Gesinnungskumpanei

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Gesinnungskumpanei
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Gesinnungskumpanei

von Volker Bräutigam


»Putin ist der Verlierer der Ukraine-Wahl.« »Ukraine: Plebiszit für den Westen.« »Ukraine entscheidet sich für Europa.« Quellenangaben für die Schlagzeilen des gleichgeschalteten deutschen Medien-Mainstreams erspare ich uns. Die dreiste Gleichsetzung »Europa = EU« definiert dessen Niveau ebenso wie die Kommentare das gedankliche Defizit der politischen Funktionselite.

Das neue Kiewer Parlament wird nach einem Wahlkampf besetzt, in dem 29 Parteien konkurrierten, viele nur wenige Wochen alt und alle ohne überzeugendes Programm. Das von faschistischen Kräften beeinflußte, multi-dysfunktionale Medienwesen schloß jeden vernünftigen Überblick über das Politikangebot aus. Erst recht blockierten die Überfälle faschistischer Knüppelgarden auf oppositionelle Politiker, die Anschläge auf deren Büros, Brandstiftung, Erpressung, das angekündigte Verbot der kommunistischen Partei und vieles andere mehr. Dennoch und ungerührt: Deutsche Beobachter waren des Lobes voll: Er habe »den Eindruck« gehabt, daß »die Wahlen sehr gut organisiert waren«, meinte der CDU-Europaabgeordnete Joachim Zeller am 27. August gegenüber der ARD-Tagesschau, es habe »eigentlich nichts ... auszusetzen« gegeben. Gehörten Tomaten auf den Augen zur Standardausrüstung der »prowestlichen« Wahlbeobachter?

Welches Gewicht die deutschen Massenmedien dem Wahlgang zumaßen, ist daran zu erkennen, daß sie noch drei Tage danach kein präzises Endergebnis nannten, obwohl ständig von dem »Kopf-an-Kopf-Rennen« der Parteien des Präsidenten Petro Poroschenko und des »Übergangs-Regierungschefs« Arsenij Jazenjuk die Rede gewesen war und obwohl eine entlarvend niedrige Wahlbeteiligung von allenfalls 52,4 Prozent feststand (Quelle: Zentrale Wahlkommission Kiew laut Stimme Rußlands). Von ARD über DLF bis ZDF jonglierte man mit Teilergebnissen und Prognosen – und beließ es schließlich dabei.

Aus mittlerweile konkreterer Sicht müßte der vormalige Putschist und [Anm. Admin: seit 27. November 2014 erneut als Ministerpräsident bestätigte] reguläre Regierungschef Arsenij Jazenjuk zugeben, daß er gerade mal knapp elf Prozent der wahlberechtigten Ukrainer überzeugte; Präsident Poroschenko erreichte sogar noch etwas weniger. Ihre beiden Parteien verfügen trotzdem im Parlament über die Mehrheit: ein Konglomerat aus Faschistoiden und Ultranationalisten, in dem sich bekennende Neonazis tummeln. In Jazenjuks Fraktion sogar Mitstreiter der neonazistischen Freikorps »Asow« und »Donbass«, denen Kriegsverbrechen in der Ostukraine angelastet werden. Wie der Herre, so’s Gescherre: Jazenjuk selbst hatte keine Scheu, Russen und Prorussen als »Untermenschen« zu bezeichnen, von welchen die Ukraine sich »reinigen« müsse. (http://usa.mfa.gov.ua; inzwischen wurde die Bezeichnung »subhumans« in »inhumans« geändert.)

»Saubermänner« wie Jazenjuk regieren ein Land, das nicht einmal mehr seine Gasrechnungen bezahlen kann, aber nun eine Grenzmauer von fast 2300 Kilometern angeht. Ein Land, das sich verständlicherweise westeuropäische Lebensumstände wünscht und genug hat von Bürgerkrieg, Armut, Korruption, Oligarchenwillkür, Nazi-Umtrieben, Mord und Totschlag, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichem Elend. Statt dessen steckt nun die Karre im ultranationalistischen, faschistoiden Dreck.
 

Karte der Ostukraine mit mutmaßlichem Frontverlauf (Stand 25. November 2014)

bitte Doppelklick zur Vergrößerung, neue Karte baut sich dann auf

Karte des Kriegs im Donbass 2014 zwischen den Separatisten des Bundesstaats Neurussland und der ukrainischen Zentralregierung. Sie zeigt die unmittelbaren Einflussgebiete beider Seiten. Gelbe Flächen mit blau eingezeichneten Orten: ehemaliger Einflussbereich der Separatisten; violette Flächen mit rot eingezeichneten Orten: aktueller Herrschaftsbereich der Separatisten. Orangefarbene Orte: aktuell umkämpfte Ortschaften.

