Gibt es einen kollektiven Kriegsrausch der Deutschen?

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Gibt es einen kollektiven Kriegsrausch der Deutschen?
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Gibt es einen kollektiven Kriegsrausch der Deutschen?

von Yavuz Özoguz


Glaubt man den Medien, so steht der US-Überfall auf Syrien unmittelbar bevor. Es kann sich nur noch um Tage oder Wochen handeln. Die Medien in Deutschland steigern sich in einen blutrünstigen Kriegsrausch, wie es das Land schon lange nicht mehr erlebt hat.

Aus Sicht der meisten deutschen Medien ist klar, dass Assad die Chemiewaffen eingesetzt hat. Rühmliche Ausnahmen, wie die Tageszeitung junge welt, bestätigen lediglich die Regel. Ausgehend von dieser durch den US-Präsidenten, Israel, den Saudischen Despoten und anderen Golftyrannen vorgegebenen „Wahrheit“ plappern die Medien stakkatoartig das Kriegsgetrommel nach. Sie werden dabei zu Papageien von Geiern [inspiriert, Anm. Admin].

Es gibt drei Möglichkeiten, wer die Chemiewaffen eingesetzt hat (falls sie eingesetzt wurden). Die erste ist die Regierungsseite von Assad, wobei unberücksichtigt bleiben soll, ob mit oder ohne Zustimmung der Regierung. Die zweite sind die Gegner, wobei unberücksichtigt bleiben soll, ob es um die sogenannte Freie Syrische Armee, die Al-Nusra-Front oder andere Terroristen handelt. Die dritte Möglichkeit wäre eine versteckte ausländische Operation, z.B. von Israel. Für alle drei Optionen stellt sich die Frage, in wie weit ein Angriff der USA auf Syrien vom Völkerrecht gedeckt wäre.


 

Zunächst einmal ist bei der bestehenden Ausgangskonstellation im UN-Sicherheitsrat klar, dass es keine völkerrechtsverbindliche UN-Resolution geben wird, da Russland und China zu einer anderen Bewertung der Geschehnisse kommen als der Westen und somit eine Bombardierung Syriens nicht zulassen werden. Die Frage nach Mehrheiten im UN-Sicherheitsrat stellt sich daher nicht. Sie könnte durchaus zu Ungunsten des Westens ausfallen könnte, zumal auch die Briten sich enthalten könnten. Darf die USA unter diesen Umständen Syrien dennoch bombardieren?

Um die Fragestellung noch deutlicher und drastischer zu formulieren: Nehmen wir einmal an, Assad hätte Chemiewaffen eingesetzt, denn Szenarien zur Beurteilung einer Rechtslage sind zulässig. Und nehmen wir an, die Westliche Welt einschließlich der Briten sind der festen Überzeugung, Assad muss bestraft werden. Dürfen unter diesen Umständen die Militärs der Westlichen Welt von sich aus Syrien ohne UN-Mandat angreifen?

Die Argumente der Westlichen Welt diesbezüglich lauten unter anderem, dass ein Militäreinsatz den Bürgern in Syrien nützen würde und kein Militäreinsatz andere (und auch Assad) dazu ermutigen könnte, weiterhin Massenvernichtungswaffen einzusetzen. Doch sind das Argumente, die eine völkerrechtliche Relevanz haben? Darf gemäß dem Völkerrecht die Westliche Welt Ankläger, Richter und Vollstrecker ihres eigenen Urteiles zugleich sein?

Werfen wir dazu einem Blick in die Chemiewaffenkonvention von 1993. Zunächst ist festzustellen, dass jene Resolution weder von Syrien noch von Israel jemals ratifiziert wurde, wohl aber z.B. vom Iran! In jener Resolution ist als Sanktion in besonders schweren Fällen des Einsatzes von Chemiewaffen vorgesehen im UN-Sicherheitsrat eine Maßnahme zu finden. Eine Bestrafung durch irgendeine kriegerische Aktion ohne UN-Sicherheitsrat ist in der Resolution nicht vorgesehen! Als weitere Option steht der Strafgerichtshof offen, ist aber auch nicht befugt Kriege anzuordnen ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Ein militärischer Überfall der USA gegen Syrien wäre somit definitiv völkerrechtswidrig.

