5. Staatsgewalt in Pose, bereit den Staatsterrorismus und die Gesetze gegen das eigene, rebellierende Volk durchzusetzen und den Widerstand zu brechen. Und dabei gibt es immer noch Menschen, die von Demokratie quatschen. "Chaque réalité a d 'abord commencé par un rêve..." - oder die Träume für eine bessere Zukunft werden zerstört.

Foto: doubichlou. Quelle: Flickr. Bildverlinkung nicht mehr aktiv - warum wohl? (H.S.) Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).

6. Die Wut der Bürger auf den Staat bleibt nicht immer friedlich und schlägt in Gewalt um. Foto: doubichlou14. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0). 

7. Hochgerüstete Staatsmacht gegen seine Bürger - am Ende werden die Gesetze mit Gewalt oder Notstandsverordnung durchgesetzt. So funtioniert REPRESSIVE DEMOKRATIE. Foto: doubichlou. Quelle: Flickr. Bildverlinkung infolge Namensumbenennung nicht mehr aktiv (H.S.). Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).  

8. L'état ruine le peuple - Der Staat ruiniert das Volk. Die Arbeitsmarktreformen in Frankreich stärken die herrschende Klasse und das Kapital. Das ARM-REICH-Gefälle wird weiter zunehmen und dabei die Bürger mehr und mehr entrechtet. Wir in Deutschland kennen das bereits durch die asoziale Politik der SPD, nach deren Vorbild jetzt auch die französischen Lohn- und Gehaltsabhängigen auf Kurs (in die Verarmung) getrieben werden. Foto: laetitiablabla. Quelle: Flickr. Bildverlinkung nicht mehr aktiv - warum wohl? (H.S.) Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0).