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Dahin mitgeschoben haben Kanzlerin Angela Merkel und ihr Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Jetzt dürfen sie sich ganz offiziell mit der unseligen Kiewer Melange verbrüdern und ihr finanziell beispringen: »Es gibt eine Notwendigkeit einer gewissen Brückenfinanzierung«, merkte die Kanzlerin kürzlich bereits an. Wir erwarten neugierig weitere Worthülsen, wenn die Schuldscheine der Pleite-Ukraine am Berliner Kassenschalter vorgelegt werden. Aber wir wissen ja, daß sich unsere Regierenden ihrer politischen Amoral und Geschichtsvergessenheit nie und nimmer schämen, schon gar nicht ihres Umgangs mit dem Volksvermögen.

Nur mal knapp übern Tellerrand geschaut: 50 Millionen Euro gab die Bundesregierung bisher für die Patriot-Raketeneinheit der Bundeswehr an der türkisch-syrischen Grenze aus – im Widerspruch zum Grundgesetz und in der evidenten Absicht eines völkerrechtswidrigen Angriffs auf Syrien, sobald sich eine Operation unter falscher Flagge anbietet. Obwohl nicht von Syrien, sondern von Ankaras Vormachtstreben Explosionsgefahren drohen und von einem NATO-Bündnisfall oder einer Bedrohung Deutschlands keine Rede sein kann.

Ukraine/Türkei: Nur zwei Ordner im Aktenregal voller Argumente für Amtsenthebung unserer Regierenden wegen Untreue und Friedensverrat.

Volker Bräutigam

 



Quelle:  Erschienen in Ossietzky, der Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft - Heft 23/2014 > zum Artikel

 

Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft, wurde 1997 von Publizisten gegründet, die zumeist Autoren der 1993 eingestellten Weltbühne gewesen waren – inzwischen sind viele jüngere hinzugekommen. Sie ist nach Carl von Ossietzky, dem Friedensnobelpreisträger des Jahres 1936, benannt, der 1938 nach jahrelanger KZ-Haft an deren Folgen gestorben ist. In den letzten Jahren der Weimarer Republik hatte er die Weltbühne als konsequent antimilitaristisches und antifaschistisches Blatt herausgegeben; das für Demokratie und Menschenrechte kämpfte, als viele Institutionen und Repräsentanten der Republik längst vor dem Terror von rechts weich geworden waren. Dieser publizistischen Tradition sieht sich die Zweiwochenschrift Ossietzky verpflichtet – damit die Berliner Republik nicht den gleichen Weg geht wie die Weimarer.

Wenn tonangebende Politiker und Publizisten die weltweite Verantwortung Deutschlands als einen militärischen Auftrag definieren, den die Bundeswehr zu erfüllen habe, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Flüchtlinge als Kriminelle darstellen, die abgeschoben werden müßten, und zwar schnell, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie Demokratie, Menschenrechte, soziale Sicherungen und Umweltschutz für Standortnachteile ausgeben, die beseitigt werden müßten, dann widerspricht Ossietzky. Wenn sie behaupten, Löhne müßten gesenkt, Arbeitszeiten verlängert werden, damit die Unternehmen viele neue Arbeitsplätze schaffen, dann widerspricht Ossietzky – aus Gründen der Humanität, der Vernunft und der geschichtlichen Erfahrung.

Ossietzky erscheint alle zwei Wochen im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Berlin – jedes Heft voller Widerspruch gegen angstmachende und verdummende Propaganda, gegen Sprachregelungen, gegen das Plattmachen der öffentlichen Meinung durch die Medienkonzerne, gegen die Gewöhnung an den Krieg und an das vermeintliche Recht des Stärkeren.
 

Redaktionsanschrift:


Redaktion Ossietzky
Haus der Demokratie und Menschenrechte

Greifswalderstr. 4

10405 Berlin

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http://www.ossietzky.net/


 

► Bild- und Grafikquellen:

 

1. PROPAGANDASCHLACHT in SCHLAND. Grafikbearbeitung: Wilfried Kahrs / QPress.de

2. Karte der Ostukraine mit mutmaßlichem Frontverlauf (Stand 25. November 2014). Urheber: Marktaff, ZomBear. Quelle: Wikimedia Commons. Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“.