Was viele Journalisten und Politiker völlig ausklammern ist die Tatsache, dass selbst die bloße Androhung eines Angriffs auf Syrien bereits gegen das Völkerrecht verstößt! Im Völkerrecht gibt es nicht das Recht zur Bestrafung, Vergeltung oder Abschreckung als Begründung für einen Angriff! Und es gibt auch nicht das Recht auf Androhung einer solchen Bestrafung, Vergeltung oder Abschreckung. Das Problem dabei ist, dass die Westliche Welt sich schon lange nicht mehr um das Völkerrecht schert. Für die Westliche Welt gibt es nur Interessen, und diese ist sie gewillt mit Gewalt und gegen jegliches Recht durchzusetzen. Wie anders wäre die Allianz mit den lupenreinen Despoten aus Saudi-Arabien zu erklären? Die Westliche Welt versteht sich selbst als Inkarnation des Rechts auf Erden, der allen anderen widerspruchslos zu folgen haben.

Da die Androhung eines Angriffs gegen Syrien in der aktuellen Lage bereits gegen das Völkerrecht verstößt, leisten alle Politiker und Journalisten in Deutschland, die die Argumentation der USA unterstützen, offensichtlich Beihilfe zum Bruch des Völkerrechts. Wie sehr Deutschland sich zumindest theoretisch gegen dieses Verbrechen stellt, kann an der Tatsache abgelesen werden, dass die Ablehnung von Angriffskriegen Verfassungsrang hat. Im Artikel 26 des Grundgesetzes heißt es:


„Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“


Nahezu die gesamte Riege der Politiker im Bundestag inklusive vieler Abgeordneter der Grünen, hat zumindest verbal den Angriffskrieg der USA unterstützt. Nur die Linke kann sich diesbezüglich frei von Schuld sprechen. Die absolute Mehrheit der Journalisten in Deutschland fällt ebenfalls unter diese Kategorie, die man aus einer unvoreingenommenen und objektiven Sicht heraus als Verbrecher bezeichnen könnte. So gesehen wird Deutschland derzeit von Verbrechern am Völkerrecht beherrscht, oder zumindest Beihilfe Leistenden von Verbrechern. Und andere Verbrecher beherrschen offenkundig die Meinungsmache.

Deutschland dürfte im Fall eines Angriffs der USA auf Syrien dem Angreifer keine Überflugrechte gewähren. Die in Deutschland stationierten US-Luftbasen könnten in den Krieg nicht eingreifen. Auch dürfte Deutschland seine Erkenntnisse nicht weitergeben, seien sie vom BND oder von Kriegsschiffen, die vor dem Libanon patrouillieren. Es ist aber unvorstellbar, dass Deutschland jene Hilfe verweigern würde. Auch müssten dann die deutschen Patriot-Raketen von der türkisch-syrischen Grenze abgezogen werden, um nicht in den Angriffskrieg verwickelt zu werden. Bedauerlicherweise ist aber davon auszugehen, dass Syrien auch von der Türkei aus bombardiert werden wird. Sobald es zu den dann völkerrechtsmäßig zulässigen Verteidigungsaktionen der Syrer gegen die Türkei käme, würde die NATO den Nato-Bündnisfall ausrufen. Deutschland müsste dann ebenfalls Krieg gegen Syrien führen. Selbstverständlich besteht kein Nato-Bündnisfall, wenn ein Mitglied der NATO wie die USA einen Krieg provoziert. Doch danach wird kaum jemand fragen, wenn der Krieg erst einmal ausgebrochen ist. Wie absurd die Lage aus rechtlicher Sicht bereits ist, kann daran ersehen werden, dass es unvorstellbar erscheint, ein Völkerrechtsverbrechen nicht zu unterstützen. Und die deutsche Realität verdeutlicht auch, dass eine Bundesregierung diesbezüglich sicherlich nicht im Sinn der eigenen Bürger entscheiden kann (und will). So ist davon auszugehen, dass z.B. die völkerrechtswidrige Entsorgung von strahlendem Uran in Form von Munition im Irak auch über deutsche Flughäfen abgewickelt wurde.

