„Islamischer Staat“ – eine Herausforderung zur geistigen Erneuerung

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Kai Ehlers
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Verbunden: 18.07.2014 - 21:31
„Islamischer Staat“ – eine Herausforderung zur geistigen Erneuerung
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„Islamischer Staat“

– eine Herausforderung zur geistigen Erneuerung

Eine Herausforderung ist die Frage nach dem Charakter und der Rolle des „IS“ selbstverständlich schon deshalb, weil sie kaum einzugrenzen ist. Zu viele Worte lassen eher noch mehr Verwirrung entstehen als die Realität des „IS“ selbst. Skizziert seien hier daher nur einige Hauptpunkte, die für eine eingehende Klärung unerlässlich sind.


Also zum Thema:

Der heutige Terrorismus ist selbstverständlich nicht mit Bomben aus der Welt zu schaffen. Bomben gegen den „Islamischen Staat“ können den „IS“ als ein Symptom des Terrorismus eindämmen, zur Wurzel des Phänomens dringen sie nicht vor. Erforderlich ist eine vorurteilslose Diagnose, eine Differenzierung der Spuren, die im Terrorismus zusammenkommen. Monokausale Begründungen müssen vermieden werden – um auf diese Weise vielleicht zu einer – ebenfalls zu differenzierenden – globalen Therapie dieses Übels zu kommen.

1. Die islamische Spur:

Auch wenn klar ist, das „Islamischer Staat“ und Islam nicht identisch sind, selbst wenn klar ist, dass es den Islam nicht gibt, sondern diverse Konfessionen im Lauf der Geschichte ebenso wie heute, muss doch genau hingehört werden, wie der „IS“ sich aus dem Koran herleitet. Dazu dürfte es angebracht sein, den Koran in einer authentischen Übersetzung selbst einmal anzuschauen und sich die Begründungen der “IS“-Ideologen, wie auch der aus dem Islam kommenden wie auch zugelaufenen Mitglieder anzuhören – und ihre Motive ernst zu nehmen, statt sie ängstlich beiseite zu schieben.

Aus dieser Wahrnehmung sticht – abgesehen von allen Unstimmigkeiten und brutalen Verkürzungen – zumindest ein Stichwort als besonders bemerkenswert hervor, dass nahezu in jeder Sure des Koran auftaucht – gleich, wie es dann interpretiert wird, nämlich: der Koran versteht sich als letzte Warnung zur Offenbarung des wahren, des einen Gottes zurückzukehren, dessen Botschaft durch Judentum und Christentum verfälscht, vergessen und verraten worden sei. Er ist der apokalyptische Zeigefinger: Wer die Warnung nicht hören will, fällt der ewigen Verdammnis anheim.

Die Dogmatisierung dieses Zeigefingers führt unmittelbar in den „IS“.

2. Die koloniale Spur:

Zweifellos resultiert aus der Geschichte eine vielfache anti-kolonialistische, anti-europäische Dynamik, die sich in mehreren historischen Schüben aufgebaut hat: Der Untergang des ersten großen Muslimischen Kulturraums im Mongolensturm des 12. Jahrhunderts, während Europa zur gleichen Zeit aufstieg. Die darauf folgende Konkurrenz Europas mit dem als Osmanisches Reich wiederentstandenen zweiten muslimischen Kulturraum, die mit der Kolonisierung eines zurückbleibenden Osmanischen Reiches, ja mit dessen Auflösung und Besetzung nach dem ersten Weltkrieg endete. Die neo-koloniale Phase nach dem zweiten Weltkrieg, in dem die muslimische Welt Ausbeutungsobjekt unter der Vorherrschaft des westlichen Imperialismus wurde – und sich jetzt davon befreien möchte, müsste, sollte, könnte….

Die Erinnerung an einstige Größe und Erniedrigung bringt starke Kräfte der Rückbesinnung hervor, die sich in einer widersprüchlichen Haltung zur „Modernisierung“ outen.

3. Die Spur der „Überflüssigen“:

Heute leben auf dem Globus ca. 7,4 Milliarden Menschen, 2020 könnten es nach übereinstimmenden Schätzungen neun bis zehn Milliarden sein. Zwar flacht sich die absolute Zunahme der Weltbevölkerung ab, dafür hat sich eine Disproportion zwischen einer rasant weiter anwachsenden Bevölkerungszahl im globalen Süden und den alternden nördlichen Industriestaaten herausgebildet. Das hat zu einem überproportional anwachsenden Teil junger Menschen in diesen Ländern geführt, während die Bevölkerungszahlen der Industriestaaten schrumpfen. Diese jungen Menschen drängen, wenn sie auf Grund der neo-kolonialen Zerstörung der örtlichen Wirtschaften keinen Ort der Verwirklichung in ihren Ländern finden und nicht aufgehalten werden, notwendigerweise nach Norden.

Zusammen mit den auch in den alten Industrieländern selbst durch die Automatisierung aus ihren Arbeitsplätzen verdrängten Menschen sammelt sich ein zusammengesetztes Prekariat „Überflüssiger“, an den Rand Gedrängter, die in der herrschenden Welt- und Gesellschaftsordnung keinen Platz mehr für sich finden – außer wenn diese Gesellschaft gesprengt, zerstört, geöffnet wird.

