

Haltung und Charakter sind keine Modeerscheinung.
Verrate nie deine Klasse und deinen Verein.
Von Gerhard Mersmann | Forum-M7.com
Da, wo ich aufwuchs, hatten die Bergleute eine wichtige Stimme. Ihre Sichtweise auf das Leben konnten selbst diejenigen, die nichts mit dem Bergbau zu tun hatten, nicht ignorieren. Die Stadt hatte fünfzigtausend Einwohner, über zehntausend davon arbeiteten auf der Zeche und noch einmal zwanzigtausend, die in Betrieben arbeiteten, die von der Zeche lebten. Diese Kraft war Ursache für die Verheerungen, die in den Städten stattfanden, als das Zechensterben begann.
Auch das ein Begriff, den die Sieger in ihrer Geschichtsschreibung geprägt hatten. Das sollte sich nämlich so anhören, als wären die Zechen an ihrer eigenen Krankheit eingegangen. Sind sie aber nicht. Gemeuchelt wurden die Zechen von der [durch die menschenverachtende Ideologie des Neoliberalimus verseuchten; H.S.] kapitalistischen Verwertungslogik.
Woanders, und wir sprechen von Polen bis Korea, wurde zu niedrigeren Löhnen abgebaut, die Sicherheitsbestimmungen waren geringer und die Kosten inklusive Transport waren niedriger. So funktioniert das Kapital. Einfach und transparent. Aber das ist nicht die Geschichte. Außer, dass sie immer so geschrieben wird, wie sich die Herrschenden das zurecht dichten.
Wichtiger war für mich, was die Bergleute, die ich kannte, mir als Heranwachsendem wohlmeinend erzählten. Im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Vorurteil, das die schäbige Gilde der Arbeiterverräter gerne in die Welt setzten, waren die Bergleute recht liberale Leute. Sie lebten nach dem Motto „Leben und leben lassen“.
Es gab nur ganz wenige Gesetze, die du einhalten musstest, um zu jener Kategorie zu gehören, die die Bezeichnung „in Ordnung“ trug. Der alles beherrschende Satz war, dass man sich auf dich verlassen können musste. War das nicht gegeben, dann warst du raus. Ein für alle mal, oder, wie sie es so schön formulierten „unten durch“. Das kam von unter Tage, denn wenn man sich dort nicht aufeinander verlassen konnte, dann konnte das den Tod bedeuten. Nichts weniger.
Der zweite Grundsatz war der, dass man wahrhaftig zu sein hatte. Mache, was du für richtig hältst, aber stehe dazu. Wenn du das nicht hinkriegst, kannst du nicht dazugehören.
Als ich die Schule beendet hatte und die Stadt verlassen wollte, was immer heißen konnte, dass man nie wieder zurückkam, nahm mich einer von den Bergleuten beiseite und gab mir noch einen Rat, den ich nie vergessen sollte. Er sagte, ich könne alles hinter mir lassen, nur zwei Dinge, die dürfe ich nie verraten: Meine Klasse und meinen Verein.
Ich bin ehrlich. Ich habe mich an diesen letzten Rat gehalten. Manchmal war es traurig, manchmal schmerzhaft, manchmal hat es Spaß gemacht und manchmal hat es Trost gespendet. Manchmal war es auch nichts als ein Pflichtgefühl. Aber geholfen hat es mir immer. Es war die Heimat im Kopf, der Kompass im Sturm und auch der Maßstab, den ich an andere legte.
Die, die ähnlich handelten, wurden meine Freunde, auch wenn sie es nicht bewusst taten. Und diejenigen, die weder ihrer Klasse noch ihrem Verein treu blieben, erwiesen sich allzu oft als Seelenlose, auf die man sich nicht verlassen konnte. Da, wo ich herkomme, heißt es, man sei auf Kohle geboren. Das bedeutet sehr viel. Und es ist alles andere als eine antiquierte Weltanschauung.
Haltung und Charakter sind keine Modeerscheinung.
Gerhard Mersmann
Gerhard Mersmann, Dr. phil., (Jahrgang 1956), gebürtiger Westfale, ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen.
Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Publizistische Aktivitäten durchziehen seine gesamte Biographie. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse sind auf seinem persönlichen Blog M7 regelmäßig nachzulesen. >> https://form-7.com/ .
► Quelle: Dieser Beitrag wurde am 02. April 2025 erstveröffentlicht auf https://form-7.com/ >> Artikel. Eigentümer, Herausgeber und für den Inhalt verantwortlich ist Gerhard Mersmann.
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1. Bergbaugebiet: Zechensterben - ein Begriff, den die Sieger in ihrer Geschichtsschreibung geprägt hatten. Das sollte sich nämlich so anhören, als wären die Zechen an ihrer eigenen Krankheit eingegangen. Sind sie aber nicht. Gemeuchelt wurden die Zechen von der [durch Neoliberalmus verseuchten; H.S.] kapitalistischen Verwertungslogik. Woanders, und wir sprechen von Polen bis Korea, wurde zu niedrigeren Löhnen abgebaut, die Sicherheitsbestimmungen waren geringer und die Kosten inklusive Transport waren niedriger. So funktioniert das Kapital. Einfach und transparent.
Illustration: klaus48 (user_id:4713636). Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Illustration.
2. Förderturm einer Zeche. Foto: Kenway_Photography / Jessica Dähne, Halberstadt (user_id:19020757). Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.
3. Bergarbeiter (Kohlekumpel, Minenarbeiter, Zechenarbeiter) lebten nach dem Motto „Leben und leben lassen“. Es gab nur ganz wenige Gesetze, die du einhalten musstest, um zu jener Kategorie zu gehören, die die Bezeichnung „in Ordnung“ trug. Der alles beherrschende Satz war, dass man sich auf dich verlassen können musste. War das nicht gegeben, dann warst du raus. Ein für alle mal, oder, wie sie es so schön formulierten „unten durch“. Das kam von unter Tage, denn wenn man sich dort nicht aufeinander verlassen konnte, dann konnte das den Tod bedeuten. Nichts weniger. Gegenseitiges Verantwortungsbewusstsein, Klassenbewusstsein und Zusammenhalt sind lebenswichtige Tugenden der Bergarbeiterleute und sollten auch für eine sich immer weiter spaltende Gesellschaft sein..
Foto: hangela / Angela (user_id:2450118). Quelle: Pixabay. Alle Pixabay-Inhalte dürfen kostenlos für kommerzielle und nicht-kommerzielle Anwendungen, genutzt werden - gedruckt und digital. Eine Genehmigung muß weder vom Bildautor noch von Pixabay eingeholt werden. Auch eine Quellenangabe ist nicht erforderlich. Pixabay-Inhalte dürfen verändert werden. Pixabay Lizenz. >> Foto.
4. Ein Stück Kohle in der Hand eines Minenarbeiters. Steinkohle ist ein schwarzes, hartes, festes Sedimentgestein, das durch Karbonisierung von Pflanzenresten (Inkohlung) entstand und zu mehr als 50 Prozent des Gewichtes und mehr als 70 Prozent des Volumens aus Kohlenstoff besteht. Damit handelt es sich um einen Sammelbegriff für höherwertige Kohlen. Die Steinkohle wird auch „Schwarzes Gold“ genannt. Sie ist ein fossiler Energieträger und wird hauptsächlich zur Strom- und Wärmeerzeugung durch Verbrennung und zur Koksproduktion für die Eisenverhüttung genutzt. Rückstände aus der Verbrennung werden in der Bauindustrie verwendet.
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