Im deutschen Strafgesetzbuch ist im §80 bereits die Vorbereitung eines Angriffskrieges, an dem die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein soll, oder eine Vorbereitung, wodurch die Gefahr eines Krieges für die Bundesrepublik Deutschland herbeigeführt wird, mit bis zu lebenslanger Freiheitsstrafe strafbar! Auch daran muss man sich erinnern, wenn man die Aussagen einiger Journalisten in Deutschland und auch einiger Politiker hört. Das Strafgesetzbuch geht auch noch weiter und kennt das Delikt der Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80a). Wer demnach öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften zum Angriffskrieg aufstachelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft. Trifft nicht zumindest dieses für einige Journalisten und Politiker dieses Landes in den letzten Wochen zu? Offensichtlich scheinen jene Gesetz nur noch dann zu gelten, falls unerwartet Hitler aus seinem Grab auferstehen sollte.

Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach dem Bürger in einer Demokratie. Meinungsumfragen geben eine überwältigende Mehrheit von zwei Dritteln der Bevölkerung an, die trotz Daueraufstachelung zum Krieg durch zahlreiche Medien sich dagegen und gegen die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland stellen. Nur ca. 20 % der Bundesbürger sei für einen Krieg. Das klingt zunächst beruhigend. Aber dennoch hat jene „Meinungsumfrage“ einen Makel. Was nützt solch eine Meinung in der gesicherten Wohnstube in einer Vollkaskogesellschaft, wenn man gleichzeitig mehrheitlich die größten Kriegstreiber wieder wählt und regieren lässt? Schließlich verfügen die US-treuen Parteien im Bundestag über weitaus mehr als eine Zweidrittelmehrheit. Eine gewisse Mitschuld der Bundesbürger an den US-Verbrechen kann somit nicht abgesprochen werden.

 

 

Bliebe noch die geschichtliche Aufarbeitung. Kann es sein, dass möglicherweise auch einstmals zwei Drittel der Bevölkerung gegen einen Krieg war und nur die kriegslüsternen 20% laut zu Wort kamen? Kann es sein, dass auch damals eine herrschende Riege von Politikern und Journalisten im Sinn des Kapitals (das sich auch durch die Waffenindustrie speist) die Kriegslust Deutschland vorgegaukelt hat, so dass Deutschland heute noch in vielen Geschichtsbüchern als „Tätervolk“ dasteht? Kann es sein, dass die Mehrheit der Deutschen damals von all den begangenen Verbrechen nichts wissen wollte, aber es eigentlich hätte merken müssen! Und kann es sein, dass viele es zwar gemerkt haben, aber nicht den Mut hatten, sich gegen das Unrecht zu wehren?

Doch wie ist es heute? Gibt es heute genügend Widerstand? Die sogenannte Friedensbewegung liegt im Koma, falls sie noch nicht verstorben ist. Selbst die Partei der Grünen, die einstmals mit Pazifismus angetreten ist, ist heute durchaus als Kriegspartei zu verstehen. Aber es gibt auch noch andere Akteure im Land! Z.B. ist da die Kirche! Deutlicher als je zuvor hat sich die katholische Kirche gegen den Krieg gestellt! Ist niemanden aufgefallen, dass der neue Papst in den Medien seit einiger Zeit gar nicht mehr existent ist? Die veröffentlichte Meinung stimmt nicht mit der öffentlichen Meinung überein und es gibt durchaus noch relevanten Widerstand im Land gegen die Kriege. Alternative Internetseiten, die sich gegen den Krieg, gegen den USraelischen Imperialismus, gegen die Ausbeutung durch den Kapitalismus stellen, entstehen zur Zeit wie Pilze aus dem Waldboden.

Doch wir alle sind weiterhin gefragt unsere Stimme zu erheben. Jeder Leserbrief an Kriegstreiber, jeder Potestbrief an Politiker, die Kriegen zustimmen, ist eine Stimme für Frieden. Zwar gibt es zahlreiche bezahlte Kriegsbefürworter, die in vielen Foren unter verschiedenem Namen und in vielen Briefen an Politiker die Interessen der Kapitaleigner vertreten und ihr Leben und ihre Schreibkraft dafür prostituieren, aber wir – das Volk – sind mehr, erheblich mehr! Wir müssen unsere Stimme erheben und uns für ein souveränes, gerechtes, friedvolles und freiheitliches Deutschland einsetzen. Und das ist nicht möglich an der Seite von Verbrecherregimes.