4. Die geistige Krise:

Der Zusammenbruch der sozialistischen Utopie(n) und die Unfähigkeit der darauf folgenden globalen Kapitalisierung zu neuer Sinnstiftung haben eine geistige Heimatlosigkeit hinterlassen, die nach neuer Ganzheitlichkeit verlangt. Es wächst die Angst vor dem Clash, vor der Apokalypse etc. Der Islam könnte eine solche neue Ganzheitlichkeit in seiner Form des alles umgreifenden EINEN anbieten.

Der dogmatische Islamismus verengt das Einheits-Angebot des Islam jedoch auf die Grenzen von Auserwählten, die sich durch die Zerstörung der aus ihrer Sicht nicht mehr zu rettenden Welt zu retten versuchen, indem sie die Apokalypse für sich selbst inszenieren, statt sich in die übergreifende, die Grenzen des Monotheismus, auch des muslimischen, überschreitende geistige Entwicklung zu stellen, die alle weltanschaulichen, religiösen und spirituellen Impulse unserer heutigen Welt in einen offenen, lebendigen, kosmologischen Zusammenhang bringt.

Hier beginnt das Hören, Sehen, Erleben neuer Zusammenhänge von Wissen und Glauben, die über monotheistische, vor- und außermonotheistische Weltsichten hinausgehen, beginnt das Nachdenken über deren möglichen zukünftigen gesellschaftspolitischen und sozialen Ausdruck selbstverständlich erst. Dies soll und muss aber an dieser Stelle so offen bleiben – und dies nicht nur aus Platzgründen, sondern weil es offen ist und offen bleiben muss, da es nur als Prozess des Erkennens und Bemühens verstanden werden kann.

Nur aus einem erneuerten Geist, der die Welt ihrer materiellen und geistigen Vielgestaltigkeit sieht, können lebensfördernde Lösungen für die oben genannten Spuren gefunden werden. Das ist sicher.

Eine notwendige Erinnerung:

Nicht vergessen werden darf selbstverständlich – wenn auch dies bitte nicht monokausal zu verstehen ist – dass der „IS“ wie auch verwandte Terrortruppen ein unmittelbares Produkt westlicher, von den USA ausgehender globaler Politik sind. Sie werden benutzt um die Welt durch Fragmentierung und Schüren von allgemeiner Unsicherheit für die US-Hegemonie beherrschbar zu halten.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de



► Bild- und Grafikquellen:

1. Noam Chomsky: "Everybody's worried about stopping terrorism. Well, there's a really easy way: stop participating in it." Grafik/Foto: Flickr-User See Li / London, UK. Quelle: Flickr. Verbreitung mit CC-Lizenz Namensnennung 2.0 Generic (CC BY 2.0).

2. Buchcover: "Die Kraft der »Überflüssigen«. Der Mensch in der globalen Perestroika". Pahl-Rugenstein, 2013, ISBN 978-3-89144-463-4

Wir leben in einer paradoxen Zeit: In einer Welt des Überflusses und der globalen Entgrenzung werden immer mehr Menschen als überflüssig bezeichnet oder fühlen sich sogar selbst so. Ein globaler Verwertungsprozess reißt uns aus unseren lokalen familiären, wirtschaftlichen und geistigen Verankerungen und spuckt uns am Ende als menschlichen Müll wieder aus.

Nur wenige Profiteure sind die Nutznießer dieses Vorganges, eine wachsende Mehrheit sieht sich als »überflüssig« ins Abseits gedrängt. Millionen der heute sieben Milliarden Menschen schaffen nicht einmal den Sprung in die Verwertung. Sie bleiben gleich auf den Müllhalden der Zivilisation stecken. Kein Ausweg? Keine Perspektive? Nur noch der große Crash? Nur noch lang angelegte strategische Selektion zwischen nützlichen und nicht nützlichen Menschen? Oder eine Revolte der »Überflüssigen«? Aber wie könnte diese Revolte aussehen?

Schauen wir genau hin: Die »Überflüssigen« sind nicht das Problem, das entsorgt werden müsste – sie sind die Lösung. Sie sind Ausdruck des über Jahrtausende angesammelten Reichtums der Menschheit – wirtschaftlich, sozial und kulturell. Sie sind Ausdruck der Kräfte, welche die Menschheit heute zur Verfügung hat, um vom physischen Überlebenskampf aller gegen alle in eine ethische Kulturgemeinschaft überzugehen, die am Aufstieg des Menschen zum Menschen orientiert ist und keinen Menschen mehr ausschließt.

Das vorliegende Buch zeigt: Wer die »Überflüssigen« sind, welche Kräfte in ihrem »Überflüssigsein« liegen. Welchen Widerständen bis hin zu eugenischen Selektionsphantasien der heute Mächtigen ihr Aufbruch ausgesetzt ist. Welche Kraft die »Überflüssigen« bilden, wenn sie sich entschließen, ihr Leben selbst zu organisieren – und schließlich, wie der Weg der Selbstorganisation in einer neuen, sozial orientierten Gesellschaft aussehen könnte.