Die Anfangsfrage des Artikels kann mit einem klaren „nein“ beantwortet werden. Nein, es gibt keinen kollektiven Kriegsrausch der Deutschen; höchstens einiger Politiker und ihrer Hofjournalisten. Aber wir Deutschen tun bisher eindeutig zu wenig, um diese Verbrecher bzw. Unterstützer von Verbrechern in die Schranken zu weisen; auch bei Wahlen!

 

Dr. Yavuz Özoguz
 



► Textquelle:  Muslim Markt > MM-Forum > Artikel    ► Bildquelle:  Wilfried Kahrs > QPress


► Wer ist eigentlich der Muslim-Markt?

Immer wieder wird die Frage gestellt: Wer ist der Muslim-Markt, wie wird er finanziert, wer steckt dahinter, welche Linie wird vertreten usw. usw. .. – bitte weiterlesen

 

Aufruf gegen Antisemitismus

Der Muslim-Markt tritt entschieden gegen jegliche Form von Rassismus ein, sei er ethnisch, religiös, kulturell, sozial oder andersartig begründet. Der Antisemitismus ist zu verurteilen und praktizierende Muslime stehen stets an der Seite von Juden, die Opfer von Antisemitismus sind! Die Gleichsetzung von Antizionismus mit Antisemitismus, wie er von Zionisten gerne propagiert wird, ist eine der aktuell übelsten Formen des Antisemitismus, da dadurch alle Juden für die Ideologie des Zionismus vereinnahmt werden!

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Wolfgang Blaschka
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Verbunden: 09.11.2010 - 02:16
Solidarität, nicht Einmischung!

Solidarität, nicht Einmischung!

von Wolfgang Blaschka


So sehr ich die Position der beiden Protagonisten gegen einen völkerrechtswidrigen Angriff auf Syrien vonseiten des Westens, insbesondere der USA, zu schätzen weiß und weitgehend teile, fallen mir doch in beiden Äußerungen Tendenzen auf, die mir gelinde gesagt Unwohlsein bereiten, und die ich daher nicht unwidersprochen stehen lassen möchte. Beide betonen, jeweils in einem anderen Zusammenhang, ihre klare Ablehnung einer Einmischung in den syrischen Bürgerkrieg von außen. Soweit gehen wir konform.

Das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes muss verteidigt werden gegen alle Versuche, es den jeweiligen Interessenslagen der fünf ständigen und zehn nichtständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates anheim zu stellen, es je nach Interessenlage hochzuhalten oder zu opfern, zu missachten, zu umgehen oder gänzlich für obsolet zu erklären; haben nicht vereitelte Kriegseinsätze doch immer wieder endlose Gemetzel rund um den Globus mit immer wieder den gleichen Begründungen zur Folge; Begründungen als da sind: Schutz der Zivilbevölkerung, Verhinderung menschlicher Katastrophen, präventive Abwehr existenzieller Menschheitsbedrohungen und so weiter; dies alles nach willkürlichem Ermessen und Gutdünken der reichen und mächtigen Industrieländer. Ihr Ziel ist es, sich den Globus untertan zu machen, noch ehe aufkommende Konkurrenz – z.B. die BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika – stark und Willens genug ist, imperiale Ansprüche militärisch durchzusetzen, etwa indem sie ihrerseits „rote Linien“ definiert, um militärische Angriffe nach Gutdünken zu rechtfertigen.

Zu Gegenspielern des Westens gehören auch so unterschiedlich ausgerichtete Staaten wie Iran oder Venezuela. Selbst Länder wie Irak, Syrien oder Libyen stehen oder standen bereits jenseits des Beginns der Industrialisierung und waren in der Überwindung ihres früheren Status als Entwicklungsländer, als halb- oder voll abhängige Kolonialgebiete, deutlich voran gekommen in ihrem Unabhängigkeitsstreben gegenüber Europa und den USA. Libyen war bis zum NATO-Luftterror das reichste Land Afrikas und eine treibende Kraft bei der Verselbständigung des Schwarzen Kontinents. Venezuela spielt eine führende Rolle bei der Integration Lateinamerikas (durch ALBA) und hat sich dem Würgegriff von IWF und Weltbank längst entzogen. Deren Widerstand gegen die völlige Unterwerfung unter die freibeuterischen Spielregeln des US-dominierten Weltmarkts und gegen die bedingungslose Preisgabe ihrer Bodenschätze ist nach den heutigen Kategorien objektiv als anti-imperialistisch zu begreifen, sollte aber nicht dazu verleiten, sie zu idealisieren.

Auch sie verfolgen nationale Interessen, oft genug gegeneinander und auf Kosten ihrer Bevölkerungen, die nicht „nur“ der „Blockfreiheit“ oder der Behauptung gegen die Metropolen-Staaten dienen, sondern darauf gerichtet sind, regionale Vormachtstellung zu erringen oder zu behaupten. Der erbitterte irakisch-iranische Krieg in den 1980-er Jahren war einer der blutigsten Auswüchse dieser Tendenz, übrigens auch von den USA angestachelt und mit Waffenlieferungen (an Irak) befeuert. Egal, wie die unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen staatlich verfasst waren, ob religiös oder säkular, ethnisch oder stammesmäßig, sie waren in einen unbedingte Staatsloyalität erzwingenden Nationalismus gebettet, der Kritik an der Regierung genauso wenig zuließ wie auch nur geringste Ansätze zu Autonomiebestrebungen. Insbesondere die Kurden hatten darunter in mindestens drei der vier Staaten, in denen ihr Siedlungsgebiet liegt, blutig zu leiden. Für Kommunisten war es weder unter Baschar Al-Assad noch unter seinem Vater ein Zuckerschlecken. Saddam Hussein hat Kräfte links von der Baath-Partei nicht weniger gnadenlos verfolgt als die Ajatollahs im Iran ihre (auch bürgerliche) Opposition unterdrücken. Autoritäre, patriarchalische Herrschaftsstrukturen und Diktaturen herrschen in vielen Ländern, die vom „Westen“ in ihrer Souveränität bedroht sind, doch sollten wir uns davor hüten, uns mit ihnen zu identifizieren oder ihre Regierungsmethoden zu verteidigen. In einem Interview mit Sebastian Bahlo scheinen solche Sympathiebekundungen für Assad an mehreren Stellen durch. Ich halte das für wenig hilfreich, ja kontraproduktiv im Sinne der Verhinderung der Kriegs-Eskalation.

Es kann nicht unsere Aufgabe als Antikriegs- und Friedensbewegung sein, uns vorbehaltlos auf eine Seite zu schlagen im innersyrischen Konflikt und uns zu Anwälten von Autokraten zu machen, auch wenn diese angesichts der Bedrohung von außen und im Verhältnis zur drohenden Gefahr von Innen (geschürt ebenso von außen) die Repräsentanten jenes Status Quo sind, dessen gewaltsame Zerschlagung durch die selbst ernannte „Weltmacht“ es zu verhindern gilt. Die syrischen Völker (inklusive der Kurden u.a.) haben nämlich sehr wohl das Recht gegen ihre Herrschaft aufzubegehren, um den Zustand der Tyrannei zu überwinden oder sich von ihr loszusagen, wir sollten uns also vor einer inhaltlichen Parteinahme hüten. Wer sonst, wenn nicht sie hätten das Recht, ihre Dinge selbst zu regeln, ihre Regierungen abzuschütteln und zum Teufel zu jagen? Aber eben nur sie, und nicht andere Staaten wie Saudi-Arabien, Katar, Israel, die USA, Europa oder auch Russland und der Iran, die ihre Truppen und Agenten einschleusen, um Syrien zu destabilisieren und „sturmreif“ zu schießen für einen Machtwechsel oder Machterhalt in ihrem Sinne, über die Leichen der Bewohner Syriens hinweg.

Wir haben das weder bezüglich Milosevic getan, noch bei Saddam Heussein, nicht bei Gaddafi noch bei Ahmadinedschad, dass wir sie und ihre Politik, die ja erst zum Protest, zu Widerstand bis hin zum Aufstand oder zu Separationstendenzen den Anlass gegeben hat, in Schutz genommen hätten, sondern wir haben das Völkerrecht verteidigt und die Unantastbarkeit der Staatsterritorien vor fremden Mächten eingefordert. Wir haben uns weder zu Schiedsrichtern aufzuspielen, noch zu Parteigängern zu mutieren, sondern unseren Herrschenden hierzulande in den Arm zu fallen und sie von Interventionen nach ihrem Gusto abzuhalten.

Das ist schwer genug, aber das Einzige, was wir wirklich bezwecken können. Auch wenn das ein scheinbar kleiner Beitrag ist, die Kriegsablehnung deutlich und unüberhörbar zu artikulieren, wenngleich wir wenig bis nichts wirklich verhindern können, bringt es uns doch einen gewaltigen Schritt näher an die Überwindung der nach wie vor verbreiteten „Standort-Sicherungs“- und Burgfriedens-Logik, der die meisten Menschen im Allgemeinen noch bereitwillig aufsitzen. Viele meinen, sie würden davon profitieren, wenn unsere Mächtigen den Erdball nach ihren Interessen zurichten im Sinne unumschränkter neoliberaler Globalisierung – zur Förderung des Warenexports, und damit zu Erhaltung des relativen „Wohlstands“ hierzulande, der auf der Ausbeutung des Planeten beruht. Dass mit jeder Rakete ein Stück Sozialstaat zerdeppert, mit jeder Bombe ein Brocken Grundgesetz zerklumpt und mit jedem Panzerschuss auch noch der letzte Rest von eigenem Aufbegehren gegen die groß angelegte Umverteilungsschaufel von unten nach oben in Scherben gelegt wird, merken die meisten erst im Nachhinein. Daher ist Aufklärung geboten über die Hintergründe der imperialen Interessen, über die Kriegslügen und Machenschaften der Kriegstreiber, die Systematik der kapitalismusimmanenten Zusammenhänge von Krisen und Kriegen. Und nicht geistiges Mitkämpfen im Bürgerkrieg anderswo. Zu groß ist die Gefahr falscher Solidarisierung, irreführender Loyalitäten und sinnloser Ablenkung von den Verbrechen des eigenen „Lagers“. Wir sollten nicht den Blick von Feldherren auf die Lage in anderen Ländern einnehmen, auch nicht von gutmeinenden.

Schlimmstenfalls endet es in Nationalismus, Schönrederei oder kollektiver (Selbst-)Entschuldigung wie in dem Artikel von Yavuz Özoguz, der sich an einer Stelle seines Beitrags zu der gewagten Behauptung versteigt, die Deutschen hätten sich in ihrer Mehrheit gegen die beiden Weltkriege gewandt, die der deutsche Imperialismus vom Zaum gebrochen und mit ihren Häuten und Haaren quasi gegen ihren Willen geführt hat. Haben sie eben nicht, jedenfalls nicht erfolgreich, auch wenn es eine im Vergleich zu heute starke Arbeiterbewegung gab. Das Gift des Chauvinismus hat bis in deren Reihen gewirkt.

Im Ersten Weltkrieg funktionierte das mit dem Scheinargument der Sozialdemokratie, man müsse „den russischen Klassenbrüdern gegen die Zaren-Despotie“ zu Hilfe eilen. Und im Zweiten Weltkrieg konnte nach Ausschaltung der Kommunisten durch Inhaftierung und Ermordung und nach der Brechung jeden politischen Widerstands der Sozialdemokraten und der übrigen Hitler-Gegner das ideologische Gift des Antisemitismus und des Antikommunismus seine Wirkung ungehindert entfalten. Die Mehrheit der Deutschen hat es nicht geschafft, sich dem Herrenmenschen-Wahn zu entziehen und die Diktatur zu besiegen. Erst das verlustreiche Eingreifen der Alliierten konnte sie von der Barbarei befreien. Das wird gern als Begründung hergenommen, um das Gegenteil von Appeasement-Politik zu propagieren: Präventivkrieg als Garantie für ein Nie-Wieder. Nur dass das Argument hinkt wie ein amputiertes Kriegsopfer: Die Alliierten hätten 1933 oder 1938 gar nicht „eingreifen“ können, um „Auschwitz“ zu verhindern, denn das Vernichtungslager gab es damals noch gar nicht. Es ist eine a-historische Zwecklüge, die berechnende Nachgiebigkeit der Westmächte gegenüber Hitler bezüglich des Einmarsches in Österreich und der Tschechoslowakei, die sie schändlich verraten haben, mit einer Forderung nach "Strafaktionen", Präemptivkriegen oder gewaltsam erzwungenen Regime-Changes nachträglich kompensieren oder heute korrigieren wollen. Sie hatten gehofft, dass das faschistische Deutschland sich gegen Osten wenden würde, gegen die Sowjetunion. Hat es dann auch. Und ab da hatten sie jedes Recht sich und ihre Bündnispartner zu verteidigen. Im Gefolge der Wehrmachtsstiefel konnte sich die Shoah über halb Europa ausbreiten, und es bedurfte erst der Kriegswende von Stalingrad, bis sich die USA zur Invasion entschlossen, um befürchteten Einfluss-Zuwachs der Sowjets in Europa zu verhindern.

Die Interventionen seit der Wende dienen nicht den Bevölkerungen diktatorischer Staaten, nicht der Verteidigung oder Ausbreitung der Demokratie (wie der Westen sie versteht), nicht den Menschenrechten oder der Rechtsstaatlichkeit, sondern allein den wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen der Industriestaaten des Westens. Es geht um Öl und Gas und sichere Handelswege, ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen. So, wie schon immer, nur zunehmend im Weltmaßstab. Dazu geht man auch Zweckbündnisse und Allianzen mit Kräften ein, die man dann, kaum zum Sieg oder an die Macht gebracht, wieder wegbombt, wenn sie sich nicht mehr willig genug instrumentalisieren lassen. Die Finanzierung und Ausrüstung der Al-Qaida durch die CIA folgt dem Strickmuster in Afghanistan, wo Taliban und Mudschaheddin gegen die damals noch existierende Sowjetunion aufmunitioniert worden waren, bevor man sie nach dem 11. September 2001 wieder bekämpfte. Selbst nach imperialer Logik wäre schwer nachzuvollziehen, wieso die USA ausgerechnet den laizistischen Irak zerschlugen, um dem iranischen Gottesstaat, ihrem Erzfeind seit 1980, zum Aufstieg als verbliebene Regionalmacht zu verhelfen. Zerbrechen wir uns also nicht die Köpfe der Brzezinsky-Strategen! Ihre Pläne sind so undurchsichtig „dumm“ wie verbrecherisch. Und manchmal gehen sie auch schlicht nicht auf, wie neulich im britischen Unterhaus. Das ist ein Novum und gibt Anlass zu vorsichtiger Hoffnung, dass die „Keule“ den Urhebern auch mal auf die Füße fallen kann.

Wenn wir uns heute über der Positionierung im Syrienkonflikt zerfleischen würden, als würde davon abhängen, Syriens Unantastbarkeit zu verteidigen oder nicht, würde das den Syrern am wenigsten dienen, uns ebenso wenig, und schon gar nicht dem Anliegen, einen drohenden Krieg zu verhindern. Dafür spielt die Frage der Qualifizierung von Assads Herrschaft als „Regierung“ oder als „Regime“ keine Rolle. Auch wenn die Diffamierung des Regimes den Auftakt zu dessen Fall und baldiger „Abwicklung“ signalisiert. Als Internationalisten sollten wir am sinnvollsten an derjenigen "Front" arbeiten, an die wir gestellt sind und an der wir stehen: Im eigenen Land. Damit haben wir mehr als genug zu tun. Auch damit, den eigenen Kopf frei zu halten von den Machtspielen und Selbstdarstellungen auf allen Seiten. Loyalität mit nationalistischen Regierungen trübt den Blick. Nationalismus macht vollends blind. Vorsicht also: Die Formulierung „Usraelisch“ habe ich bisher nur bei lupenreinen Nazis gehört. Ich finde sie alles andere als witzig. Sie geht am Problem des Zionismus schnurstracks vorbei. Auch der ist nichts anderes als eben die israelische Spielart des Nationalismus. Hüten wir uns vor nationalistischen Reflexen! Sie bringen nur Unheil.

Selbstverständlich habe auch ich mit der Plausibilität der unterschiedlichen Interessenslagen gedacht, die Rebellen seien für den Giftgas-Einsatz verantwortlich, ähnlich wie der Kollege von den Freidenkern. Ich bin selber einer, und man sollte weniger den Herrschenden „glauben“ als selber denken. Aber nicht, um die syrische Regierung zu pushen oder generell zu exkulpieren, sondern um der Vernunft eine Bresche zu schlagen und die Logik zu befördern, und damit die blindwütige Vorverurteilung durch Kriegstreiber zu entlarven als das, was sie ist: Tolldreiste Machtdemonstration – letztlich gegen die gesamte Völkergemeinschaft.

Wolfgang Blaschka, München

 

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